BBl 2024 3136
CH - Bundesblatt

Botschaft zur Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)»

Botschaft zur Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)»
vom 27. November 2024
Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
27. November 2024 Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi
Übersicht
Der Bundesrat empfiehlt die eidgenössische Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)» ohne direkten Gegenentwurf und ohne indirekten Gegenvorschlag zur Ablehnung. Obwohl ein Teil der Bestimmungen des Initiativtexts der gegenwärtigen Rechtslage und Praxis entspricht, würde die Initiative insgesamt zu einer klaren Kursänderung der Schweizer Neutralität führen. Dies hat negative Auswirkungen auf die Sicherheits-, Wirtschafts- und Aussenpolitik der Schweiz.
Inhalt der Initiative
Das Initiativkomitee will die schweizerische Neutralität wahren. Ein neuer Artikel 54a der Bundesverfassung mit mehreren Regelungen soll in die Bundesverfassung aufgenommen werden. So soll festgehalten werden, dass die Neutralität der Schweiz immerwährend und bewaffnet ist. Darüber hinaus soll die Schweiz keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis beitreten dürfen. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs. Überdies darf sich die Schweiz nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten beteiligen und keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten ergreifen. Vorbehalten bleiben Zwangsmassnahmen der Vereinten Nationen sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten. Zuletzt soll festgeschrieben werden, dass die Schweiz die Neutralität für ihre Rolle als Vermittlerin nutzen soll.
Vorzüge und Mängel der Initiative
Zur Erreichung ihres Ziels will die Initiative ein bestimmtes Verständnis und damit eine bestimmte Ausgestaltung der Schweizer Neutralität in der Bundesverfassung verankern. Ein Teil der Bestimmungen des Initiativtexts entspricht der gegenwärtigen Rechtslage und Praxis. Es bestehen aber auch gewichtige Unterschiede, die zu einer klaren Kursänderung der Schweizer Neutralität führen, was negative Auswirkungen auf die Sicherheits-, Wirtschafts- und Aussenpolitik der Schweiz hat. Die Initiative fordert eine Abkehr von der bewährten Flexibilität bei der Anwendung der Neutralität, was im heutigen volatilen internationalen Umfeld nicht zielführend ist. Gerade diese Flexibilität ist zentral, um die Neutralität bestmöglich für die Wahrung der schweizerischen aussen- und sicherheitspolitischen Interessen zu nutzen. Sie hat sich in 175 Jahren Verfassungspraxis bewährt.
Im Einzelnen könnte durch ein starres Neutralitätsverständnis die Neutralität bei aussenpolitischen Herausforderungen nur schwerfällig an neue Umstände angepasst werden. Die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit würde stark eingeschränkt, was die Schwächung der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz zur Folge hätte. Des Weiteren würde die Verlässlichkeit der Schweiz als Lieferantin von Rüstungsgütern und -komponenten in Frage gestellt werden. Zuletzt würde mit dem Verbot, bestimmte Sanktionen zu übernehmen, der Handlungsspielraum der Schweiz stark eingeschränkt. Das Nichtmittragen von Sanktionen gegen Staaten, die gegen Völkerrecht verstossen, dürfte neben Reputationsschäden auch mit aussen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Konsequenzen einhergehen.
Antrag des Bundesrates
Der Bundesrat beantragt deshalb den eidgenössischen Räten mit der Botschaft, die Initiative Volk und Ständen ohne direkten Gegenentwurf und ohne indirekten Gegenvorschlag zur Ablehnung zu empfehlen.
Botschaft

1 Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1 Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)» hat den folgenden Wortlaut:
Die Bundesverfassung ¹ wird wie folgt geändert:
Art. 54a
²
Schweizerische Neutralität
¹ Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet.
² Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs.
³ Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten.
⁴ Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.
¹ SR 101
² Die endgültige Nummerierung dieses Artikels wird nach der Volksabstimmung von der Bundeskanzlei festgelegt; dabei stimmt diese die Nummerierung ab auf die anderen geltenden Bestimmungen der Bundesverfassung.

1.2 Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)» wurde am 25. Oktober 2022 von der Bundeskanzlei vorgeprüft ³ und am 11. April 2024 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.
Mit Verfügung vom 28. Mai 2024 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 129 806 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist. ⁴
Die Initiative hat die Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag. Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 ⁵ (ParlG) hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 11. April 2025 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 11. Oktober 2026 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen.
³ BBl 2022 2694
⁴ BBl 2024 1206
⁵ SR 171.10

1.3 Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 der Bundesverfassung (BV):
a.
Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.
b.
Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.
c.
Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem zwingenden Völkerrecht.

2 Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

2.1 Aktuelle Regelung und Praxis zur Neutralität

Seit Gründung des Bundesstaates 1848 wird die Schweizer Neutralität in der Bundesverfassung erwähnt, aber inhaltlich nicht definiert. Inhaltliche Vorgaben zur Neutralität ergeben sich aus dem Völkerrecht. Im Rahmen dieser rechtlichen Vorgaben hat der Bundesrat seine Praxis zur Neutralität im Interesse der Schweiz und unter den vorliegenden Gegebenheiten stets flexibel weiterentwickelt. Diese bewährte Flexibilität will die Initiative ändern: Sie will neu bestimmte inhaltliche Vorgaben für die Neutralität direkt in der Bundesverfassung festschreiben und die Übernahme von Sanktionen gegen kriegführende Staaten - ausgenommen solche der Vereinten Nationen (UNO) - sowie bestimmte Formen der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zukünftig verhindern. Die Initiative will damit sowohl die bisherige Regelungsform der Neutralität (keine inhaltliche Definition in der Verfassung) sowie deren aktuelle Handhabung in der Praxis ändern, insbesondere die Sanktionspolitik und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit.

2.2 Gegenwärtige rechtliche Verankerung der Neutralität

2.2.1 Schweizer Recht

Die geltende BV hält die Neutralität bei der Kompetenzordnung der Bundesbehörden fest und sieht vor, dass Bundesrat und Bundesversammlung «Massnahmen zur Wahrung […] der Neutralität der Schweiz» ergreifen (Art. 173 Abs. 1 Bst. a und 185 Abs. 1 BV). Die BV äussert sich nicht weiter zur Frage, was die Neutralität der Schweiz ist. Mehrere Bundesgesetze verweisen explizit oder implizit auf die Neutralität, ohne sie jedoch inhaltlich zu definieren. ⁶
⁶ Siehe z. B. Art. 1 des Bundesgesetzes vom 27. September 2013 über die im Ausland erbrachten privaten Sicherheitsdienstleistungen ( SR 935.41 ; explizit); Art. 83 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 ( SR 173.110 ; explizit); Art. 22 a des Kriegsmaterialgesetzes vom 13. Dezember 1996 ( SR 514.51 ; implizit); Art. 66 und 66 a des Militärgesetzes vom 3. Februar 1995 ( SR 510.10 ; implizit).

2.2.2 Völkerrecht

Die erste offizielle Neutralitätserklärung wurde von der Alten Eidgenossenschaft an der Tagsatzung von 1674 verkündet. Der Einmarsch der französischen Truppen in die Schweiz 1798 führte zum Ende der Alten Eidgenossenschaft und der bis damals praktizierten Neutralität. Nachdem sich die Tagsatzung am 13. November 1813 von der französischen Vormundschaft lossagte und die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz erklärte, anerkannten die europäischen Grossmächte 1815 auf der Pariser Friedenskonferenz die immerwährende Neutralität der Schweiz zum ersten Mal völkerrechtlich. Der Status der Schweiz als dauernd neutraler Staat ist seither Teil des Völkergewohnheitsrechts und wurde zuletzt 2002 anlässlich des Beitritts der Schweiz zur UNO von der Staatengemeinschaft anerkannt. Als dauernd neutraler Staat entscheidet die Schweiz nicht von Fall zu Fall bei zwischenstaatlichen Konflikten, ob sie neutral sein will oder nicht, sondern sie ist dies in allen militärischen Konflikten zwischen Staaten.
Das Völkerrecht regelt nicht nur den Status der dauernden Neutralität der Schweiz, sondern auch, welche Rechte und Pflichten ein neutraler Staat hat. Die Gesamtheit dieser völkerrechtlich definierten Rechte und Pflichten werden als Neutralitätsrecht bezeichnet. Das Neutralitätsrecht entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als Völkergewohnheitsrecht und wurde 1907 in zwei Haager Abkommen kodifiziert. ⁷ Die Schweiz ist den Abkommen 1910 beigetreten. Das Neutralitätsrecht findet nur Anwendung auf bewaffnete Konflikte zwischen Staaten, nicht auf interne bewaffnete Konflikte wie beispielsweise Bürgerkriege. ⁸ Es regelt zwischen dem Neutralen und den Konfliktparteien folgende Rechte und Pflichten:
Rechte:
-
Das Recht des Neutralen auf Unverletzlichkeit des eigenen Territoriums.
-
Das Recht auf Selbstverteidigung, auch mit militärischen Mitteln.
-
Das Recht auf freien Wirtschaftsverkehr, solange dieser nicht militärischen Zwecken dient.
Pflichten:
-
Das Verbot, sein Territorium zur Verfügung zu stellen. Dies umfasst die Sicherstellung der Unverletzlichkeit des eigenen Territoriums innerhalb der Grenzen des Zumutbaren.
-
Das Verbot der militärischen Unterstützung im bewaffneten Konflikt.
-
Das Verbot der Lieferung von kriegsrelevanten Gütern aus staatseigenen Beständen. Sofern der private Export von kriegsrelevanten Gütern beschränkt wird, besteht ein Gleichbehandlungsgebot.
-
Als Vorwirkung das Verbot, in Friedenssituationen als Neutraler Tatsachen zu schaffen, welche die Einhaltung der Pflichten im Kriegsfalle verunmöglichen. Insbesondere darf ein Neutraler aufgrund dieser Vorwirkung keinem Militärbündnis mit Beistandspflichten beitreten und keine Stationierung von fremden Streitkräften zulassen.
Bereits 1907 ist es nicht gelungen, alle relevanten Aspekte der Neutralität in den Haager Abkommen zu kodifizieren. ⁹ Zugleich sind seitdem auch neue Fragestellungen hinzugekommen, für die in den Konventionen von 1907 keine spezifischen Regeln vorgesehen waren. Ein Beispiel dafür ist die Rolle der Neutralität bei Cyberangriffen. Die neutralitätsrechtlichen Vorgaben sind deshalb auch immer wieder auf neue Sachverhalte hin auszulegen und anzuwenden. Mit der entsprechenden Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung entwickelt sich das Neutralitätsrecht so weiter.
Wo keine rechtlichen Vorgaben bestehen, können weitere Überlegungen zur Neutralität relevant sein, die dann als Neutralitätspolitik bezeichnet werden. Darunter fallen Massnahmen, die zusätzlich zu den rechtlichen Pflichten ergriffen werden können, um im jeweils relevanten Umfeld die Anerkennung und Wirksamkeit des rechtlichen Status der Neutralität zu gewährleisten, und die der Glaubwürdigkeit der Neutralität dienen. Es geht also darum, die tatsächliche Achtung der Schweizer Neutralität durch die Staaten sicherzustellen. Ein Beispiel für eine neutralitätspolitische Massnahme ist, wenn die Schweiz auf hochrangige Kontakte mit einer Kriegspartei verzichtet, obwohl solche rechtlich zulässig wären. Bei der Gestaltung der Neutralitätspolitik ist der Ermessensspielraum der Schweiz und damit die flexible Handhabung neutralitätspolitischer Massnahmen viel grösser als bei der Auslegung und Anwendung der neutralitätsrechtlichen Vorgaben (vgl. Bericht des Bundesrates vom 26. Oktober 1⁰ 2022 in Erfüllung des Postulates 22.3385[Neutralitätsbericht 2022]).
Besondere rechtliche Fragen stellen sich im Verhältnis zwischen dem 1907 kodifizierten Neutralitätsrecht und der 1945 entstandenen UNO-Charta. 1¹ Es gibt Stimmen in der Völkerrechtslehre, die das Neutralitätsrecht seit Einführung der UNO-Charta 1945 als obsolet betrachten. ¹2 Diese Haltung entspricht aber nicht der grossen Mehrheit der Völkerrechtslehre. Gemäss Staatenpraxis und vorherrschender Lehre bleibt das Neutralitätsrecht auch bei schwerwiegenden Verletzungen der UNO-Charta anwendbar, solange der UNO-Sicherheitsrat als zuständiges Organ keine Massnahmen gegen einen Rechtsbrecher erlässt. Die Regeln der UNO-Charta und des Neutralitätsrechts bestehen dann nebeneinander. ¹3 Dies hielt die Schweiz 2002 anlässlich ihres Beitritts zur UNO fest, indem sie in ihrem Beitrittsgesuch ausdrücklich auf die Beibehaltung ihrer Neutralität hinwies ¹4 und damit ihre parallelen Pflichten aus dem Neutralitätsrecht und der UNO-Charta verbriefte.
Zu beachten ist wegen der völkerrechtlichen Verankerung der Neutralität das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht gemäss BV. Aufgrund des monistischen Systems gilt das Völkerrecht in der Schweizer Rechtsordnung direkt, ohne dass ein spezieller Transformationsakt für die Überführung ins Landesrecht nötig ist. Das Bundesgericht geht vom grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts aus, insbesondere wenn menschenrechtlich verankerte Ansprüche betroffen sind, wobei nicht abschliessend geklärt ist, inwieweit gewisse Ausnahmen zugunsten des Landesrechts bestehen können. ¹5 Das völkerrechtliche Neutralitätsrecht ist in diesem Rahmen auch bei der Anwendung des schweizerischen Rechts zu beachten.
⁷ Abkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs (V. Haager Abkommen; SR 0.515.21 ), und Abkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte im Falle eines Seekriegs (XIII. Haager Abkommen; SR 0.515.22 ).
⁸ Siehe auch die Ausführungen des Internationalen Gerichtshofs in Licéité de la menace ou de l’emploi des armes nu cléaires , avis consultatif, C.I.J. Recueil 1996, S. 226, Rz. 88 und 89.
⁹ Siehe die Botschaft vom 28. Dezember 1908 betreffend die Ergebnisse der im Jahr 1907 im Haag abgehaltenen zweiten internationalen Friedenskonferenz ( BBl 1909 I 1 S. 40).
1⁰ Abrufbar unter: www.parlament.ch > 22.3385 > Bericht in Erfüllung des parlamentarischen Vorstosses.
1¹ Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, in Kraft getreten für die Schweiz am 10. September 2002 ( SR 0.120 ).
¹2 Siehe z. B. Cottier, Thomas (15. Juni 2022): Die exzessive Neutralitätspolitik führt in die Einsamkeit. In: Neue Zürcher Zeitung.
¹3 Siehe Yearbook of the International Law Commission (2011), vol. II, Part Two, siehe namentlich Art. 17 und dazugehöriger offizieller Kommentar. Siehe auch die Ausführungen des Internationalen Gerichtshofs in Licéité de la menace ou de l’emploi des armes nucléaires , avis consultatif, C.I.J. Recueil 1996, S. 226, Rz. 88 und 89.
¹4 General Assembly Security Council (24. Juli 2002): Application of the Swiss Confederation for admission to membership in the United Nations. U.N. Doc. A/56/1009-S/2002/801. Abrufbar unter: documents.un.org..
¹5 BGE 125 II 417 S. 425; 136 III 168 E. 3.3.4; 139 I 16 E. 5.1; 142 II 35 E. 3.2; 148 II 169 E. 5.3

2.3 Praxis des Bundesrates

Der Bundesrat hat die eigene Praxis im Bereich der Neutralität unter Berücksichtigung der Interessen der Schweiz und des jeweiligen internationalen Umfelds sowie der völkerrechtlichen Entwicklungen über die Jahre immer wieder weiterentwickelt. Grob lassen sich der Zeitraum bis zum Bericht des Bundesrates vom 29. November 1993 ¹6 über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren, Anhang: Bericht zur Neutralität (Neutralitätsbericht 1993) und die Folgepraxis ab dem Neutralitätsbericht 1993 unterscheiden. Die Gesamtheit der Entscheide, die auf der Grundlage des Neutralitätsverständnisses und in Anwendung des Neutralitätsrechts und der Neutralitätspolitik getroffen werden, bilden die Neutralitätspraxis der Schweiz. Sie beschreibt die Handhabung der Neutralität durch einen Staat. ¹7
Umgeben von kriegführenden Parteien blieb die Schweiz im Ersten Weltkrieg neutral. Diese Neutralität wurde von den kriegsführenden Staaten respektiert und die Schweiz nicht in den Krieg hineingezogen, im Gegensatz zu vielen anderen neutralen und nicht-neutralen Staaten in Europa. In dieser Phase half die Neutralität auch, den durch sprachlich-regionale und konfessionelle Spannungen gefährdeten inneren Zusammenhalt zu wahren. Beim Beitritt der Schweiz zum Völkerbund 1920 erhielt die Schweiz eine weitere internationale Anerkennung ihrer dauernden Neutralität und verpflichtete sich nur zur Übernahme von den vom Völkerbund vorgesehenen wirtschaftlichen, nicht jedoch militärischen Sanktionen (sog. differentielle Neutralität). ¹8 Angesichts der dramatischen Ereignisse, die letztlich im Zweiten Weltkrieg mündeten, beschloss die Schweiz 1938 mit Billigung des Völkerbundrats, ihr Engagement im Völkerbund auf ein Minimum zu reduzieren und auf Sanktionen zu verzichten (sog. integrale Neutralität). ¹9 Die integrale Neutralität bestimmte das Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Allerdings kam es im Verlauf des Kriegs aufgrund der schwierigen geopolitischen Lage auch immer wieder zu Neutralitätsverletzungen durch die Schweiz. 2⁰ Obwohl ideologisch und wirtschaftlich fest im westlichen Lager verankert, vermied die Schweiz auch während des Kalten Kriegs jede Teilnahme an multilateralen politischen oder militärischen Institutionen, trat der UNO vorerst nicht bei und blieb auf Distanz zum europäischen Einigungsprozess. 2¹ 1951 entschied die Schweiz, sich informell an der Embargopolitik gegen den kommunistischen Block zu beteiligen. 2² Ab 1960 löste sich der Bundesrat schrittweise von diesem extensiven Neutralitätsverständnis. Die Schweiz trat 1963 dem Europarat bei und engagierte sich ab den 1970er Jahren in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (ab 1995: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE). Als 1989 die Berliner Mauer fiel, veränderte sich die Welt mit dem Ende des Kalten Krieges grundlegend. Im Folgejahr ergriff zudem der UNO-Sicherheitsrat Sanktionen gegenüber dem Irak als Reaktion auf den Angriff auf Kuwait. Der Bundesrat beschloss - obwohl die Schweiz damals nicht Mitglied der UNO war - zum ersten Mal die Übernahme von nichtmilitärischen UNO-Sanktionen. ²3
1993 verfasste der Bundesrat den Neutralitätsbericht 1993, der bis heute die Grundlage für das Neutralitätsverständnis der Schweiz darstellt. Der Bericht hält fest, dass die Neutralität in einer «Phase des Übergangs und der Ungewissheit weiterhin ein zweckmässiges Mittel der schweizerischen Aussen- und Sicherheitspolitik» sei. ²4 Als Eckwerte definierte der Bericht:
-
Bei Massnahmen des UNO-Sicherheitsrats ist die Neutralität nicht anwendbar.
-
Die autonome Übernahme von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen der UNO ist ebenso möglich wie die Teilnahme an militärischen Massnahmen der Organisation.
-
Sanktionen ausserhalb der UNO können dem Frieden und der internationalen Ordnung dienen; eine Beteiligung an Wirtschaftssanktionen ist aufgrund einer umfassenden Güterabwägung im Einzelfall möglich.
-
Neutralität ist kein Hindernis für den Beitritt zur EU.
-
Die Guten Dienste stellen einen aktiven Friedensbeitrag dar, welcher der Schweizer Neutralität «zugleich eine gewisse universelle Funktion verleiht». ²5
-
Komplementär zur Neutralität soll die bisher restriktive Haltung zugunsten verstärkter Kooperation mit anderen Staaten geändert werden.
In Folgearbeiten bestätigte der Bundesrat diese Eckwerte und entwickelte sie auch hier weiter, ²6 indem er beispielsweise im Bericht zur Frage der Vereinbarkeit einer Mitgliedschaft im UNO-Sicherheitsrat mit der Neutralität von 2015 festhielt, dass eine solche Mitgliedschaft keine zusätzlichen Verpflichtungen mit sich bringen würde. ²7
Die Praxis des Bundesrates seit 1993 zeigt, noch deutlicher als bereits ab den 1960er Jahren, dass der Bundesrat den Spielraum jeweils im besten Interesse der Schweiz genutzt hat. Im Kontext des Kosovokonflikts 1998/1999 beispielsweise beschloss der Bundesrat gestützt auf die völkerrechtliche Lehre und Staatenpraxis, dass ohne Vorliegen eines Beschlusses des UNO-Sicherheitsrats die Neutralität angewandt wird. Gleichzeitig übernahm er zum ersten Mal Sanktionen der Europäischen Union (EU), wobei er aus neutralitätsrechtlichen Gründen das Erdölembargo der EU gegen Jugoslawien nicht übernahm, weil Erdöl vom Bundesrat als kriegsrelevantes Gut eingestuft wurde. Während des Irakkriegs 2003 ging der Bundesrat von einem Neutralitätsfall aus, da keine Autorisierung des militärischen Eingreifens der USA, Grossbritanniens und weiterer Koalitionspartner durch den UNO-Sicherheitsrat vorlag. ²8
Seit dem UNO-Beitritt 2002 ist die Schweiz zur Übernahme von UNO-Sanktionen verpflichtet. Wegen eines vorliegenden Waffenembargos durch den UNO-Sicherheitsrat gegen den Irak kam das neutralitätsrechtliche Gleichbehandlungsgebot nicht zur Anwendung, jedoch beschloss der Bundesrat insbesondere aus neutralitätspolitischen Gründen Zurückhaltung bei der Bewilligung von Exporten an die USA und Grossbritannien und führte ein erweitertes Bewilligungsverfahren ein. Ab 2006 erliess der UNO-Sicherheitsrat Sanktionen gegen den Iran wegen dessen Nuklearprogramm und damit einhergehender Verletzungen völkerrechtlicher Pflichten, welche die Schweiz als UNO-Mitglied übernahm. Hingegen entschied der Bundesrat 2011, nachdem die EU und andere Staaten zusätzliche Sanktionen ergriffen hatten, die neu eingeführten EU-Sanktionen nur teilweise zu übernehmen, da zu diesem Zeitpunkt ein internationaler bewaffneter Konflikt und damit ein Neutralitätsfall nicht ausgeschlossen werden konnte. Teil der Beurteilung waren die Ansprüche an die Glaubwürdigkeit, die sich aus dem Schutzmachtmandat der Schweiz zur Interessenvertretung zwischen den USA und dem Iran ergaben. In ähnlicher Weise berücksichtigte die Schweiz bei der Anwendung der Neutralität im Kontext der militärischen Intervention Russlands in der Ostukraine und der Annexion der Krim 2014 die eigene besondere Rolle bei der Vermittlung im Hinblick auf eine friedliche Lösung als Vorsitz der OSZE. So entschied der Bundesrat, EU-Sanktionen betreffend die Nicht-Anerkennung der Annexion der Krim vollumfänglich zu übernehmen, während in allen anderen Bereichen Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung der Sanktionen getroffen wurden.
Bei internen bewaffneten Konflikten mit internationaler Dimension ging der Bundesrat auf ähnliche Weise vor. Als der UNO-Sicherheitsrat mit Resolution 1973 im Jahr 2011 zu Libyen die Staaten autorisierte, Massnahmen insbesondere in Form von Luftoperationen zu ergreifen, um die Zivilbevölkerung gegen das gewaltsame Vorgehen des Gaddafi-Regimes anlässlich des arabischen Frühlings zu schützen, bewilligte der Bundesrat Transitgesuche zur Umsetzung der Resolution. Als im Syrien-Konflikt ab 2011 die EU-Sanktionen in Reaktion auf die schweren Menschenrechtsverletzungen des Assad-Regimes ergriff, übernahm die Schweiz diese vollständig. Als ab 2014 die USA und weitere Staaten Luftangriffe gegen die Terrororganisation Islamischer Staat in Syrien durchführten, lehnten die Schweizer Behörden hingegen in Abwesenheit einschlägiger UNO-Sicherheitsratsresolutionen aus neutralitätspolitischen Gründen Transitgesuche der USA und ihrer Partnerstaaten ab, die direkt in das Konfliktgebiet in Syrien führten. Im Rahmen des internen bewaffneten Konflikts zwischen der Regierung und den Huthi-Rebellen im Jemen seit 2014 wird von einer internationalen Dimension ausgegangen, da eine Koalition von Staaten unter Führung von Saudi-Arabien auf Seiten der Regierung interveniert, während angenommen wird, dass der Iran - ohne militärisch zu intervenieren - die Huthi-Rebellen unterstützt. Der Bundesrat beschloss zur Aufrechterhaltung des Friedens, der internationalen Sicherheit und der regionalen Stabilität, Kriegsmaterial an die Staaten der Jemen-Koalition dann nicht zu exportieren, wenn Grund zur Annahme bestand, dass das Material im Konflikt eingesetzt würde.
Zu Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine 2022 gelang es wegen des Widerstands von Russland als ständigem Mitglied mit Veto-Recht nicht, eine Resolution im UNO-Sicherheitsrat zu erlassen. Daher entschied der Bundesrat, entsprechend seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen und bisherigen Praxis, die schweren Verletzungen des Völkerrechts durch Russland scharf zu verurteilen und die von der EU ergriffenen Sanktionen zu übernehmen. Die im Vergleich zu 2014 hohe Intensität der Völkerrechtsverletzungen sowie die nicht mehr vorhandene Verhandlungsbereitschaft Russlands bewogen den Bundesrat zu diesem Entscheid.
Bei der Übernahme von Sanktionen muss die Schweiz Einschränkungen des Exports oder des Transits von kriegsrelevanten Gütern für eine Kriegspartei aus neutralitätsrechtlichen Gründen auch auf die andere Partei anwenden (Gleichbehandlungsgebot). Solche Einschränkungen gegenüber der Ukraine traf der Bundesrat beispielsweise bei besonderen militärischen Gütern oder doppelt verwendbaren Gütern, wenn diese für einen militärischen Endempfänger oder Endverwendungszweck bestimmt sind, um zu verhindern, dass Material mit einem militärischen Zweck die Ukraine als Kriegspartei begünstigt. Für Kriegsmaterialexporte verbietet das Kriegsmaterialgesetz vom 13. Dezember 1996 ²9 (KMG) bereits den Export in Länder, die wie Russland und die Ukraine in einen internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt sind. Zugleich berücksichtigte der Bundesrat Schweizer Gegebenheiten, indem er das Sendeverbot bestimmter russischer Medien nicht übernahm, da er dies als nicht mit der Schweizer Auffassung zur freien Meinungsäusserung vereinbar erachtete.
Zu erwähnen ist überdies die Regelung der Nichtwiederausfuhr bei Kriegsmaterialexporten. Nach Artikel 18 Absatz 1 KMG müssen staatliche Abnehmer von Schweizer Kriegsmaterial eine sogenannte Nichtwiederausfuhr-Erklärung unterzeichnen, in der sie sich dazu verpflichten, das Material nicht ohne Zustimmung der Schweizer Bewilligungsbehörde wieder auszuführen. Weder das KMG noch die Kriegsmaterialverordnung vom 25. Februar 1998 3⁰ (KMV) legen explizit die Kriterien fest, nach denen das Staatssekretariat für Wirtschaft oder der Bundesrat Gesuche ausländischer Regierungen um Wiederausfuhr beurteilt. In der Praxis wenden die Bewilligungsbehörden jedoch die gleichen Kriterien wie für die direkte Ausfuhr von Kriegsmaterial an. Diese Kriterien sind in den Artikeln 22 und 22 a KMG festgelegt. Diese Bestimmungen verbieten insbesondere den Export (und damit auch die Weitergabe) von Kriegsmaterial an Länder, die in einen internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt sind. Bei der Beurteilung solcher Gesuche spielen gegebenenfalls auch neutralitätsrechtliche Überlegungen eine Rolle, namentlich im Fall der Ukraine das Gleichbehandlungsgebot. Der Bundesrat lehnte solche Gesuche mit der Begründung wiederholt ab, die Zustimmung von Schweizer Behörden zur Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial durch Drittstaaten an die Ukraine würde gegen das Kriegsmaterialgesetz und die neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz verstossen, da eine Kriegspartei begünstigt würde. Jedoch hielt der Bundesrat fest, dass das Neutralitätsrecht für internationaler Wertschöpfungsketten keine Vorgaben macht und die Zulieferung von Kriegsmaterial in Form von Einzelteilen und Baugruppen an Länder des Anhangs 2 KMV unter bestimmten Bedingungen möglich bleibt. 3¹ Die Volksinitiative äussert sich nicht zur Thematik des Kriegsmaterialexports oder der Nichtwiederausfuhrerklärung und dürfte hier somit auch keine Änderung herbeiführen.
Die obigen Ausführungen zeigen, dass sich die Flexibilität in der Aussenpolitik und bei der Handhabung der Neutralität bewährt. Der Bundesrat kann diese für die Interessen und Werte der Schweiz im Licht der Bedürfnisse der internationalen Solidarität und für die internationale Gemeinschaft bestmöglich einsetzen. Dabei nimmt er unter Berücksichtigung und Abwägung verschiedener aussenpolitischer, einschliesslich neutralitätspolitischer Aspekte, stets eine umfassende fallbezogene Analyse vor.
¹6 BBl 1994 I 153
¹7 Siehe Neutralitätsbericht 2022, S. 31
¹8 Siehe L’accession de la Suisse comme membre de la Société des Nations. Résolution adoptée par le Conseil de la Société des Nations (13. Februar 1920). In: Sacha Zala, Marc Perrenoud (Hrsg.) (2019): La Suisse et la construction du multilatéralisme . Bd. 2. Documents diplomatiques suisses sur l’histoire de la Société des Nations 1918-1946 , Bd. 14, Dok. 18: Bern, abrufbar unter:
www.dodis.ch /1721.
¹9 Siehe dazu Le Chef de la Division des Affaires étrangères du Département politique , P. Bonna, aux Légations de Suisse (11. Mai 1938). In: Oscar Gauye (Hrsg.) (1994): Diplomatic Documents of Switzerland , Bd. 12, Dok. 293. Bern, abrufbar unter: www.dodis.ch/46553; Neutralité de la Confédération suisse dans le cadre de la Société des Nations (11. Mai 1938), abrufbar unter:
www.dodis.ch/54194 ; Résolution du Conseil de la SdN concernant la neutralité intégrale de la Suisse (14. Mai 1938). In: Sacha Zala, Marc Perrenoud (Hrsg.) (2019): La Suisse et la construction du multilatéralisme , Bd. 2. Documents diplomatiques suisses sur l’histoire de la Société des Nations 1918-1946 , Bd. 14, Dok. 41. Bern, abrufbar unter:
www.dodis.ch/54174 .
2⁰ Siehe z. B. der Überblick bei Riklin, Alois (2006): Neutralität am Ende? 500 Jahre Neutralität der Schweiz . In: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 125, S. 583-598, hier: S. 590.
2¹ Siehe z. B. die Leitlinien des Politischen Departements von 1954 (sog.
Bindschedler-Doktrin ) in: Der Begriff der Neutralität (26. November 1954), abrufbar unter:
www.dodis.ch/9564 .
2² Siehe u. a. diplomatische Dokumente zum Hotz-Lindner-Agreement (1951) und zum East-West-Trade (1945-1990). Abrufbar unter: www.dodis.ch/T1803. Siehe auch Nr. 1491 . Haltung der Schweiz im West-Ost-Handel (27. Juli 1951). In: Fleury, Antoine u. a. (Hrsg.) (2001). Diplomatic Documents of Switzerland , Bd. 18, Dok. 106. Zürich, abrufbar unter:
dodis.ch/7230 .
²3 Siehe dazu die Aktennotiz Beurteilung der Wirtschaftsmassnahmen gegenüber Irak und Kuwait aus der Sicht der schweizerischen Neutralität (15. August 1990). u. a. In: Zala, Sacha u. a. (Hrsg.) (2021). Diplomatische Dokumente der Schweiz , Bd. 1990, Dok. 30. Bern, kann abgerufen werden unter: www.dodis.ch/54497. Siehe auch die thematische Zusammenstellung zu den UNO-Sanktionen gegen den Irak und Kuwait (1990). Abrufbar unter:
www.dodis.ch/T1674 .
²4 Neutralitätsbericht 1993, S. 207
²5 Neutralitätsbericht 1993, S. 216
²6 Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe vom 30. August 2000. Abrufbar unter: www.eda.admin.ch > Aussenpolitik > Völkerrecht > Neutralität > Bericht zur Neutralitätspraxis im Kosovo; Botschaft vom 20. Dezember 2000 zum Embargogesetz, BBl 2001 1433 ; Die Neutralität auf dem Prüfstand im Irak-Konflikt, Zusammenfassung der Neutralitätspraxis der Schweiz während des Irak-Konflikts in Erfüllung des Postulats Reimann (03.3066) und der Motion der SVP-Faktion (03.3050) vom 2. Dezember 2005, BBl 2005 6997 .
²7 Bericht des Bundesrates vom 5. Juni 2015 in Erfüllung des Postulats der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK-N) 13.3005 vom 15. Januar 2013. Abrufbar unter:
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Bundesrat genehmigt Bericht zur Kandidatur der Schweiz für einen nichtständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat.
²8 Die Neutralität auf dem Prüfstand im Irak-Konflikt, Zusammenfassung der Neutralitätspraxis der Schweiz während des Irak-Konflikts in Erfüllung des Postulats Reimann (03.3066) und der Motion der SVP-Fraktion (03.3050) vom 2. Dez. 2005, BBl 2005 6997 , S. 7017.
²9 SR 514.51
3⁰ SR 514.511
3¹ Siehe Neutralitätsbericht 2022, S. 21

3 Ziele und Inhalt der Initiative

3.1 Ziele der Initiative

Ziel der Initiative ist gemäss Initiativkomitee, die schweizerische Neutralität zu wahren, sodass die Schweiz von allen Ländern dieser Welt als standhaft und verlässlich neutrales Land respektiert werde und als Vermittlerin zur Verfügung steht. Zur Erreichung dieses Ziels will die Initiative durch die Aufnahme einer neuen Verfassungsbestimmung - Artikel 54 a E-BV - ein bestimmtes Verständnis und damit eine bestimmte Ausgestaltung der Schweizer Neutralität in der Bundesverfassung verankern. Die Schweizer Neutralität soll immerwährend und ausnahmslos gelten. Sie soll bewaffnet sein mit einer Armee, die Land und Leute im Angriffsfall erfolgreich verteidigen kann. Sie soll sich gemäss Ansicht der Initiantinnen und Initianten weiter durch die Distanzierung von militärischen und politischen Bündnissen sowie den Verzicht von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen auszeichnen. Durch eine feste Verankerung dieses Verständnisses der Schweizer Neutralität soll gemäss Initiativkomitee der Erhalt der Schweizer Neutralität im Sinne einer «uneingeschränkten» Neutralität gewährleistet werden, die als Staatsmaxime absolut gilt. Die Initiantinnen und Initianten argumentieren, dass die Schweiz durch die Verankerung eines solchen Verständnisses besser vor Angriffen geschützt sein wird. Ausserdem stelle ein solches Neutralitätsverständnis für die multilaterale Ausrichtung der Schweizer Aussenpolitik sowie der Schweizer Friedenspolitik, inklusive der Guten Dienste, einen Mehrwert dar. 3²
3² Siehe Argumentarium Neutralitätsinitiative, abrufbar unter: www.neutralitaet-ja.ch > Argumentarium.

3.2 Inhalt der vorgeschlagenen Regelung

Gemäss Initiativtext soll die schweizerische Neutralität folgendermassen ausgestaltet sein:
-
Die Schweiz ist neutral und die «Schweizer Neutralität» soll immerwährend und bewaffnet sein.
-
Die Schweiz darf keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis beitreten. Einzige Ausnahme für eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen bildet das Szenario eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder im Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs.
-
Die Schweiz soll sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten beteiligen.
-
Die Schweiz soll auf nichtmilitärische Massnahmen, also Sanktionen, gegenüber kriegsführenden Staaten verzichten, ausser im Bereich der UNO. Dort soll die Schweiz weiterhin ihren Verpflichtungen als Mitgliedstaat nachkommen. Das Treffen von Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten ist gemäss Initiativtext möglich.
-
Die Schweiz soll ihre immerwährende Neutralität für «Gute Dienste» zur Verhinderung und Lösung von Konflikten nutzen und als Vermittlerin zur Verfügung stehen.

3.3 Erläuterung und Auslegung des Initiativtextes

Ein Teil der Bestimmungen des Initiativtexts entsprechen der gegenwärtigen Rechtslage und Praxis. Es bestehen aber auch bedeutende Unterschiede und die Initiative wirft mehrere Auslegungsfragen auf.

3.3.1 Art. 54

a

Abs. 1 E-BV

3.3.1.1 «Die Schweiz ist neutral»
Die Initiative will die Neutralität der Schweiz explizit in der BV als Grundsatz der Beziehungen zum Ausland (Kapitel 2, Abschnitt 1 BV) und damit als Grundsatz der Aussenpolitik verankern. Gemäss der bisherigen Praxis der Schweiz ist die Neutralität ein Instrument der Sicherheits- und Aussenpolitik, das der Verwirklichung von in der BV verankerten Interessen, wie etwa der Unabhängigkeit und Sicherheit (Art. 2 Abs. 1 BV; Art. 54 Abs. 2, Art. 57 Abs. 1 BV), der gemeinsamen Wohlfahrt (Art. 2 Abs. 2 BV; Art. 54 Abs. 2 BV), dem inneren Zusammenhalt des Landes (Art. 2 Abs. 2 BV) und der friedlichen und gerechten internationalen Ordnung sowie der dauerhaften Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 2 Abs. 4 BV; Art. 54 Abs. 2 BV) dient. 3³ Der Wechsel vom instrumentellen Charakter zum Grundsatz der Aussenpolitik steht nicht in einem direkten Widerspruch zu aktuellen Bestimmungen in der BV. Es wäre in der Praxis anhand des konkreten Einzelfalls zu klären, wie sich dieser neue Grundsatz gegenüber den übrigen Grundsätzen der Aussenpolitik, die in Artikel 54 BV verankert sind, verhält. ³4
3³ Siehe z. B. Neutralitätsberichte 1993 und 2022; Botschaft vom 23. Januar 2013 zum Bundesgesetz über die im Ausland erbrachten privaten Sicherheitsdienstleistungen, BBl 2013 1745 ; Botschaft vom 5. März 2021 zur Volksinitiative «Gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer (Korrektur-Initiative)» und zum indirekten Gegenvorschlag (Änderungen des Kriegsmaterialgesetzes), BBl 2021 623 .
³4 Siehe dazu z. B. Biaggini, Giovanni (2017): Kommentar BV. Zürich, Art. 185 Rz. 5, Art. 54, Rz. 17-21.
3.3.1.2 «Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet»
Die Tatsache, dass die Schweizer Neutralität immerwährend, also dauernd ist, ergibt sich bereits aus ihrer völkerrechtlichen Verankerung im Pariser Friedensvertrag von 1815. An der Pariser Friedenskonferenz anerkannten die europäischen Grossmächte die «immerwährende» Neutralität der Schweiz und garantierten die Unverletzlichkeit des schweizerischen Hoheitsgebiets. Damit wird die Neutralität der Schweiz erstmals völkerrechtlich anerkannt. Als ein dauernd neutraler Staat wird ein Staat bezeichnet, der sich in keinem Fall an einem Krieg zwischen Staaten beteiligt. Er beginnt keinen Krieg und lässt sich nicht in einen Krieg verwickeln. Dauernde Neutralität ist folglich an erster Stelle ein Bekenntnis zum Frieden. Auch die immerwährende Neutralität bleibt aus völkerrechtlicher Sicht einseitig kündbar.
Dass die Schweiz über eine Armee verfügt, ergibt sich aus der neutralitätsrechtlichen Pflicht, dass der neutrale Staat sein Territorium kriegsführenden Parteien nicht zur Verfügung stellen darf. Die Armee hilft, den eigenen neutralen Status durchzusetzen und zu verhindern, dass das eigene Territorium zu Kriegszwecken missbraucht wird. Die Schweizer Armee dient somit nicht nur zur Verteidigung der eigenen Unabhängigkeit und territorialen Integrität, sondern auch dazu, neutralitätswidrige Handlungen kriegsführender Staaten auf dem eigenen Gebiet zu verhindern. Die dauernd bewaffnete Neutralität wurde im Nachgang zum Wiener Kongress in einer Erklärung der europäischen Grossmächte Russland, England, Preussen, Österreich und Frankreich an der Pariser Friedenskonferenz 1815 international anerkannt.

3.3.2 Art. 54

a

Abs. 2 E-BV

3.3.2.1 «Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei»
Der Initiativtext verbietet der Schweiz einem Militär- oder Verteidigungsbündnis beizutreten. Er spricht von Militär- und Verteidigungsbündnissen im Allgemeinen, ohne dabei zu präzisieren, ob es um Bündnisse mit oder ohne Beistandspflicht geht. Ein Militärbündnis dient dem Zweck der militärischen Kooperation von Staaten. Ein Verteidigungsbündnis ist eine spezifische Form eines Militärbündnisses, das sich auf die kollektive Verteidigung der Mitglieder fokussiert und meistens eine Beistandspflicht aufweist. Das bekannteste Militärbündnis mit Beistandspflicht ist die Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato). Neben der Nato gibt es eine Vielzahl regionaler militärischer Bündnisse mit und ohne Beistandspflicht, so zum Beispiel das trilaterale Militärbündnis ohne Beistandspflicht zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den USA (Aukus).
3.3.2.2 «Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs»
Nebst der Bündnisbeitrittsfrage macht die Initiative auch Vorgaben im Bereich der Zusammenarbeit mit Militär- und Verteidigungsbündnissen. Eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen soll nur für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs möglich sein. Dies ist nicht als prospektiv zu verstehen.
Zum Begriff «direkter militärischer Angriff» und zur Frage was als Vorbereitungshandlung zu einem solchen gewertet werden soll, macht die Initiative keine Aussage. Für die Auslegung dieser Frage kann das Völkerrecht hinzugezogen werden. Völkerrechtlich liegt ein Angriff (Aggression) vor, wenn ein Staat militärische Gewalt gegen die Souveränität, die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staats einsetzt. ³5 Bei der Qualifikation ist insbesondere die Intensität der Gewalthandlungen zu berücksichtigen. Dies kann sowohl direkt geschehen, beispielsweise durch das Eindringen von Streitkräften in fremdes Staatsgebiet oder indirekt, beispielsweise durch die staatliche Unterstützung militärischer Aktivitäten eines nichtstaatlichen Akteurs, die sich gegen einen anderen Staat richten. Eine Angriffshandlung muss dabei nicht zwingend durch kinetische oder mechanische Mittel oder durch Waffen erfolgen. Ein Gegner könnte seine Ziele auch durch eine Beeinträchtigung der für das Funktionieren der staatlichen Führung, der wirtschaftlichen Abläufe und des gesellschaftlichen Lebens zentralen Infrastrukturen erreichen. Terroristische Angriffe oder Cyberangriffe können als bewaffneter Angriff taxiert werden, wenn es sich um Angriffe grösster Dimension handelt. Wann die völkerrechtlichen Kriterien eines Angriffs genau erfüllt sind, ist für den Cyberraum allerdings noch nicht abschliessend geklärt. Die Intensität und Wirkung des Angriffs ist dabei für die weitere Einordnung ausschlaggebend. Auch eine Vielzahl kleinerer Gewalthandlungen kann in der Summe als Angriff gewertet werden. Ab wann eine getätigte Handlung als Vorbereitungshandlung zu werten ist, hängt gemäss Völkerrechtspraxis insbesondere davon ab, ob dadurch der militärische Angriff so vorbereitet ist, sodass er unmittelbar bevorsteht. Gerade auch Cyberoperationen können zur Vorbereitung von militärischen Operationen dienen. ³6
³5 Definition of Aggression (1. Januar 1975). U.N. Doc. A/RES/3314 (XXIX). Abrufbar unter:
documents.un.org
³6 Siehe dazu Bericht des Bundesrates vom 24. August 2016, BBl 2016 7763 , S. 7854-7856

3.3.3 Art. 54

a

Abs. 3 E-BV

3.3.3.1 «Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten»
Der Initiativtext schliesst die Teilnahme der Schweiz an militärischen Auseinandersetzungen aus. Militärische Auseinandersetzungen sind völkerrechtlich als internationale bewaffnete Konflikte zu qualifizieren. Ein internationaler bewaffneter Konflikt liegt dann vor, wenn zwischen zwei oder mehreren Staaten bewaffnete Gewalt angewendet wird.
3.3.3.2 «[…] und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegsführende Staaten»
Gemäss Initiativtext darf die Schweiz keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegsführende Staaten treffen. Bei nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen handelt es sich aus der Perspektive des Völkerrechts um Massnahmen, die von einem Staat eigenständig oder von einer Gruppe von Staaten oder von einer internationalen Organisation ergriffen werden, um eine Völkerrechtsverletzung zu stoppen ohne den Einsatz von militärischer Gewalt. ³7 Im Allgemeinen werden diese als Sanktionen bezeichnet. Der Staat mit seinem Staatsapparat und Staatsvermögen ist dabei der klassische Sanktionsadressat. Es können aber auch Individuen und andere nicht staatliche Akteure betroffen sein. Sanktionen können beispielsweise in Güterembargos, Dienstleistungsembargos, Finanzsanktionen oder Einreiseverbote bestehen. ³8 Weiter können nichtmilitärische Zwangsmassnahmen auch diplomatische Massnahmen oder beispielsweise den Ausschluss eines Staates aus einer internationalen Organisation umfassen. ³9
Der Initiativtext ist hier in mehrfacher Hinsicht auslegungsbedürftig. So geht aus dem Wortlaut einerseits nicht klar hervor, ob aufgrund der Verwendung der Terminologie «kriegsführende Staaten» nichtmilitärische Zwangsmassnahmen gegen Individuen oder andere nichtstaatliche Akteure nach wie vor möglich sind. Unklar bleibt ausserdem, ob damit nur Staaten gemeint sind, die gegen andere Staaten Krieg führen oder auch Staaten, die gegen bestimmte nichtstaatliche Akteure Krieg führen, etwa im eigenen Land in einem internen bewaffneten Konflikt. Zumal die Neutralität nur bei zwischenstaatlichen Konflikten zur Anwendung kommt, ist davon auszugehen, dass diese Bestimmung nur für Fälle von zwischenstaatlichen Konflikten greifen würde. Andererseits ist unklar, was die Vorgabe, dass die Schweiz keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen trifft, genau umfasst. Der Bund kann gestützt auf das Embargogesetz vom 22. März 2002 4⁰ Zwangsmassnahmen erlassen, um Sanktionen durchzusetzen, die von der UNO, der OSZE oder den wichtigsten Handelspartnern der Schweiz, namentlich der EU, beschlossen worden sind und der Einhaltung des Völkerrechts dienen. Die Abwägung erfolgt jeweils unter Berücksichtigung aussenpolitischer, aussenwirtschaftspolitischer und rechtlicher Kriterien. Das Embargogesetz bietet keine Rechtsgrundlage für den Erlass von eigenständigen Sanktionen durch die Schweiz. Der Bundesrat kann jedoch gestützt auf Artikel 184 BV auch unilateral Sanktionen erlassen. Dies betrifft insbesondere diplomatische Massnahmen, wie die Wegweisung von diplomatischem Personal aus der Schweiz. 4¹ Es stellt sich also die Frage, ob die Initiative nur von den der Schweiz selber getroffenen Massnahmen spricht, oder ob der Text dahingehend zu interpretieren ist, dass die Schweiz gestützt auf das Embargogesetz keine internationalen Sanktionen mehr übernehmen darf. Das Argumentarium des Initiativkomitees spricht von Wirtschaftssanktionen. Zumal die Initiative selber die Sanktionen der UNO erwähnt, ist davon auszugehen, dass mit der Regelung die Sanktionen gemäss Embargogesetz zumindest auch erfasst werden sollen.
³7 Steingruber, Andrea Marco (2023): Embargogesetz Kurzkommentar. Zürich/St. Gallen: Dike, S. 19.
³8 Steingruber, Andrea Marco (2023): Embargogesetz Kurzkommentar. Zürich/St. Gallen: Dike, S. 17-19 und 22.
³9 Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, in Kraft getreten für die Schweiz am 10. September 2002 ( SR 0.120 ), Art. 41.
4⁰ SR 946.231
4¹ Siehe dazu Botschaft vom 20. Dez. 2000 zum Embargogesetz, BBl 2001 1433 S. 1452 und 1456.
3.3.3.3 «Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten»
Gemäss Initiativtext soll die Schweiz im Bereich von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen ihren Verpflichtungen gegenüber der UNO weiterhin nachkommen. Die Initiative spricht hier auf die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz an, die vom UNO-Sicherheitsrat erlassenen Sanktionen umzusetzen. Nach Artikel 41 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 kann der Sicherheitsrat zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nichtmilitärische Zwangsmassnahmen ergreifen. Eine solche Verpflichtung zur Umsetzung ergibt sich aus der UNO-Mitgliedschaft der Schweiz. 4² Unklar ist, was der Vorbehalt bedeuten würde, wenn die UNO Generalversammlung Sanktionen beschliessen würde. Solche wären rechtlich nicht verbindlich. Es ist deshalb fraglich, ob dieser Vorbehalt anwendbar wäre.
Die Initiative erwähnt zudem, dass Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von Sanktionen anderer Staaten möglich sein sollen. Aus dem Wortlaut «anderer Staaten» geht nicht klar hervor, ob dies auch Organisationen wie beispielsweise die EU oder die OSZE miteinschliesst. Da solche Massnahmen letztendlich von den jeweiligen Mitgliedstaaten der Organisationen umgesetzt werden, ist davon auszugehen, dass auch Organisationen wie die EU von dieser Regelung erfasst werden sollen. Eine Reihe solcher Massnahmen erliess die Schweiz beispielsweise nach der Annexion der Krim durch Russland von 2014, um die Umgehung der EU-Sanktionen über die Schweiz zu verhindern. Dies weil ihr durch ihre damalige OSZE-Präsidentschaft eine besondere Rolle zukam. Solche Massnahmen umfassten insbesondere eine Bewilligungspflicht für die Ausgabe von langfristigen Finanzinstrumenten für bestimmte russische Banken und Unternehmen oder Verschärfungen im Bereich der Exportkontrolle. Die wirksame Unterbindung von Versuchen, die Sanktionen zu umgehen, erfordert eine enge internationale Koordination. Die Schweiz verfolgt die internationalen Diskussionen zu diesem Thema aufmerksam und arbeitet eng mit der EU und anderen Partnern zusammen. 4³
4² Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, in Kraft getreten für die Schweiz am 10. September 2002 ( SR 0.120 ), Art. 25.
4³ Ukraine: Die Schweiz setzt das 11. Sanktionspaket um (16. August 2023). Abrufbar unter:
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Ukraine: Die Schweiz setzt das 11. Sanktionspaket um.

3.3.4 Art. 54

a

Abs. 4 E-BV

3.3.4.1 «Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung»
Artikel 54 a Absatz 4 E-BV hält ausdrücklich fest, dass die Schweiz ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten nutzen und als Vermittlerin zur Verfügung stehen soll. Damit legt dieser Absatz Ziele der Neutralität fest. In Zukunft müsste der Bundesrat bei der Gestaltung der Aussenpolitik die Neutralität als aussenpolitischen Grundsatz und die damit verfolgten Ziele sowie die sicherheits- und aussenpolitischen Interessen der Schweiz gegeneinander abwägen. Zu nennen sind die Unabhängigkeit und Sicherheit (Art. 2 Abs. 1, 54 Abs. 2, 57 Abs. 1 BV), die gemeinsame Wohlfahrt (Art. 2 Abs. 2 und 54 Abs. 2 BV), der innere Zusammenhalt des Landes (Art. 2 Abs. 2 BV) sowie die friedliche und gerechte internationale Ordnung und dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage (Art. 2 Abs. 4 und 54 Abs. 2 BV).

4 Würdigung der Initiative

4.1 Würdigung der Anliegen der Initiative

Wie oben dargelegt, will die Initiative nicht nur die Neutralität der Schweiz, sondern eine bestimmte Ausprägung in der Bundesverfassung verankern. Eine solche Verankerung hätte zur Folge, dass die Neutralität nur noch mit einer Verfassungsrevision weiterentwickelt werden könnte. Damit beendet die Initiative die seit 175 Jahren erfolgreiche Verfassungspraxis der flexiblen Handhabe der Neutralität in Berücksichtigung des internationalen Umfelds und völkerrechtlicher Entwicklungen. Der Bundesrat hat die Neutralität in diesem Rahmen stets als ein Instrument der Sicherheits-, Aussen- und Wirtschaftspolitik aufgrund der sich verändernden internationalen Gegebenheiten angepasst, sodass sie der Wahrung der Unabhängigkeit und Sicherheit der Schweiz, der gemeinsamen Wohlfahrt, dem inneren Zusammenhalt und den Werten des Landes sowie der friedlichen und gerechten internationalen Ordnung dienlich ist. Diese Flexibilität umfasst heute die Möglichkeit zur sicherheitspolitischen Kooperation der Schweiz mit Militärbündnissen unter Wahrung der Neutralität, die der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz dient. Die Möglichkeit, fallweise Sanktionen zu übernehmen, dient den Schweizer Interessen wie die Wahrung des Völkerrechts, die Aufrechterhaltung ihrer Werte und die Solidarität mit den wichtigsten aussen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Partnern der Schweiz. Im heutigen volatilen internationalen Umfeld ist die von der Initiative beabsichtigte Verankerung eines bestimmten Neutralitätsverständnisses deshalb nicht zielführend. Vielmehr ist Flexibilität in der Handhabung der Neutralität im Rahmen der geltenden völkerrechtlichen Vorgaben von zentraler Bedeutung für die optimale Wahrung der Schweizer Landesinteressen.

4.2 Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

Die Initiative entspricht teilweise der bundesrätlichen Praxis. Dort, wo sie von dieser abweicht, führt sie allerdings zu Änderungen mit grossen Auswirkungen.

4.2.1 Übereinstimmung mit der bisherigen Praxis:

4.2.1.1 Immerwährend und bewaffnet
«Immerwährend und bewaffnet» sind bereits heute zwei Neutralitätscharakteristika, zu denen sich der Bundesrat immer bekannt hat und die auch völkerrechtlich verbrieft und anerkannt sind. Die Schweiz hat immer eine möglichst autonome Landesverteidigung verfolgt, um ihr Territorium und ihr Bevölkerung zu schützen. Dieser Grundsatz ist nie in Frage gestellt worden. Dies steht aber nicht der freien Entscheidung der Schweiz entgegen, einseitig auf den Status als neutraler Staat zu verzichten und die Neutralität aufzugeben, wenn sie dies zur Wahrung ihrer Landesinteressen für nötig halten würde. Sie ist völkerrechtlich nicht zur Neutralität verpflichtet. Daran ändert auch eine explizite Verankerung der Neutralität als immerwährend und bewaffnet in der Bundesverfassung nichts. Ebenso hat die Schweiz das Recht, ihre Neutralität - im Rahmen ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen - gewandelten Verhältnissen anzupassen und neu zu umschreiben. In dieser Hinsicht steht ihr ein weiter Gestaltungsspielraum offen, solange das Neutralitätsrecht eingehalten wird. Bereits nach gegenwärtiger Rechtslage kann die Neutralität nur in Form eines Grundsatzentscheids völkerrechtskonform aufgegeben werden. Der Grundsatz des guten Glaubens verlangt dabei, dass die Schweiz andere interessierte Staaten angemessen über eine Abkehr von der Neutralität informiert und ihren Status nicht abrupt unmittelbar vor oder während eines Krieges ändert, sofern sie nicht selbst angegriffen wird. Innerstaatlich würde nach der vorherrschenden Verfassungslehre eine Aufgabe der Neutralität bereits heute eine Verfassungsrevision erfordern. 4⁴ Die Hürden für eine Abkehr von der Neutralität wären damit hoch.
4⁴ Villiger, Mark E. (2023): Handbuch der schweizerischen Neutralität . Zürich: Schulthess, S. 185-187 und 191-192.
4.2.1.2 Kein Beitritt zu einem Militär- und Verteidigungsbündnis mit Beistandspflicht
Bereits heute darf die Schweiz keinem Verteidigungsbündnis mit Beistandspflicht beitreten, wie dies bei der Nato der Fall ist. Dies ergibt sich aus der neutralitätsrechtlichen Vorwirkung. Letztere beinhaltet, dass der dauernd neutrale Staat in Friedenssituationen keine Tatsachen schaffen darf, die ihm die Einhaltung der Pflichten aus dem Neutralitätsrecht im Kriegsfalle verunmöglichen. Aktivitäten zu Friedenszeiten wirken so für den Fall eines Krieges vor.
4.2.1.3 Keine Beteiligung an militärischen Auseinandersetzungen
Die Schweiz hat sich seit den Napoleonischen Kriegen nicht mehr an Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten beteiligt und eine Beteiligung der Schweiz an solchen militärischen Auseinandersetzungen schliesst das Neutralitätsrecht bereits heute aus. Die Schweiz darf beispielsweise kein Kriegsmaterial aus eigenen Armeebeständen an die Kriegsparteien weitergeben oder die Kampfhandlungen durch eigene Streitkräfte unterstützen. Sie darf keine Kriegspartei militärisch begünstigen. Gegenüber militärischen Handlungen, welche die UNO-Mitgliedstaaten zur Ausführung des Beschlusses des UNO-Sicherheitsrats vornehmen, besteht keine Neutralität. Dies entspricht der aktuellen Praxis der Schweiz.
4.2.1.4 Übernahme von UNO-Sanktionen
Die Übernahme von UNO-Sanktionen entspricht der bundesrätlichen Praxis seit 1993 und ist seit dem UNO-Beitritt von 2002 für die Schweiz verpflichtend. Der Bundesrat hat die grundsätzliche Vereinbarkeit von Sanktionen mit der Neutralität immer wieder festgestellt, zum Beispiel in den Neutralitätsberichten von 1993 und 2022 oder in der Botschaft vom 20. Dezember 2000 ⁴5 zum Embargogesetz. Auch das Neutralitätsrecht kennt weder ein Gebot noch ein Verbot von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegenüber anderen Staaten.
⁴5 BBl 2001 1433
4.2.1.5 Friedenssicherung
Bereits heute entspricht die Forderung des Initiativkomitees, dass die Schweiz ihre Vermittlerrolle wahrnimmt und die Neutralität zur Friedenssicherung nutzt, der bundesrätlichen Praxis. Im Bereich der Guten Dienste weist die Schweiz eine erfolgreiche und langjährige Erfahrung auf. Sie bilden als Element der Schweizer Aussenpolitik einen wesentlichen Teil der Neutralitätspolitik und ermöglichen einen aktiven Friedensbeitrag. Auch mit Massnahmen zur Förderung der Rechtstaatlichkeit oder mit Beiträgen zur zivilen oder militärischen Friedensförderung setzt sich die Schweiz ein. Die Neutralität ist jedoch keine unverzichtbare Voraussetzung für die Erbringung dieser Aktivitäten. Politisches Gewicht, multilaterale Kompetenzen, Diskretion und Erfahrungen mit kultureller Vielfalt sind zunehmend wichtige Faktoren für das Leisten von Guten Diensten. Im Falle der Schweiz kann die Neutralität aber nach wie vor zur Glaubwürdigkeit dieses Engagements beitragen und ist noch immer einer von mehreren (Standort-)Vorteilen der Schweiz. Die Guten Dienste sind Ausdruck der Solidarität der Schweiz. ⁴6 Die explizite Festschreibung dieses einen aussenpolitischen Ziels hat folglich keine neutralitätspolitischen Auswirkungen.
⁴6 Neutralitätsbericht 2022, S. 3 und 14

4.2.2 Abweichung von der bisherigen Praxis

4.2.2.1 Auswirkung der Verankerung der Neutralität als Grundsatz der Aussenpolitik
Die explizite inhaltliche Verankerung eines bestimmten Verständnisses der Neutralität in der BV bedeutet eine Abkehr von der flexiblen Praxis. Die Neutralität war nie starr und ein Selbstzweck, sondern sie hat sich seit ihren Anfängen aus dem zeitgenössischen Kontext ergeben und nach den jeweiligen internationalen Realitäten und Schweizer Interessen in der Aussen- und Innenpolitik ausgerichtet. Mit der neuen Verankerung der Neutralität als Grundsatz der Aussenpolitik reduziert sich der Spielraum für eine flexible Nutzung der Neutralität, da sie nicht mehr als Instrument zur Erreichung von aussen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Zielen eingesetzt werden könnte. Diese Flexibilität - im Rahmen des neutralitätsrechtlich Zulässigen - ist bisher bei der Anwendung der Neutralität von grosser Bedeutung, um die Landesinteressen mit dem Instrument der Neutralität bestmöglich zu wahren. Diese Interessen sind insbesondere die Sicherheit und Unabhängigkeit, die Wohlfahrt und der innere Zusammenhalt sowie die friedliche und gerechte internationale Ordnung. Diese Interessen haben je nach aussen- und sicherheitspolitischem Kontext eine andere Gewichtung. Der Bundesrat hat die Notwendigkeit einer grossen Flexibilität immer wieder bestätigt, insbesondere im Neutralitätsbericht 1993 sowie zuletzt im Neutralitätsbericht 2022. ⁴7
Bei jeder Total- und Teilrevision der Bundesverfassung wurde bisher davon abgesehen, die Neutralität als Grundsatz oder in einer bestimmten Ausprägung zu verankern. Über die über 150-jährige Geschichte der Schweizer Bundesverfassung hat sich also die Ansicht gehalten, dass eine solche Verankerung nicht im Interesse der Schweiz liegt. Mit der Annahme der Initiative ginge der bisherige nötige und wichtige Spielraum zur Interessenwahrung und die Flexibilität in der Anwendung der Neutralität weitgehend verloren. Jede substantielle Anpassung würde künftig eine Verfassungsrevision erforderlich machen. ⁴8 Eine Reaktion in der Neutralitätspraxis auf veränderte Umstände wäre nur mit grosser zeitlicher Verzögerung möglich.
⁴7 Neutralitätsbericht 2022
⁴8 Villiger, Mark E. (2023): Handbuch der schweizerischen Neutralität . Zürich: Schulthess, S. 187, Rz. 382 und 195, Rz. 405.
4.2.2.2 Auswirkungen hinsichtlich der Militär- oder Verteidigungsbündnisse
Ein Beitritt zu einem Bündnis ohne Beistandspflicht wäre neutralitätsrechtlich nach gegenwärtigem Stand zulässig. Es wäre aber sicherlich eine neutralitätspolitische Prüfung vorzunehmen. Die Initiative würde einen Beitritt zu solchen Bündnissen zukünftig rechtlich untersagen. Bestehende regionale militärische Bündnisse wie beispielsweise Aukus sind aufgrund der geographischen Distanz für die Schweiz wenig relevant. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass sich künftig weitere Bündnisformate entwickeln. Durch das Verbot greift die Initiative einschränkend vor, indem grundsätzlich keine neutralitätspolitische Prüfung vorgenommen werden könnte. Angesichts der verschlechterten Sicherheitslage in Europa und der volatilen sicherheitspolitischen Grosswetterlage dürfte gerade hier eine gewisse Prüfungsflexibilität wichtig sein.
4.2.2.3 Auswirkungen auf die sicherheitspolitische Zusammenarbeit
Nach geltender Neutralitätspraxis erfolgt die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Militär- und Verteidigungsbündnissen im Rahmen des neutralitätsrechtlich Zulässigen. Die Annahme der Initiative würde einen sicherheitspolitischen Kurswechsel bedeuten. Die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit würde stark eingeschränkt. Gemäss Initiativtext könnte sich die Schweiz etwa kaum Nato-Kooperationsprojekten anschliessen, die Fachpersonal zu Abläufen und hinsichtlich ihrer Zuständigkeiten im Falle von Cyberangriffe ausbilden. Nato-Formate sind wiederum führend für den Austausch und die Ausbildungen im Zusammenhang mit solchen Bedrohungen. Viele Kooperationsprojekte mit Verteidigungsbündnissen betreffen zivil und militärisch relevante Bereiche.
Weil die Schweiz technisch und materiell von dieser Zusammenarbeit profitiert, hätte dies auch eine Schwächung der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz zur Folge. Angesichts der verschlechterten Sicherheitslage in Europa und der rasanten Technologieentwicklung sind der Austausch, Übungen und gemeinsame Ausbildungen sowie Beschaffungen mit sicherheitspolitischen Partnern für die Schweiz unabdingbar. Die allermeisten massgeblichen sicherheitspolitischen Partner der Schweiz sind in der Nato und der EU. Die Schweiz entscheidet heute fallweise über Kooperationsprojekte, je nach Nützlichkeit und Vereinbarkeit mit dem Neutralitätsrecht. Eine Einschränkung dieser Zusammenarbeit würde den sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz und ihrer Unabhängigkeit zuwiderlaufen und der Glaubwürdigkeit der Schweiz als autonome sicherheitspolitische Akteurin, die Selbstverantwortung übernimmt, schaden. Letzteres bedingt die stete Förderung der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz - gerade auch mit Blick auf die wachsenden geopolitischen Spannungen und den damit verbundenen neuen Herausforderungen und Bedrohungen. Insbesondere grenzüberschreitende Bedrohungen wie beispielsweise Cyberangriffe oder Terrorismus - welchen die Schweiz genauso ausgesetzt ist wie andere Staaten - machen eine Kooperation im zivilen und militärischen Bereich mit Verteidigungsbündnissen vermehrt notwendig. ⁴9 Sollte sich die Vorbereitung eines militärischen Angriffs konkret abzeichnen, dürfte es für Bemühungen zur Zusammenarbeit mit relevanten Bündnissen bereits zu spät sein, da eine solche Zusammenarbeit Zeit und Vorbereitung voraussetzt. Es ist zudem fraglich, ob solche Bündnisse und Partnerstaaten unter diesen Umständen überhaupt bereit wären, die Schweiz zu unterstützen. Ferner dürften realistisch gesehen in der europäischen Sicherheitslage schon viele Eskalationen durchschritten worden sein, bis der Schweiz - umgeben von Partnerländern - direkt ein Angriff droht.
In all dieser Zeit wäre die Schweiz von der Kooperation mit Militärbündnissen ausgeschlossen, einschliesslich Informations- und Lagebildaustausch über die Bedrohungslage. Dies hätte beispielsweise zur Folge, dass die Schweiz Informationen über eine Angriffsvorbereitung gegen sie verpassen könnte.
Vor diesem Hintergrund und wie bereits im Zusatzbericht des Bundesrates vom 7. September 2022 5⁰ zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine ausgeführt, ist ein sicherheitspolitischer Alleingang mit Verzicht auf internationale Kooperation in der Verteidigung kein gangbarer Weg. Dies auch aus wirtschaftlichen Gründen und Gründen der wissenschaftlichen Forschung. 5¹ Es liegt im Interesse der Schweiz, dass sie ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik konsequenter als bislang auf die internationale Zusammenarbeit ausrichtet, um die eigene Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit zu wahren und einen Beitrag zur Sicherheit des regionalen Umfelds zu leisten. 5²
Auch auf die sicherheitsrelevante Technologie- und Industriebasis der Schweiz könnte es sich negativ auswirken, wenn die sicherheitspolitische Zusammenarbeit der Schweiz stark eingeschränkt würde, da auch die internationale Rüstungszusammenarbeit so noch stärker eingeschränkt würde. Die Verlässlichkeit der Schweiz als Lieferantin von Rüstungsgütern und -komponenten könnte im Ausland noch deutlicher in Frage gestellt werden, was die auf Ausfuhren angewiesene Schweizer Rüstungsindustrie zusätzlich schwächen würde. Dies hätte negative Folgen für die Versorgungssicherheit der Armee und somit für die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz.
⁴9 Siehe dazu z. B. Bericht des Bundesrates vom 24. Nov. 2021, BBl 2021 2895 ; Villiger, Mark E. (2023): Handbuch der schweizerischen Neutralität . Zürich: Schulthess, S. 216-217.
5⁰ BBl 2022 2357 S. 16-18
5¹ Villiger, Mark E. (2023): Handbuch der schweizerischen Neutralität . Zürich: Schulthess, S. 217, Rz. 462.
5² Neutralitätsbericht 2022, S. 23
4.2.2.4 Auswirkungen auf Sanktionspolitik
Sanktionen sind heute ein gewichtiges Instrument der Staaten, um auf Völkerrechtsverletzungen reagieren zu können. Der UNO-Sicherheitsrat ist im Zuge zunehmender Spannungen zwischen Grossmächten häufig blockiert oder gelähmt, weshalb es immer weniger neue Sanktionsregime der UNO gibt und bestehende teilweise nicht verlängert werden. Auch deshalb haben Sanktionen ausserhalb des UNO-Sicherheitsrates zugenommen. Ein Mittragen von international breit abgestützten Sanktionen liegt im Interesse der Schweiz, deren Mitwirkung für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung im Zweckartikel der BV verankert ist. Die von der Initiative geforderte Sanktionspolitik würde dies in Frage stellen. Der Bundesrat unterstreicht auch in der Aussenpolitischen Strategie 2024-2027, dass die Schweiz auch als neutraler Staat europäische Mitverantwortung wahrnehmen kann und will.
Das Embargogesetz verpflichtet den Bundesrat nicht zur Übernahme von Sanktionen («Kann-Vorschrift» in Art. 1 Abs. 1). Er entscheidet im Einzelfall darüber, ob die Schweiz beschlossene internationale Sanktionen ganz, teilweise oder gar nicht übernimmt. Jüngstes Beispiel sind die EU-Sanktionen gegen Russland, welche die Schweiz weitestgehend übernommen hat. Mit Annahme der Initiative wäre die Übernahme von Sanktionen der OSZE, der EU oder weiterer wichtiger Handelspartner gegenüber kriegsführenden Staaten ausgeschlossen. Konkret wäre folglich eine Übernahme von Sanktionen, wie sie seit Februar 2022 gegen Russland ergriffen werden, nicht mehr möglich.
Mit dem Verbot, bestimmte Sanktionen zu übernehmen, würde der Handlungsspielraum der Schweiz stark eingeschränkt, was dazu führen könnte, dass sie ihre eigenen kurz- und langfristigen wirtschaftlichen Interessen und ihre Reputation als glaubwürdige Verfechterin einer internationalen Ordnung, die sich stets für die Einhaltung und Durchsetzung des Völkerrechts einsetzte, nicht mehr oder nicht optimal wahren könnte. Würde die Schweiz als einziges Land Westeuropas Sanktionen der EU gegen kriegführende Staaten nicht mittragen, könnte dies neben Reputationsschäden mit aussen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Konsequenzen einhergehen.
Unklar ist, ob unter dem Regime der neuen Verfassungsbestimmung bereits früher angeordnete Embargomassnahmen weitergeführt werden dürften oder aufzuheben wären. So wäre beispielsweise unklar, was dies für die seit Februar 2022 gegen Russland ergriffenen Sanktionen bedeuten würde, also ob diese aufgehoben werden müssten oder ob einfach keine neuen Sanktionen übernommen werden könnten. Paradox wäre die Wirkung der Bestimmung bei Sanktionen, die von der EU übernommen wurden und die sich gegen einen Staat richten, der zum Zeitpunkt des Erlasses nicht an einem Krieg beteiligt war, später aber in einen solchen involviert ist. Dies könnte beispielsweise im Fall der islamischen Republik Iran so eintreten. Gegenüber Iran hat die Schweiz EU-Sanktionen seit 2007 verschiedentlich übernommen. Die Massnahmen wurden aufgrund der Aktivitäten Irans im Nuklearbereich und von Menschenrechtsverletzungen sowie im Zusammenhang mit Irans Unterstützung des russischen Angriffskriegs erlassen. Käme es beispielsweise zu einem Krieg zwischen Iran und Israel, müsste die Schweiz gemäss dem Initiativtext diese Sanktionen gegen Iran als neue Konfliktpartei unter Umständen mit Kriegsbeginn aufheben.
4.2.2.5 Auswirkungen auf die Friedenspolitik (Gute Dienste)
Auch das übergeordnete Ziel der Schweizer Sicherheitspolitik zu Frieden und Stabilität jenseits der Grenzen beizutragen und damit eine aktive Friedenspolitik zu verfolgen, wäre von der Initiative betroffen. Oftmals beinhaltet die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit auch friedensunterstützende Massnahmen und Einsätze. So beteiligt sich die Schweiz beispielsweise seit Oktober 1999 am von der Nato geführten friedensunterstützenden Einsatz der Kosovotruppen. Erst kürzlich wurde die Verlängerung dieser Beteiligung durch das Parlament bis Dezember 2026 genehmigt und damit politisch erneut bestätigt. Durch die Annahme der Initiative würde folglich auch die friedensfördernde Zusammenarbeit stark eingeschränkt, wenn nicht sogar verunmöglicht, was einer Abkehr von der bisherigen aktiven friedenspolitischen Praxis bedeuten würde.

4.3 Vorzüge und Mängel der Initiative

4.3.1 Vorzüge

Heute ist die Neutralität in der Verfassung enthalten, aber ohne inhaltliche Fixierung auf ein bestimmtes Verständnis. Mit der Annahme der Initiative würde dies verändert. Mit einer solchen Verankerung würde auch dem hohen Identifikationswert der Neutralität in der Bevölkerung Rechnung getragen. Umfragen zeigen aber auch, dass die Vorstellungen über den Inhalt der Neutralität und darüber, wie sie angewendet sein sollte, sehr unterschiedlich sind. Es ist daher fraglich, inwieweit die Festschreibung eines bestimmten Neutralitätsverständnisses im Interesse der Schweizer Bevölkerung liegt.

4.3.2 Mängel

Wie oben dargelegt, führt die Festschreibung eines bestimmten Verständnisses der Neutralität zu weniger Flexibilität, zu zahlreichen Auslegungsfragen und damit zu Unsicherheiten.
Ziel der Initiative ist gemäss Initiativkomitee, die schweizerische Neutralität zu wahren, sodass die Schweiz von allen Ländern dieser Welt als standhaft und verlässlich neutrales Land respektiert wird und als Vermittlerin zur Verfügung steht. Die Neutralität ist nur dann ein sinnvolles sicherheits- und aussenpolitisches Instrument, wenn sie international anerkannt und respektiert wird. Es ist allerdings fraglich, ob das Neutralitätsverständnis, das die Initiantinnen und Initianten festschreiben wollen, zu einer solchen Wahrnehmung der Schweiz führen würde. Damit die Neutralität der Schweiz von der Staatengemeinschaft respektiert wird, muss sie als nachvollziehbar und auch nützlich empfunden werden. Es braucht also Taten, die zeigen, dass die Schweiz einen Beitrag zur Aufrechterhaltung und Förderung der internationalen Ordnung leistet, auch wenn sie dies als neutraler Staat mit anderen Mitteln tut. Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Sie steht einer solidarischen und bekennenden Haltung zur internationalen Ordnung nicht entgegen, sei dies beispielsweise durch die Umsetzung von Sanktionsmassnahmen. Durch ein starres Neutralitätsverständnis wäre dies nicht mehr möglich, da die Neutralität bei aussenpolitischen Herausforderungen nur schwerfällig an neue Umstände angepasst werden könnte. Gerade in sicherheits- und wirtschaftspolitischen Angelegenheiten ist ein rasches Reagieren jedoch von grosser Bedeutung.
Die Initiative fordert, dass die Neutralität als immerwährend und bewaffnet in der Verfassung verankert wird. Gleichzeitig sieht sie starke Einschränkungen im Bereich der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit vor. Die weitreichenden Konsequenzen dieser Einschränkungen, sind oben aufgeführt. Das Ziel der bewaffneten Neutralität ist, dass der neutrale Staat seine Neutralität auch glaubwürdig durchsetzen kann. Dazu müssen militärische Kompetenzen und Ressourcen in einem bestimmten Umfang vorhanden sein. Wenn die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz aufgrund der eingeschränkten sicherheitspolitischen Kooperation abnimmt, kann sich mittel- bis langfristig die Frage stellen, ob noch hinreichend militärische Kompetenzen und Ressourcen vorhanden sind, um eben die Neutralität auch durchsetzen zu können. Insofern besteht hier ein Zielkonflikt innerhalb des Initiativtextes.
Im Bereich der Sanktionspolitik sieht die Initiative vor, dass Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von Sanktionen anderer Staaten weiterhin möglich sein sollen. Gerade das Beispiel des Sanktionsregimes der EU gegenüber Russland zeigt eindrücklich, dass moderne Sanktionsregime umfassend und komplex sind. Die Identifizierung von Massnahmen, um eine Umgehung von komplexen Sanktionsregimen zu verhindern sowie die Überwachung der Einhaltung, wäre eine Herkules-Aufgabe für die Schweiz. Um Sanktionsumgehungen effektiv zu verhindern, müssten die entsprechenden Massnahmen ihrerseits umfassend sein. Wären die von der Schweiz ergriffenen Massnahmen nicht ausreichend, drohten Umgehungsgeschäfte über die Schweiz. Ein solches Vorgehen würde bei den wichtigsten Handelspartnern auf Unverständnis stossen und hätte voraussichtlich negative politische und wirtschaftliche Auswirkungen auf die Beziehungen der Schweiz zu diesen Handelspartnern. Angesichts dieser Notwendigkeit für komplexe Umgehungsverhinderungs-Massnahmen scheint es unwahrscheinlich, dass ein sanktionierter Staat seinerseits noch eine Unterscheidung trifft, ob die Schweiz das Sanktionsregime übernommen hat oder ein eigenes Umgehungsverhinderungsregime pflegt. Entsprechend wäre dies mit negativen Reaktionen für die Schweiz von allen Seiten verbunden.

4.4 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Die Initiative tangiert keine völkerrechtlichen Verträge oder Verpflichtungen. Sie steht insbesondere im Einklang mit dem Neutralitätsrecht und den Verpflichtungen der Schweiz, die aufgrund ihrer UNO-Mitgliedschaft bestehen.

5 Schlussfolgerungen

Die obigen Ausführungen zeigen, dass die Initiative teilweise ohnehin der bundesrätlichen Praxis entspricht und teilweise gewichtige Abweichungen mit sich bringt, die negative Auswirkungen auf die Sicherheits-, Wirtschafts- und Aussenpolitik der Schweiz haben. Nachteilig ist insbesondere die starre Verankerung eines bestimmten Neutralitätsverständnisses in der Bundesverfassung. Gerade im heutigen volatilen internationalen Umfeld braucht es für die Wahrung der Schweizer Landesinteressen eine flexible Handhabe der Neutralität im Rahmen der geltenden völkerrechtlichen Vorgaben. Dies stellt die seit 175 Jahren bewährte verfassungsrechtliche Regelung sicher und diese sollte deshalb nicht verändert werden.
Zusammenfassend beantragt der Bundesrat deshalb, die Initiative Volk und Ständen zur Ablehnung ohne direkten Gegenentwurf und ohne indirekten Gegenvorschlag zu empfehlen. Dies aus den folgenden Gründen:
-
Die 175-jährige, bewährte Neutralitätspraxis kann und soll weitergeführt werden.
-
Die Handhabe der Neutralität bleibt im Rahmen der völkerrechtlichen Vorgaben anpassbar an veränderte Umstände und lässt Spielraum für die Wahrung der Schweizer Interessen.
-
Neutralität bleibt ein Instrument der Schweizer Sicherheits- und Aussenpolitik. Die Schweiz bestätigt ihre Wahrnehmung als verlässliche und berechenbare Partnerin, weil sie aussenpolitisch nicht von ihrem Kurs abkehrt.
-
Es gibt keine Neuausrichtung der Sanktionspolitik mit aussen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Konsequenzen. Die Reputation der Schweiz als glaubwürdige Verfechterin einer internationalen Ordnung bleibt bestehen. Es stellen sich keine Unsicherheiten bei der Übernahme von Sanktionen und die Schweiz muss nicht eigenständig komplizierte Regelungen gegen Umgehungsgeschäfte erlassen und durchsetzen.
-
Es kommt zu keiner Schwächung der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz durch eingeschränkte Möglichkeiten sicherheitspolitischer Kooperation und Austausche und damit zu keinem Widerspruch zur bewaffneten Neutralität.
-
Keine Schwächung des Rüstungsstandorts Schweiz durch Einschränkungen der internationalen Zusammenarbeit.
Da die nachteiligen Auswirkungen der Initiative überwiegen, ist weder ein direkter Gegenentwurf noch ein indirekter Gegenvorschlag zielführend. Damit würde signalisiert werden, dass der Bundesrat die Stossrichtung der Initiative mindestens teilweise befürwortet und einen Handlungsbedarf anerkennt.
Bundesrecht
Botschaft zur Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)»
keyboard_arrow_up
Markierungen
Leseansicht