Botschaft zum Bundesbeschluss über die Einführung einer Kompetenz des Bundes im Bereich der Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden bei Erdbeben
Botschaft zum Bundesbeschluss über die Einführung einer Kompetenz des Bundes im Bereich der Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden bei Erdbeben
vom 13. Dezember 2024
Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf zur Einführung einer Bundeskompetenz im Bereich der Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden bei Erdbeben.
Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben:
| 2021 | M | 20.4329 | Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung (S 10.3.2021, Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie SR; N 22.9.2021) |
Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 13. Dezember 2024 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Übersicht
Mit dieser Vorlage erfüllt der Bundesrat die Forderung des Parlaments aus der Motion 20.4329, in der Schweiz die finanzielle Vorsorge von Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern im Fall eines Erdbebens zu stärken und die notwendigen Rechtsgrundlagen dafür zu schaffen. Aufgrund der fehlenden Kompetenz des Bundes, eine schweizweite Regelung zur Finanzierung der Behebung von Erdbebenschäden zu erlassen, sieht die vorgeschlagene Lösung eine Änderung der Bundesverfassung vor. Der Bundesrat beabsichtigt, zuerst das Ergebnis der Parla ments debatten und der Volksabstimmung zur Verfassungsänderung abzuwarten, bevor die Ausführungsbestimmungen erarbeitet werden. Um eine bessere Meinungsbildung im politischen Prozess zu ermöglichen, enthält die Vorlage mögliche Eckwerte für die Umsetzung auf Gesetzesebene.
Inhalt der Vorlage
Der Bund soll gemäss der vorgeschlagenen Änderung der Bundesverfassung die Kompetenz erhalten, nach einem Schadenbeben von den Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern zur Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden einen bestimmten Beitrag zu erheben. Mit dem vorgeschlagenen Finanzierungsinstrument würden keine Zahlungen anfallen, solange sich kein Erdbeben ereignet hat, das zu namhaften Schäden an Gebäuden führt. Im Fall eines entsprechenden Schadenbebens wären Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer in der Schweiz jedoch verpflichtet, einen Beitrag von höchstens 0,7 Prozent der Gebäudeversicherungssumme zweckgebunden einzubringen, um betroffene Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer zu entschädigen und dadurch einen raschen Wiederaufbau zu ermöglichen. Ohne die Verfassungsänderung kann die vom Parlament überwiesene Motion der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Ständerates 20.4329 «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung» nicht umgesetzt werden.
Aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit und der Ergebnisse der neueren Forschung lässt sich festhalten, dass auf dem gesamten besiedelten Gebiet der Schweiz ein Erdbebenrisiko besteht. Dieses Risiko wird durch mehrere, regional unterschiedliche Faktoren beeinflusst und ist gemäss dem Schweizerischen Erdbebendienst in den Kantonen Basel-Stadt, Bern, Waadt, Wallis und Zürich am grössten. Modellrechnungen des Schweizerischen Erdbebendienstes haben ergeben, dass bei einer Wiederholung eines Erdbebens der Stärke des Basler Bebens von 1356 mit einer Magnitude von 6,6 in der Nordwestschweiz mit etwa 3000 Toten und Gebäudeschäden im Umfang von ungefähr 45 Milliarden Franken zu rechnen wäre. In der Schweiz sind nur rund 15 Prozent aller Gebäude gegen Schäden durch Erdbeben versichert. Die private Eigenvorsorge und die Anstrengungen der kantonalen Gebäudeversicherer haben bislang nicht zu einer flächendeckenden und angemessenen Absicherung vor Erdbebenrisiken geführt. Bei einem schwerwiegenden Erdbeben bedeutet dies heute hohe oder existenzbedrohende Kosten für die nicht Versicherten und allfällige hohe Kosten für die Steuerzahlerinnen und -zahler oder einen Anstieg der Staatsverschuldung. Der Wiederaufbau nimmt ohne eine nationale Regelung der Finanzierung auch längere Zeit in Anspruch. Für Schäden an der öffentlichen Infrastruktur wie den Strassen müsste der Staat aufkommen. Die Finanzierung der Behebung von Schäden an privaten Gebäuden sollte nach Ansicht des Bundesrates hingegen in der Verantwortung der Gebäudeeigentümerinnen und Gebäudeeigentümer liegen und nicht durch Mittel der öffentlichen Hand erfolgen. Mit der vorgeschlagenen Regelung der Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden werden diese Kosten solidarisch allen Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern überantwortet. Ausserdem soll ein rascherer Wiederaufbau der betroffenen Regionen ermöglicht und damit der wirtschaftliche Schaden so gering wie möglich gehalten werden.
Botschaft
1 Ausgangslage
1.1 Handlungsbedarf und Ziele
Die am 10. März 2021 vom Ständerat und am 22. September 2021 vom Nationalrat angenommene Motion 20.4329 der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Ständerates (UREK-S) «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung» beauftragt den Bundesrat, «die verfassungsrechtlichen und/oder gesetzlichen Grundlagen für die Schaffung einer Schweizerischen Erdbebenversicherung mittels einem System der Eventualverpflichtung zu schaffen». Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer sollen verpflichtet werden, im Fall eines Erdbebens mit Schadenfolgen einen gewissen limitierten Prozentsatz des Gebäudeversicherungswerts ihrer Liegenschaft zweckgebunden für den Wiederaufbau von zerstörten oder beschädigten Gebäuden einzubringen (vgl. auch Ziff. 1.2).
Die Einführung eines solchen Systems zur Finanzierung der Behebung von Erdbebenschäden ist eine staatliche Massnahme im Rahmen des Umgangs mit Erdbeben als Naturgefahr. Die Anordnung von Massnahmen zur Bewältigung von Naturgefahren und zur Erdbebenvorsorge ist heute Sache der Kantone. Dem Bund fehlt die notwendige verfassungsmässige Kompetenz im Bereich der Bewältigung von Naturgefahren allgemein und im Bereich Erdbeben im Speziellen. Die Einführung einer Verpflichtung der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer zur kollektiven Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden nach einem Erdbeben setzt somit die Schaffung einer entsprechenden Grundlage in der Bundesverfassung (BV) ¹ voraus (vgl. auch Ziff. 3.1).
Der Bundesrat erfüllt mit dieser Vorlage den Auftrag des Parlaments, mindert die finanziellen Auswirkungen für von Schäden im Zusammenhang mit einem Grossrisiko betroffene Gebäudeeigentümerinnen und Gebäudeeigentümer (insbesondere diejenigen ohne Versicherung) und soll dazu beitragen, den rascheren Wiederaufbau nach einem Erdbeben zu ermöglichen.
¹ SR 101
1.2 Motion 20.4329 der UREK-S «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung»
Mit der Motion 20.4329 wird der Bundesrat beauftragt, «[…] die verfassungsrechtlichen und/oder gesetzlichen Grundlagen für die Schaffung einer Schweizerischen Erdbebenversicherung mittels einem System der Eventualverpflichtung zu schaffen.» Entsprechend den Ausführungen im Motionstext sollen Hauseigentümerinnen und -eigentümer «[…] verpflichtet werden, im Falle eines Schadenbebens (d. h. ein Erdbeben mit Schadenfolgen) einen bestimmten Prozentsatz des Versicherungswerts ihres Gebäudes als Einmalprämie in ein gemeinschaftliches Gefäss / Versicherung einzubringen. Diese Eventualverpflichtung müsste mittels Grundbucheintrag dinglich abgesichert werden.» Die Einführung einer öffentlich-rechtlichen Grundlast könnte auf zivilgesetzlicher Ebene, z. B. im Zivilgesetzbuch (ZGB) ² , festgelegt werden. Gemäss Motionstext sollen diese Mittel zudem zweckgebunden für die Bewältigung der Folgen eines Erdbebens (Wiederherstellungskosten an beschädigten oder zerstörten Gebäuden) eingesetzt werden.
Der Bundesrat hat am 3. Februar 2021 mit Verweis auf die in breiten Kreisen weiterbestehenden staatspolitischen und ökonomischen Bedenken die Ablehnung der Motion beantragt. Die Motion wurde aber am 10. März 2021 vom Ständerat und am 22. September 2021 vom Nationalrat angenommen.
² SR 210
1.3 Frühere Vorschläge
Bisher sind sowohl auf privatwirtschaftlicher als auch auf politischer Ebene sämtliche Projekte zur Stärkung einer schweizweiten, obligatorischen Vorsorge für die Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden im Fall eines Erdbebens gescheitert. Die Einführung einer obligatorischen Erdbebenversicherung war im Parlament nicht mehrheitsfähig: So hat das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) basierend auf der vom Parlament am 14. März 2012 überwiesenen Motion Fournier 11.3511 «Obligatorische Erdbebenversicherung» im Bericht vom 18. Juli 2013 ³ «Erdbebenversicherung - Vorschläge für eine Regelung» die Grundlagen erarbeitet für die Schaffung einer landesweiten obligatorischen Versicherung von Gebäuden gegen Schäden, die durch Erdbeben verursacht werden. Mit dem Bericht vom 20. Juni 2014 ⁴ beantragte der Bundesrat dem Parlament die Abschreibung der Motion Fournier 11.3511. Die Motion wurde vom Nationalrat am 22. September 2021 abgeschrieben. Der Ständerat hingegen hat am 12. Juni 2018 die Abschreibung abgelehnt. Ein kantonales Konkordat kam ebenfalls nicht zustande: So sprach sich die Mehrheit der Kantone nach einer Anfrage der UREK-S vom 29. Januar 2016 an die Konferenz der Kantonsregierungen - unter gewissen Bedingungen - für die Realisierung einer auf einem kantonalen Konkordat basierenden obligatorischen Erdbebenversicherung aus, das dafür notwendige Quorum wurde allerdings nicht erreicht. Das Parlament lehnte zudem wiederholt Vorstösse ab, die eine Deckung von Erdbebenschäden unter Einbezug der Privatversicherungen und der kantonalen Gebäudeversicherungen verlangten. ⁵ Ein Hauptargument gegen eine obligatorische Versicherung waren die anfallenden Prämienzahlungen, die womöglich über Jahrzehnte geleistet werden müssten, ohne dass es zu einem Schadenereignis kommt und der Versicherungsfall eintritt. Auch könnten von der Versicherungsleistung unter Umständen erst zukünftige Generationen profitieren und nicht die gegenwärtigen Prämienzahlerinnen und -zahler.
³ Abrufbar unter www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilung vom 18. Juli 2013 «Informelle Konsultation zu Vorschlägen für landesweite obligatorische Erdbebenversicherung».
⁴ BBl 2014 5507
⁵ Z. B. Motion 10.3804 Leutenegger Oberholzer «Erdbebenversicherung», parlamentarische Initiative 11.416 Leutenegger Oberholzer «Obligatorische Erdbebenversicherung», Motion 11.3377 Malama «Einführung einer obligatorischen Erdbebenversicherung», Standesinitiative 15.310 des Kantons Basel-Stadt «Einführung einer eidgenössischen Erdbebenversicherung».
1.4 Gewählte Lösung
Ein Erdbeben mit Schadenfolgen ist selten, lässt sich aber ebenso wenig verhindern wie die potenziell sehr hohen Kosten zur Behebung der Schäden. Diese Schäden gilt es zudem möglichst rasch zu beheben, um länger dauernde negative Auswirkungen auf die Bevölkerung und Wirtschaft zu vermeiden. Entsprechend stellt sich die Frage, wie die Wiederaufbaukosten getragen werden können, sodass der längerfristige volkswirtschaftliche Schaden beispielsweise durch Ausfälle in der Produktion oder Abwanderungen von Unternehmen und Arbeitskräften möglichst gering ausfällt. Zwar können auf dem privaten Markt Erdbebenversicherungen heute erworben werden. Allerdings hat nur eine geringe Zahl von Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern eine private Erdbebenversicherung abgeschlossen. Zudem hat nur der Kanton Zürich in der Gebäudeversicherung das Erdbebenrisiko in einem begrenzten Umfang abgedeckt. Die politische Diskussion in den letzten Jahren hat derweil gezeigt, dass eine obligatorische Versicherungslösung mit jährlichen Prämienzahlungen keine Akzeptanz findet (vgl. Ziff. 1.3). Ohne eine Finanzierungslösung ist im Fall eines schwerwiegenden Erdbebens mit grossem politischem Druck zu rechnen, öffentliche Mittel einzusetzen. Die Unwetterschäden 2024 in Millionenhöhe und die Mitfinanzierung der Reparaturen und Präventionsmassnahmen durch den Bund sind beispielhaft.
Mit dieser Vorlage soll dem Bund auf Verfassungsebene die Kompetenz erteilt werden, ein solidarisches System der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer - bei regional ungleicher Eintretenswahrscheinlichkeit und ungleicher Wertekonzentration, ungleicher Beschaffenheit des Untergrunds und somit unterschiedlichen Kostenfolgen (vgl. Ziff. 1.7) - zur Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden im Fall von Erdbeben einzuführen. Im Unterschied zur Versicherungslösung mit Prämienzahlung bietet dieser Ansatz den Vorteil, dass nur im Schadensfall Zahlungen anfallen. Unveränderbar ist die ungleiche Verteilung der in Ziffer 1.7 genannten Risikofaktoren bei Erdbeben in der Schweiz.
Die Umsetzung dieser Lösung setzt eine Änderung der BV voraus. Ein solches System kommt ohne jährliche Belastung für Haushalte und Unternehmen für Prämienzahlungen aus und deckt Erdbebenrisiken abhängig von der Ausgestaltung praktisch flächendeckend ab. Letzteres bildet eine wichtige Voraussetzung für einen raschen Wiederaufbau.
Die weiteren Bestimmungen zur Umsetzung der Motion 20.4329 werden auf Gesetzesstufe zu regeln sein. Bevor umfangreiche Arbeiten gestartet und diese Gesetzesbestimmungen detailliert ausgearbeitet werden, soll nach Ansicht des Bundesrates zunächst die Grundsatzfrage vom Parlament sowie Volk und Ständen geklärt werden, ob der Bund die notwendige Kompetenz erhalten soll. Um eine bessere Meinungsbildung im politischen Prozess zu ermöglichen, werden mögliche Eckwerte zur Umsetzung auf Gesetzesebene in Ziffer 3.3 dargestellt.
Bei der Umsetzung der Motion 20.4329 stellt sich im Gegensatz zu früheren Vorschlägen (vgl. Ziff. 1.3) die Frage der Zahlungsbereitschaft und der Generationengerechtigkeit nicht, da es sich um eine Ex-post-Finanzierung der Behebung der Erdbebenschäden handeln würde, die ohne laufende Prämienzahlungen funktioniert.
1.5 Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates
Die Vorlage ist in der Botschaft vom 24. Januar 2024 ⁶ zur Legislaturplanung 2023-2027 und im Bundesbeschluss vom 6. Juni 2024 ⁷ über die Legislaturplanung 2023-2027 angekündigt.
⁶ BBl 2024 525
⁷ BBl 2024 1440
1.6 Erledigung parlamentarischer Vorstösse
Mit der vorliegenden Vorlage wird die verfassungsmässige Voraussetzung geschaffen, um die Motion 20.4329 der UREK-S «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung» vom 3. November 2020 umzusetzen. Die Motion kann daher abgeschrieben werden.
1.7 Erdbebenrisiko in der Schweiz
Erdbeben zählen gemäss der Nationalen Risikoanalyse ⁸ des Bundesamts für Bevölkerungsschutz (BABS) neben Pandemien und Strommangellagen zu den grössten Risiken der Schweiz bezüglich der zu erwartenden Schäden. Im Vergleich zu anderen Naturgefahren treten sie zwar seltener auf, können aber so hohe wirtschaftliche Schäden verursachen, dass die Volkswirtschaft mittel- oder langfristig geschwächt wird.
Generell sind für die finanzielle Einschätzung eines Verlusts, etwa durch eine Naturgefahr, der potenzielle finanzielle Schaden, die Eintretenswahrscheinlichkeit des Ereignisses sowie weitere spezifische Risikofaktoren relevant. Mit einer Diebstahlversicherung sichert man sich beispielsweise vor einem möglichen finanziellen Verlust im Fall eines Einbruchs ab, auch wenn ein solcher objektiv betrachtet eher unwahrscheinlich ist. Der erwartete finanzielle Schaden berücksichtigt das maximale Schadensausmass und die Eintretenswahrscheinlichkeit.
Im Fall von Erdbeben wird hierzu das Erdbebenrisiko beigezogen. Es beziffert in Franken die möglichen Auswirkungen von Erdbeben auf Gebäude sowie die damit verbundenen menschlichen und finanziellen Verluste. Es wird durch mehrere Faktoren bestimmt: Die Erdbebengefährdung, die Bauweise der Gebäude, die Beschaffenheit des Untergrunds und vor allem auch die Wertekonzentration und Bevölkerungsdichte. Das Risiko verteilt sich dabei nicht gleichmässig über die Zeit, sondern ist durch seltene, katastrophale Erdbeben dominiert, die meistens ohne Vorwarnung auftreten. In der vorliegenden Botschaft wird der Begriff «Erdbebenrisiko» stets gemäss dieser umfassenden Definition verwendet; es werden also alle vier nachfolgend erläuterten Faktoren kombiniert betrachtet; und die Eintretenswahrscheinlichkeit beispielsweise wird also nicht als allein relevant für die Frage der Risikogemeinschaft «Schweiz» angeführt. Gewisse Regionen zeichnen sich durch höhere Eintretenswahrscheinlichkeit und hohe Folgekosten aus (z. B. Basel), andere durch höhere Eintretenswahrscheinlichkeit, aber weniger hohe Folgekosten (z. B. Wallis), wiederum andere durch eine niedrige Eintretenswahrscheinlichkeit, aber sehr hohe Folgekosten (z. B. Zürich).
Faktoren des Erdbebenrisikos gemäss Schweizerischem Erdbebendienst
Der Schweizerische Erdbebendienst (SED) hat im März 2023 erstmals ein wissenschaftlich fundiertes Modell zur Abschätzung der Erdbebenrisiken in der Schweiz präsentiert, das die folgenden Faktoren nach aktuellem Stand des Wissens berücksichtigt:
-
Erdbebengefährdung: In der Schweiz bebt die Erde gemäss SED durchschnittlich 1000-1500Mal pro Jahr. Allerdings sind nur ungefähr 20 dieser Beben für die Bevölkerung spürbar. Ab einer Magnitude 5 ist lokal mit kleinen bis mittleren Gebäudeschäden, unter Umständen auch mit grösseren Sachschäden, zu rechnen. Ein solches Beben tritt durchschnittlich alle 8-15 Jahre auf. Ein lokales Schadenbeben der Magnitude 5,5 hat in der Schweiz eine statistische Wiederkehrperiode von etwa 30 Jahren. Für ein regionales Erdbeben mit einer Magnitude 6 liegt die statistische Wiederkehrperiode bei 50-150 Jahren und für ein noch stärker zerstörerisches Erdbeben der Magnitude 7 bei etwa 1000 Jahren. Statistisch betrachtet geschieht damit gemäss SED zur Lebzeit jeder Person in der Schweiz mindestens ein Erdbeben, das ernste Schäden verursacht. Seit dem 13. Jahrhundert haben sich in der Schweiz zwölf dokumentierte Erdbeben mit grossen Schadenfolgen ereignet. Beispiele sind die Erdbeben im Kanton Obwalden von 1964 (Magnitude 5,3), das Erdbeben von Siders von 1946 (Magnitude 5,8) und das Erdbeben von Basel von 1356 (geschätzte Magnitude 6,6). Eine erhöhte Gefährdung besteht im Wallis, in der Region Basel, im St. Galler Rheintal, im Berner Oberland, im Engadin sowie in der Zentralschweiz. Erdbeben können jedoch, wenn auch jeweils in ihrer geografischen Ausdehnung begrenzt, überall in der Schweiz auftreten und grosse Schäden verursachen, wobei deren geografische Ausdehnung je nach Magnitude unterschiedlich gross ist. Es ist nicht zu erwarten, dass grosse Schäden überall in der Schweiz gleichzeitig auftreten. Abbildung 1 stellt zur Verdeutlichung die Wahrscheinlichkeit dar, dass innerhalb von fünfzig Jahren im Umkreis von 50 km ein regionales Erdbeben der Magnitude 6 oder höher eintritt. Diese Wahrscheinlichkeit liegt gemäss SED im Durchschnitt für die Schweiz bei 6 Prozent, im Minimum bei 2 Prozent und im Maximum bei 13 Prozent. Bei einem Erdbeben mit einer Magnitude von 6 sind mittlere bis schwere Schäden in weiten Gebieten zu erwarten. Die erwartete Schadensumme bei einem Erdbeben ähnlicher Stärke ist in Abbildung 4 und in Tabelle 1 im mittleren von drei Szenarien unter Berücksichtigung der weiteren Faktoren aufgeführt.
⁸ Vgl. www.babs.admin.ch > Weitere Aufgabenfelder > Gefährdung und Risiken > Nationale Risikoanalyse
Abbildung 1
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Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens der Magnitude 6 oder grösser im Umkreis von 50 km innerhalb von fünfzig Jahren. Quelle: SED.
-
Bauweise von Gebäuden: Die Bauweise von Gebäuden ist ein vom Menschen beinflussbarer Faktor. Da moderne Baunormen zur Erdbebensicherheit in der Schweiz erst 1989 eingeführt wurden und erst ab der Aktualisierung in 2003 breit angewandt wurden, ist heute bei der Mehrzahl der bestehenden Bauten und Anlagen in der Schweiz die Erdbebensicherheit nicht bekannt. Zudem können Bauten trotz Anwendung der Baunormen bei Erschütterungen substanziell bis total beschädigt werden. Erdbebensicheres Bauen schützt deshalb nicht absolut vor Vermögensschäden. Die Bauten, die normgemäss gebaut werden, sollten aber nicht einstürzen und
dadurch Menschen gefährden. Die relativ hohe Verletzbarkeit der bestehenden Bauten führt dazu, dass im Ereignisfall erhebliche Schäden zu erwarten sind.
-
Beschaffenheit des Untergrunds: Ein weicher Untergrund kann Erdbebenwellen verstärken und so die Wahrscheinlichkeit von Schäden erhöhen. Erdbebenerschütterungen in Ortschaften auf weichen Sedimenten oder in Tälern sowie an Seen können deshalb gemäss SED bis zehnmal stärker ausfallen als an einem Standort auf felsigem Untergrund (vgl. Abbildung 2 ). Dieser Verstärkungseffekt kann entsprechend in einer Risikobetrachtung eine lokal tiefere Gefährdung kompensieren und ist mit der Wertekonzentration auch ein Grund für das höhere Erdbebenrisiko in Städten wie Genf oder Zürich (vgl. Abbildung 3 ).
Abbildung 2
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Verstärkung durch den Untergrund. Quelle: SED.
-
Wertekonzentration und Bevölkerungsdichte: Ein Erdbeben in einem relativ dünn besiedelten Gebiet, zum Beispiel im alpinen Gebiet, ist in der Regel mit weniger Schäden verbunden als ein vergleichbares Erdbeben in einer stark besiedelten Umgebung. Das Erdbebenrisiko ist deshalb in der Regel grösser in Gebieten, in denen sich Personen und Werte konzentrieren, obschon diese Gebiete in der Schweiz, mit Ausnahme von Basel, mehrheitlich in den Zonen mit einer tieferen Gefährdung liegen.
Geschätztes Erdbebenrisiko und mögliche Schadenszenarien
Basierend auf den Ergebnissen der Erdbebenrisikokarte in Abbildung 3 konnten 2023 erstmals die Folgen von Erdbeben in der Schweiz grob beziffert werden. Über einen Zeitraum von 100 Jahren können Erdbeben in der gesamten Schweiz allein an Gebäuden und deren Inhalten einen wirtschaftlichen Schaden von 11-44 Milliarden Franken verursachen.
Die grössten Erdbebenrisiken resultieren in den städtischen Gebieten, insbesondere in Basel, Genf, Zürich, Luzern und Bern. Die grössten finanziellen Verluste aufgrund von Gebäudeschäden infolge von Erdbeben sind in den Kantonen Basel-Stadt, Bern, Waadt, Wallis und Zürich zu erwarten. Auf sie entfallen rund die Hälfte der erwarteten finanziellen Verluste. Modellrechnungen des SED haben zudem ergeben, dass bei einer Wiederholung des Basler Bebens von 1356 mit einer Magnitude von 6,6 in der Schweiz mit etwa 3000 Toten und Gebäudeschäden - ohne den Inhalt der Gebäude - im Umfang von ungefähr 45 Milliarden Franken zu rechnen wäre. Tabelle 1 und Abbildung 4 zeigen dieses Szenario und seine Folgen sowie zwei weitere Szenarien für geringere Magnituden.
Abbildung 3
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Erdbebenrisikokarte. Die in der Erdbebenrisikokarte angegebenen Werte beziehen sich jeweils auf eine Fläche von 2 x 2 Kilometern. Quelle: SED.
Tabelle 1
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| Erdbebenszenario | sehr gross | gross | mittel |
|---|---|---|---|
| Anzahl beschädigte Gebäude und Schadensumme | 240 000 / 45 Mia. Fr. | 85 000 / 12 Mia. Fr. | 7000 / 0,6 Mia. Fr. |
| Schadensumme Infrastruktur | 9 Mia. Fr. | 2,4 Mia. Fr. | 0,12 Mia. Fr. |
| Anzahl langfristig Obdachlose | 200 000 | 50 000 | 3000 |
Erdbebenszenarien und ihre Auswirkungen auf Gebäudeschäden, Infrastruktur und Obdachlose gemäss Erdbebenrisikomodell Schweiz des SED, Quelle: Bundesamt für Umwelt (BAFU).
Abbildung 4
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Schadenszenarien und entsprechende makroseismische Intensität gemäss Erdbebenrisikomodell Schweiz des SED. Quelle: Bundesamt für Umwelt (BAFU).
2 Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren
Der Bericht der 2022 vom Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) eingesetzten Arbeitsgruppe «Finanzierung von Gebäudeschäden im Falle eines Erdbebens» bildete die Grundlage, auf der die Vernehmlassungsvorlage erarbeitet wurde. ⁹ In der Arbeitsgruppe waren Experten und Expertinnen sowie der private und der öffentliche Sektor vertreten. Der Bericht erörtert das Erdbebenrisiko in der Schweiz und beschreibt den Stand der technischen, organisatorischen und finanziellen Vorbereitung auf ein mögliches Erdbebenereignis. Er zeigt zudem eine Umsetzungslösung auf, wie Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer im Fall eines Erdbebens mit Schadenfolgen, im Sinne der Motion 20.4329 verpflichtet werden könnten, einen gewissen nach oben begrenzten Prozentsatz des Gebäudeversicherungswerts ihrer Liegenschaft zweckgebunden für den Wiederaufbau von zerstörten oder beschädigten Gebäuden einzubringen und welche rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssten.
Vom 8. Dezember 2023 bis zum 22. März 2024 war die Vorlage Gegenstand einer Vernehmlassung, zu der insgesamt 68 Stellungnahmen eingegangen sind. 1⁰ Am 21. August 2024 hat der Bundesrat die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis genommen und die Eckwerte für die vorliegende Botschaft festgelegt.
Der Vorentwurf für eine neue Verfassungskompetenz des Bundes im Bereich der Erdbebenvorsorge erhielt in der Vernehmlassung von 42 der 68 Stellungnehmenden Unterstützung. Insbesondere haben bis auf die Kantone Appenzell Ausserrhoden, Neuenburg, Schwyz und Zug alle Kantone und die Regierungskonferenz Militär, Zivilschutz und Feuerwehr (RK MZF) der Vorlage grundsätzlich zugestimmt. Die RK MZF sowie die Kantone Appenzell Innerrhoden, Glarus, Schaffhausen, Solothurn, St. Gallen, Thurgau und Zürich sowie der Gemeindeverband (SGV) lehnten jedoch eine Kompetenz des Bundes im Bereich der Erdbebenvorsorge als zu weitgehend ab.
Der Bundesrat hat am 21. August 2024 beschlossen, auf die Bedenken der Kantone einzugehen und schlägt deshalb vor, auf eine zusätzliche Bundeskompetenz, die über die Kernforderung der Motion 20.4329 hinausgehen würde, zu verzichten. Der Bundesrat erachtete ursprünglich im Umgang mit Erdbebenrisiken einen integralen Ansatz als angemessen: Neben der Finanzierung der Behebung von Erdbebenschäden an Gebäuden sollten Schäden mittels geeigneter Präventionsmassnahmen möglichst vermieden werden. Der Bund sollte deshalb die Kompetenz erhalten, zum einen Vorschriften zu erlassen, die auf den Schutz von Personen und Sachwerten im Fall eines Erdbebens abzielen, und zum anderen nach einem Schadenbeben von den Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern zur Finanzierung der Behebung der Gebäudeschäden einen bestimmten Beitrag zu erheben. Der Bundesrat ist weiterhin überzeugt, dass die Erdbebenvorsorge zur Vermeidung von Schäden grundsätzlich ein wichtiges Element bleiben soll. Er vertraut nun aber darauf, dass die Kantone ihre diesbezügliche Kompetenz flächendeckend wahrnehmen, sodass schweizweit bauliche Mindestanforderungen bezüglich Erdbebensicherheit gelten. Dabei kann auf die risikoorientierte Vorgehensweise insbesondere mit einer Bagatellfallregelung gemäss den Empfehlungen der Bau-, Planungs- und Umweltdirektorenkonferenz (BPUK) vom 19. September 2024 1¹ zur Berücksichtigung der Erdbebensicherheit in der Baugesetzgebung und dem Baubewilligungsverfahren abgestellt werden. Diese Empfehlungen sollen gemäss einer Absichtserklärung der BPUK in allen Kantonen mit Regierungsbeschlüssen verabschiedet werden. Damit würden die Kantone ihren Willen zum Ausdruck bringen, für eine flächendeckende Umsetzung der baulichen Mindestanforderungen zu sorgen. Es kann zudem festgehalten werden, dass die Erdbebenvorschriften der Baunormen des Schweizerischen Vereins für Ingenieure und Architekten (SIA) bereits heute breit angewendet werden.
⁹ Vgl. Schlussbericht vom 26. Aug. 2022 der Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Motion 20.4329 «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung», Kap. 3, abrufbar unter: www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilung vom 9. Nov. 2022 «Der Bundesrat gibt Grundlagen für die Finanzierung von Gebäudeschäden im Fall eines Erdbebens in Auftrag».
1⁰ Die Vernehmlassungsunterlagen und der Ergebnisbericht sind abrufbar unter: www.fedlex.admin.ch > Vernehmlassungen > abgeschlossene Vernehmlassungen > 2023 > EFD > 2023/34.
1¹ Abrufbar unter: www.bafu.admin.ch > Themen > Thema Naturgefahren > Fachinformationen Erdbeben > Schutz vor Erdbeben > Erdbebengerechtes Bauen > Baubewilligungsverfahren.
3 Grundzüge der Vorlage und Erläuterungen zum Artikel
3.1 Die beantragte Neuregelung
Die Anordnung einer Finanzierung der Behebung von Erdbebenschäden durch den Bund - wie mit der Motion 20.4329 verlangt - setzt voraus, dass dieser über eine entsprechende Kompetenz in der BV verfügt. Dies ist heute weder im Bereich Erdbeben noch allgemein im Bereich des Schutzes vor Naturgefahren der Fall. ¹2 Insbesondere reichen dazu auch die Kompetenzen des Bundes zum Erlass von Vorschriften über die innere Sicherheit (Art. 57 ff. BV), das Privatversicherungswesen (Art. 98 Abs. 3 BV), die Konjunkturpolitik (Art. 100 BV), die Strukturpolitik (Art. 103 BV) oder das Zivilrecht (Art. 122 BV) nicht aus. ¹3
Heute könnte aufgrund der fehlenden Bundeskompetenzen im Fall eines schwerwiegenden Erdbebens die Anwendung von Not- oder Dringlichkeitsrecht zur Diskussion stehen. Diesem Ansinnen wären jedoch - wie nachfolgend erläutert - enge Grenzen gesetzt. Bei Erdbeben handelt es sich um eine typische und erkennbare Gefahr, die nicht abgewendet werden kann. ¹4 Die zur Katastrophenbewältigung erforderlichen Schutzmassnahmen sind entsprechend bereits in der Normallage absehbar und müssten vor dem Eintritt der befürchteten Gefahr geschaffen und als ordentliches Recht erlassen werden. Die Rechtsetzung soll krisenfest ausgestaltet werden. ¹5 Es gehört zur Aufgabe der rechtsetzenden Behörden, Krisen mit ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensschwere so gut wie möglich zu antizipieren und sie im Rahmen der ordentlichen Verfassungs- und Gesetzgebungsverfahren zu berücksichtigen. Verfassungsunmittelbares Notrecht kommt nur subsidiär zur Anwendung.
Wo bestehendes Recht nicht ausreicht, müssten deshalb mit Not- oder Dringlichkeitsrecht (z. B. Dringlichkeitsrecht nach Art. 165 BV, Notverordnungs- und Notverfügungsrechte nach Art. 173 Abs. 1 Bst. c und Art. 185 Abs. 3 BV oder gar das in der Verfassung nicht geregelte Staatsnotstandsrecht) die Grundlagen für Massnahmen des Katastrophenschutzes (z. B. Rettungsmassnahmen für Leib und Leben) geschaffen werden. Dies ist erst nach Eintritt einer Katastrophe beziehungsweise eines grösseren Erdbebens möglich. Gemäss dem Bericht des Bundesrates vom 19. Juni 2024 ¹6 zur Anwendung von Notrecht ist es grundsätzlich fraglich, ob Not- und Dringlichkeitsrecht des Bundes nicht nur von Gesetzen abweichen, sondern auch entgegen verfassungsrechtlicher Vorgaben erlassen werden darf. ¹7 Fehlt eine Verfassungszuständigkeit des Bundes wie im Fall der Vorsorge gegen Erdbeben und der Bewältigung ihrer Folgen, wären Beschlüsse gestützt auf verfassungsunmittelbares Notrecht (Art. 185 Abs. 3 BV) oder ein dringliches Bundesgesetz ohne Verfassungsgrundlage (Art. 165 Abs. 3 BV) wohl höchstens während der Akut- und Frühphase sowie allenfalls in der Übergangsphase denkbar, da diese Art der Rechtsetzung unter anderem zeitliche Dringlichkeit voraussetzt.
Mit der beantragten Neuregelung soll der Bund in der BV explizit die Zuständigkeit erhalten, ausgestaltet als sogenannte Kompetenz mit nachträglich derogatorischer Kraft ¹8 , Vorschriften im Bereich der Finanzierung des Wiederaufbaus nach einem Erdbeben zu erlassen. Der neue Verfassungsartikel gibt dem Bund die Kompetenz, um auf Basis eines Bundesgesetzes im Fall eines schwerwiegenden Erdbebens mit Schadenfolgen von den Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern in der Schweiz einen limitierten Beitrag zweckgebunden zur Finanzierung der Behebung der Gebäudeschäden zu erheben. Die Konkretisierung des Begriffs «schwerwiegend» erfolgt im Rahmen der Arbeiten auf Gesetzesstufe (vgl. Ziff. 3.3.5). Die Beiträge der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer sind - auch wenn sie nur im Ereignisfall und nicht zur Finanzierung öffentlicher Haushalte erhoben werden dürfen - eine Abgabe, die wohl Steuercharakter aufweist. ¹9 Steuern des Bundes bedürfen einer expliziten und spezifischen Grundlage in der BV.
Da nach einem Erdbeben mit Schadenfolgen die Bevölkerung in den am stärksten betroffenen Gebieten unter Umständen über einen längeren Zeitraum ihre Wohnungen nicht mehr bewohnen kann und die Produktion bei Unternehmen unterbrochen ist, ist ein rascher Wiederaufbau essenziell, um langfristige Schäden für die gesamte Volkswirtschaft zu minimieren. Die vorgeschlagene Lösung kommt ohne jährliche Belastung der Eigentümerschaft durch Prämienzahlungen aus und deckt die Erdbebenrisiken mit wenigen Ausnahmen schweizweit praktisch umfassend ab, analog zu einer obligatorischen Versicherungslösung.
Nicht abgedeckt sein sollen auf jeden Fall Schäden an der sogenannten «Fahrhabe» (Hausrat, Geschäftsinventar etc.) sowie weitere Vermögensschäden der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer, wie Mietzinsausfall oder Betriebsunterbruch. Diese Risiken können durch bereits auf dem Markt verfügbare private Versicherungslösungen abgedeckt werden.
Auf Verfassungsstufe soll nicht nur der Grundsatz der Deckung der Gebäudeschäden durch Beiträge der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer festgehalten werden, sondern auch die Obergrenze von 0,7 Prozent der Gebäudeversicherungssumme. Dies ist ein zentraler Parameter des vorgeschlagenen und auf Gesetzesstufe näher zu bestimmenden Finanzierungsinstruments und beschränkt die maximale finanzielle Belastung von Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern. Dabei ist zu beachten, dass die Versicherungssumme eines Gebäudes sich deutlich von dessen Verkehrswert auf dem Immobilienmarkt oder dem amtlichen Wert unterscheiden kann. Die meisten Gebäudeversicherungen versichern Gebäude zum Neuwert. Dieser Neuwert entspricht den Kosten für den Wiederaufbau eines Gebäudes in derselben Art und Grösse, bei gleichem Ausbaustandard und zu dann geltenden ortsüblichen Preisen. Die Obergrenze bestimmt damit weitgehend auch die Kapazitätsgrenze von rund 22 Milliarden Franken insgesamt, nämlich 0,7 Prozent der Versicherungssumme aller Gebäude in der Schweiz (ausgenommen Gebäude mit einer Versicherungssumme von mehr als 25 Mio. Fr.) Anfang 2023 von 3115 Milliarden Franken. Die Kapazitätsgrenze ist abgestimmt auf die erwarteten Schäden, die bei einem Erdbeben mit einer Wiederkehrperiode von 500 Jahren entstehen. 2⁰ Auf eine Wiederkehrperiode von 500 Jahren abzustellen, ist sachgerecht. Dieser Wert wird auch im Baubereich als Standard für die Erdbebenbemessung verwendet und dient in versicherungstechnischen Belangen ebenfalls als Richtgrösse. Mit dem Vorschlag, die Finanzierung der Behebung der Gebäudeschäden an einen festgelegten Prozentsatz der Gebäudeversicherungssumme zu koppeln, ist zudem sichergestellt, dass bei steigendem Gebäudebestand oder steigenden Baupreisen auch grössere finanzielle Mittel zweckgebunden für den Wiederaufbau bereitgestellt werden und sich so das Risiko und die finanzielle Absicherung parallel entwickeln. Gleichzeitig bleibt die finanzielle Belastung gemessen am Beitragssatz, also in Prozentpunkten der Gebäudeversicherungssumme, konstant und für die Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer jederzeit berechenbar. Für sehr grosse Ereignisse (z. B. ein Basler Erdbeben von 1356 oder ein Schadenbeben mit einer Wiederkehrperiode von 1000 Jahren), welche grössere Schäden verursachen und damit die Kapazitätsgrenze von rund 22 Milliarden Franken übersteigen würden, müssten für eine vollständige Schadensbehebung ergänzende Finanzierungen gesucht werden.
Die Bestimmungen zur Ausgestaltung des vorliegenden Finanzierungsinstruments im Einzelnen, wie eine mögliche Untergrenze, ab der eine Aktivierung zulässig sein soll, werden auf Gesetzesebene zu regeln sein (vgl. Ziff. 3.3).
Auch nach der Einführung der neuen Bundeskompetenz soll die Verantwortlichkeit der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer - ob öffentlich oder privat - für die Sicherheit der eigenen Bauten bestehen bleiben, auch für den Fall eines Erdbebens. Die Haftung der Werkeigentümerinnen und -eigentümer nach Artikel 58 des Obligationenrechts 2¹ bleibt bestehen. Die Eigentümerinnen oder Eigentümer bleiben deshalb verantwortlich, die Erdbebensicherheit gemäss dem geltenden Schweizer Normenwerk beim Erstellen, Betreiben und Unterhalten von Bauten zu berücksichtigen. Sie bleiben zudem für die Schadenbehebung verantwortlich, sowohl organisatorisch als auch finanziell.
¹2 Vgl. Bericht vom 20. Juni 2014 zur Abschreibung der Motion 11.3511 Fournier «Obligatorische Erdbebenversicherung», BBl 2014 5507 .
¹3 Vgl. Schlussbericht vom 26. Aug. 2022 der Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Motion 20.4329 «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung», Anhänge 5 und 6.
¹4 Vgl. dazu die Bundesgerichtsurteile BGE 130 I 369 E. 7.3, BGE 126 I 112 E. 4b und BGE 121 II 22 E. 4b.
¹5 Vgl. Anwendung von Notrecht. Bericht des Bundesrates vom 19. Juni 2024 in Erfüllung der Postulate 23.3438 Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 24. März 2023 und 20.3440 Schwander vom 6. Mai 2020, BBl 2024 1784 , Ziff. 8. 2.1 .
¹6 BBl 2024 1784
¹7 BBl 2024 1784 , Ziff. 9, insb. Ziff. 9.1.2.
¹8 Vgl. Rainer J. Schweizer, in: St. Galler Kommentar zur Bundesverfassung, 4. Auflage, 2023, zu Art. 3 BV, Rz. 23.
¹9 Vgl. Schlussbericht vom 26. Aug. 2022 der Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Motion 20.4329 «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung», Anhang 5, Stellungnahme des Bundesamts für Justiz, abrufbar unter: www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilung vom 9. Nov. 2022 «Der Bundesrat gibt Grundlagen für die Finanzierung von Gebäudeschäden im Fall eines Erdbebens in Auftrag».
2⁰ Vgl. Modellierung im Bericht vom 18. Juli 2013 «Erdbebenversicherung - Vorschläge für eine Regelung», abrufbar unter www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilung vom 18. Juli 2013 «Informelle Konsultation zu Vorschlägen für landesweite obligatorische Erdbebenversicherung».
2¹ SR 220
3.2 Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Der Bund übernimmt mit dem vorgeschlagenen Finanzierungsinstrument für die Behebung von Gebäudeschäden im Fall von Erdbeben keine neuen Aufgaben, für die eine Finanzierung mit öffentlichen Mitteln sichergestellt werden müsste.
3.3 Mögliche Eckwerte zur Umsetzung auf Gesetzesebene
Mit der vorliegenden Vorlage soll dem Bund auf Verfassungsebene die Kompetenz erteilt werden, ein solidarisches System zur Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden im Fall von Erdbeben durch die Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer einzuführen. Die Einzelheiten zur Umsetzung der mit der Motion 20.4329 verlangten Finanzierung von Gebäudeschäden werden auf Gesetzesstufe zu regeln sein. Um eine bessere Meinungsbildung im politischen Prozess zu ermöglichen, werden nachfolgend in Anlehnung an die Vorschläge der vom SIF eingesetzten Arbeitsgruppe in ihrem Schlussbericht 2² Vorschläge für Eckwerte einer Umsetzung auf Gesetzesebene dargestellt. Diese können sich bei der konkreten Ausarbeitung noch ändern. Sie geben jedoch eine Vorstellung, was eine mögliche Umsetzung wäre.
Aus Gründen der Einfachheit und der Umsetzbarkeit wurde, wie das auch bei der Elementarschadenversicherung der Fall ist, auf die Berücksichtigung des individuellen Risikos verzichtet. Es wird aber dennoch noch zu prüfen sein, ob die Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer in der Schweiz bei der Umsetzung der Eventualverpflichtung tatsächlich weitestgehend gleich behandelt werden sollen oder ob eine risikobasierte Umsetzung gewählt werden soll. Eine risikobasierte Umsetzung hätte den Vorteil, dass Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer das Erdbebenrisiko stärker berücksichtigen würden, beispielsweise bei der Bauweise oder bei der Standortwahl. Es müsste jedoch jedes Gebäude individuell bezüglich Lage, Bauart, Unterhalt und Nutzung beurteilt werden, es müssten individuelle Beiträge berechnet werden und bei der Auszahlung würden unterschiedliche Selbstbehalte und Entschädigungen angewendet.
Die detaillierte Ausarbeitung eines neuen Bundesgesetzes zur Finanzierung von Gebäudeschäden bei Erdbeben soll nach einer Zustimmung zu dieser Vorlage in Angriff genommen werden.
3.3.1 Gedeckte Gefahr
Die gedeckte Gefahr berücksichtigt, dass es auch künstlich ausgelöste Bodenerschütterungen geben kann, und definiert, welche Ursachen für eine Erschütterung zu einer Auslösung der Verpflichtung führen. Der Anwendungsbereich des mit der Motion 20.4329 verlangten Modells zur Finanzierung von Gebäudeschäden wird daher auf Gesetzesstufe auf die Gefahr «Erdbeben» zu beschränken sein. Gedeckt sein sollen direkte Schäden eines natürlichen Erdbebens sowie unmittelbare Folgeschäden wie Feuer oder Flutwellen (z. B. durch den Bruch eines Staudamms). Als natürliche Erdbeben gelten plötzliche Erschütterungen der festen Erde, die ihre Ursache in tektonischen Vorgängen in der Erdkruste haben. Massgebend soll dabei nicht das Epizentrum des Erdbebens sein, sondern die Frage, ob in der Schweiz Schäden an Gebäuden entstanden sind. Vom Menschen verursachte Erschütterungen, die ihre Ursache etwa im Einsturz künstlicher Hohlräume haben können, sollen hingegen nicht erfasst werden.
3.3.2 Zeitlicher Anwendungsbereich
Der zeitliche Anwendungsbereich definiert, ob die finanzielle Verpflichtung von den Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern bei mehreren sich nacheinander ereignenden Erdbeben nur einmal oder mehrmals eingefordert werden kann.
Das vorgeschlagene Finanzierungsinstrument für einen raschen Wiederaufbau nach einem Erdbeben könnte nach jedem Ereignis erneut durch den Bundesrat aktiviert werden. Es wird vorgeschlagen, dass sämtliche Schadenbeben, die innerhalb einer Frist von 30 Kalendertagen nach der ersten schadenverursachenden Erschütterung auftreten, als ein Schadenereignis gelten sollen. Der zeitliche Anwendungsbereich von 30 Kalendertagen geht damit weiter als die von den meisten Anbietern privater Erdbebenversicherungen vorgesehene Frist von sieben Tagen. Die 30-tägige Frist bietet den betroffenen Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern zusätzliche Sicherheit, dass auch allfällige durch spätere Nachbeben verursachte Gebäudeschäden gedeckt werden. Zudem können Gebäudeschäden womöglich nicht in jedem Fall zweifelsfrei einer einzelnen Erschütterung zugeordnet werden, insbesondere nicht, wenn diese kurz nacheinander auftreten und die Schadensermittlung noch nicht vollständig abgeschlossen werden konnte. Erst ein Schadenbeben, das sich nach einer Frist von 30 Kalendertagen seit der ersten schadenverursachenden Erschütterung ereignet, würde als ein neues Ereignis gelten. Entsprechend könnte die finanzielle Verpflichtung der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer in diesem Fall erneut durch den Bundesrat aktiviert werden.
Eine Alternative wäre vorzusehen, dass es nach einer Aktivierung zunächst wieder eines formellen Beschlusses durch das Parlament bedarf, bevor die finanzielle Verpflichtung der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer erneut eingefordert werden darf. Um Schäden zwischen zwei Erdbeben voneinander abzugrenzen, könnte auch in diesem Fall die erwähnte 30-tägige Frist vorgesehen werden.
3.3.3 Sachlicher Anwendungsbereich
Der sachliche Anwendungsbereich beschreibt, welche Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer von der finanziellen Verpflichtung erfasst werden und auf welche Gebäude diese Anwendung findet. Das Recht auf Entschädigung für die Behebung eines erlittenen Schadens geht dabei einher mit der Beitragspflicht.
Es könnte vorgesehen werden, dass alle Gebäude mit einer Gebäudeversicherungssumme bis zu 25 Millionen Franken, ohne Bauten des Bundes, erfasst werden, was rund 99,5 Prozent der über 2,7 Millionen versicherten Gebäude entspricht. Nicht in den Anwendungsbereich fallen würden somit die rund 2600 Bundesbauten sowie rund 6500 Gebäude mit einer Gebäudeversicherungssumme von je mehr als 25 Millionen Franken. Langwierige Beurteilungen von grossen Gebäudekomplexen entfallen dadurch. Die übrigen Gebäude können somit schneller beurteilt und die entsprechenden Schäden schneller bezahlt werden. Von den Eigentümerinnen und Eigentümern der nicht erfassten Gebäude würden keine Beiträge erhoben. Dies würde hauptsächlich institutionelle Anleger oder grössere Unternehmen mit professionellem Risikomanagement betreffen. Diese können sich jedoch weiterhin auf individueller Basis gegen Gebäudeschäden bei Erdbeben privat versichern. Um Abgrenzungsfragen zu vermeiden, wird vorgeschlagen, auf eine Unterscheidung zwischen Nutzungskategorien zu verzichten. Derartige Abgrenzungsfragen könnten etwa bei denjenigen Gebäuden entstehen, die verschiedenen Zwecken dienen und neben Wohnungen in den höheren Etagen im Parterre beispielsweise über ein Verkaufslokal verfügen. Aufgrund der hohen Konzentration von Schäden und der fehlenden Diversifikation von Risiken innerhalb einer Gemeinde oder eines Kantons im Fall eines Erdbebenereignisses, ist der Einbezug von Gebäuden, die sich im Besitz von Kantonen oder Gemeinden befinden, sachgerecht.
Alternativ könnte der sachliche Anwendungsbereich auch in Analogie zur bereits geltenden Elementarschadenversicherung gehandhabt werden. In diesem Fall wären auch die 6500 Gebäude mit einer Gebäudeversicherungssumme von mehr als 25 Millionen Franken erfasst, die Entschädigung wäre jedoch begrenzt auf 25 Millionen Franken, um eine übermässige Beanspruchung der gesamten Kapazität durch grosse Gebäude zu verhindern. Gleichzeitig würde in diesen Fällen bei der Bemessung der Beitragspflicht ebenfalls auf die 25 Millionen Franken abgestellt werden. In dieser Alternative wären somit nur die Bundesbauten vollständig ausgenommen. Der Anteil gesicherter Gebäude würde damit auf 99,9 Prozent steigen.
Der sachliche Anwendungsbereich soll auf jeden Fall auf die Finanzierung der Instandstellungs- oder Wiederaufbaukosten von Gebäuden beschränkt sein. Es soll damit weiterhin den Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern sowie den Privatpersonen und Unternehmen überlassen sein, mittels einer privaten Versicherungslösung ihre Fahrhabe, den Hausrat, das Geschäftsinventar oder beispielsweise durch einen Betriebsunterbruch oder einen Mietertragausfall bedingte Vermögensschäden abzudecken.
3.3.4 Selbstbehalt
Der Selbstbehalt entspricht dem Betrag, welcher eine Gebäudeeigentümerin oder ein -eigentümer von einem durch ein Erdbeben verursachten Schaden selbst tragen muss.
Bei der Umsetzung der Verpflichtung der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer zur Finanzierung von Gebäudeschäden soll grundsätzlich ein Selbstbehalt vorgesehen werden. Das vorgeschlagene Instrument soll eine solidarische Unterstützungsleistung sein für ein selten eintretendes, aber mit massiven Auswirkungen verbundenes Ereignis. Das vorgeschlagene Finanzierungsinstrument soll aber auch voraussetzen, dass jede Gebäudeeigentümerin und jeder Gebäudeeigentümer einen angemessenen Teil des Schadens selber trägt. Diese bei Versicherungslösungen übliche Regelung hat sich bewährt. Je höher der Selbstbehalt angesetzt wird, desto stärker verschiebt sich die finanzielle Belastung zu den von einem Schadenbeben Betroffenen. Allerdings stehen mit einem höheren Selbstbehalt auch für die Finanzierung von grösseren Schäden oberhalb der Kapazitätsgrenze noch Mittel zur Verfügung, da die vorgeschlagene Finanzierung erst nach der Ausschöpfung des Selbstbehalts zur Anwendung kommt.
Die Arbeitsgruppe schlägt hat in ihrem Schlussbericht ²3 mehrere Optionen vor und empfiehlt einen Selbstbehalt in der Höhe von 5 Prozent der Gebäudeversicherungssumme, mindestens jedoch 25 000 Franken. Im Vergleich dazu sehen heute auf dem Markt erhältliche private Erdbebenversicherungslösungen in der Regel einen Selbstbehalt in der Höhe von 10 000-20 000 Franken vor.
²3 Vgl. Schlussbericht vom 26. Aug. 2022 der Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Motion 20.4329 «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung», Anhänge 5 und 6.
3.3.5 Auslösung
Die Auslösung beschreibt, bei welcher Stärke eines Schadenbebens die Verpflichtung der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer zur solidarischen Finanzierung von Gebäudeschäden greifen soll.
Die Auslösung des vorgeschlagenen Finanzierungsinstruments sollte nur bei schwerwiegenden Erdbeben sowie nicht automatisch und ausschliesslich kraft Gesetzes erfolgen. Die Arbeitsgruppe sieht in ihrem Schlussbericht einen formellen Entscheid des Bundesrates zur Auslösung vor, unter Berücksichtigung der Intensität des Bebens und der eingetretenen Gebäudeschäden. Damit soll eine Auslösung etwa wegen weniger Bagatellfälle verhindert werden. Alternativ könnte auch eine Mindestintensität des Erdbebens vorgegeben werden, unter der eine Auslösung nicht gestattet wäre (z. B. Mindestintensität von VI gemäss der Europäischen Makroseismischen Skala EMS-98 plus ein Mindestschadenbild).
Der SED als Fachstelle des Bundes für Erdbeben an der ETH Zürich ist in der Lage, innerhalb von Minuten nach einem Erdbeben ein erstes Lagebild zu Ort, Magnitude und Stärke der Erschütterungen abzugeben. Dieses beinhaltet auch eine computerbasierte Einschätzung der Intensität des Bebens gemäss der Europäischen Makroseismischen Skala (EMS-98). Das erste Lagebild wird innerhalb von ein bis zwei Stunden von einem Seismologen überprüft. Im selben Zeitraum wird basierend auf dem neuen Erdbebenrisikomodell Schweiz ²4 eine automatische schnelle Schadensabschätzung veröffentlicht, die detailliertere Angaben über die zu erwarteten Personen- und Gebäudeschäden macht. Nach einem Beben der Magnitude 4 oder mehr gehen innerhalb von wenigen Stunden einige tausend Meldungen von Personen ein, die das Beben gespürt haben. Diese Meldungen werden dazu verwendet, die computerbasierte Einschätzung zur Intensität des Bebens weiter zu verifizieren. Basierend darauf ist der SED in der Lage, eine faktenbasierte und wissenschaftlich abgestützte Aussage zu den durch das Erdbeben verursachten Gebäudeschäden zu machen. Diese könnte von Fachpersonen schnell vor Ort überprüft werden. Damit würde der Bundesrat innert Stunden über eine verlässliche Grundlage verfügen, um einen Entscheid über die Auslösung zu fällen.
²4 Vgl. www.seismo.ethz.ch > Erdbebenland Schweiz > Risiko > Erdbebenrisikomodell.
3.3.6 Abwicklung
Die Abwicklung des mit der Motion 20.4329 verlangten Modells zur Finanzierung von Gebäudeschäden sollte möglichst anhand klarer und einfacher Prozesse erfolgen. Es ist dabei namentlich die Aufgabenteilung zwischen dem Bund, den Kantonen, der Schadenorganisation Erdbeben (SOE) und dem SED sowie die Rollenteilung innerhalb des Bundes (z. B. zwischen Bundesrat und Krisenstab des Bundes) zu regeln. Ein mehrstufiges Verfahren erscheint deshalb als sachgerecht. Die wichtigsten Aufgabenstellungen sind nachfolgend aufgeführt:
-
Strategische Führung: Die strategische Führung zur Bewältigung eines schwerwiegenden Erdbebenereignisses in Bezug auf die gemäss der Motion 20.4329 vorgeschlagene Finanzierung von Gebäudeschäden könnte durch den Bundesrat in Absprache mit den Kantonsregierungen erfolgen. Im Rahmen dieser Funktion könnte der Bundesrat auch über die Auslösung entscheiden (vgl. Ziff. 3.3.5). Zudem würde der Bundesrat in einem Ernstfall je nach Schadensausmass auch den Beitragssatz festlegen. Bei einer Schadensumme von beispielsweise 10-12 Milliarden Franken würde gegenwärtig bei einer Ausgestaltung gemäss den Vorschlägen nach den Ziffern 3.3.3 und 3.3.4 (Selbstbehalt in der Höhe von 25 000 Fr., Obergrenze bei der Gebäudeversicherungssumme von 25 Mio. Fr. und Finanzierung von Gebäudeschäden an Bundesbauten ausgeschlossen) ein Beitragssatz von schätzungsweise 0,3-0,4 Prozent der Gebäudeversicherungssumme ausreichen, um die Gebäudeschäden zu decken. Der maximale Beitragssatz von 0,7 Prozent der Gebäudeversicherungssumme käme erst zur Anwendung, wenn die Schadensumme die implizite Kapazitätsgrenze erreicht oder übersteigt (gegenwärtig rund 22 Mia. Fr.; vgl. Ziff. 3.1).
-
Krisenstab: Auf nationaler Ebene könnte ein Krisenstab, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes und der betroffenen Kantone, zur Bewältigung des Erdbebenereignisses in Bezug auf die Finanzierung von Gebäudeschäden eingesetzt werden. Der Bundesrat hat im März 2023 als Reaktion auf die Coronapandemie entschieden, die Organisation der Bundesverwaltung für zukünftige Krisen zu stärken. ²5 Das Konzept sieht vor, dass der Bundesrat einen Krisenstab auf politisch-strategischer und auf operativer Ebene einsetzen kann. Es liegt deshalb nahe, diesen teilweise permanenten Krisenstab auch für die operative Abwicklung in Bezug auf die gemäss der Motion 20.4329 vorgeschlagene Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden einzusetzen.
-
Rolle der Kantone: Die durch ein Schadenbeben direkt betroffenen Kantone sind für die Bewältigung des Ereignisses in ihrem Gebiet verantwortlich. Es wird vorgeschlagen, dass sie via Vertretung im Krisenstab auch in die Abwicklung der Finanzierung der Behebung der Gebäudeschäden miteinbezogen werden. Dabei soll ihre Autonomie erhalten bleiben. Die Kantone könnten operative Tätigkeiten, wie das Einkassieren des fälligen Betrags oder das Auszahlen von Entschädigungen, auch an geeignete Stellen übertragen (z. B. die kantonale Gebäudeversicherung, die SOE oder ein Treuhandunternehmen).
-
Rolle der SOE: Die SOE ist ein durch die Kantone (vertreten durch die RK MZF), die Privatassekuranz und die kantonalen Gebäudeversicherungen gegründeter und finanzierter Verein. Gemäss ihren Statuten wird sie bei einem Erdbeben unter Beizug von Fachexpertinnen und -experten aus einem Pool vor Ort die Gebäudeschäden beurteilen sowie eine Schätzung der erwarteten Wiederaufbau- und Reparaturkosten erstellen.
-
Öffentlich-rechtliche Grundlast zur Sicherstellung der Zahlungen: Zur Sicherstellung der Zahlungen könnte zum Beispiel die Einführung einer entsprechenden öffentlich-rechtlichen Grundlast auf zivilgesetzlicher Ebene (z. B. im ZGB) geprüft werden.
²5 Vgl. Medienmitteilung des Bundesrates vom 29. März 2023 «Bundesrat verbessert Organisation des Krisenmanagements»; abrufbar unter: www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen.
2² Schlussbericht vom 26. Aug. 2022 der Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Motion 20.4329 «Schweizerische Erdbebenversicherung mittels System der Eventualverpflichtung», Kapitel 3.
4 Auswirkungen
4.1 Auswirkungen auf den Bund
Der Bund ist gegenwärtig für die Erdbebenüberwachung, die Alarmierung und die nationale Gefährdungsabschätzung zuständig. Zudem ist er verantwortlich, seine eigenen Bauten und Anlagen gegen Erdbeben zu schützen. Weiter setzt er im Rahmen von Plangenehmigungen bei Infrastrukturanlagen, beispielsweise Bahnen und Strassen, Massnahmen zur Erdbebenvorsorge um. Bei der Ereignisbewältigung kann der Bund die Kantone subsidiär unterstützen. Auf Stufe Bund bestehen jedoch grundsätzlich keine gesetzlichen Regelungen im Zusammenhang mit dem Risiko Erdbeben. Mit der vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 würde der Bund die Kompetenz erhalten, Vorschriften zur Finanzierung von Erdbebenschäden zu erlassen. Der Wiederaufbau oder die Reparatur von Schäden an Gebäuden sollte in der Verantwortung der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer verbleiben und nicht durch Mittel der öffentlichen Hand erfolgen. Die vorgeschlagene Umsetzung der Motion 20.4329 reduziert den Einsatz von Mitteln der öffentlichen Hand im Fall eines Schadenbebens (z. B. mittels ausserordentlicher Finanzhilfen). Für die Finanzierung von Schäden an Gebäuden des Bundes soll der Bund zuständig bleiben (vgl. Ziff. 3.3.3).
4.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Die finanzielle Absicherung der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer durch Versicherungslösungen ist in der Schweiz bezüglich Erdbebenschäden zurzeit sehr begrenzt (vgl. auch Ziff. 4.3.1). Lediglich die Eigentümerinnen und -eigentümer der im Kanton Zürich belegenen Gebäude verfügen über einen begrenzten Erdbebenfonds von insgesamt 1 Milliarde Franken für die Deckung von Erdbebenschäden. In 17 weiteren Kantonen stellen kantonale Gebäudeversicherer im Rahmen des schweizerischen Pools für Erdbebendeckung auf freiwilliger Basis Mittel in der Höhe von maximal 2 Milliarden Franken in Aussicht, das heisst es besteht kein Anspruch auf Entschädigung. Schliesslich werden Versicherungslösungen zur Deckung von durch Erdbeben verursachten Gebäudeschäden mittlerweile auch von zahlreichen privaten Versicherungsgesellschaften angeboten. Die Marktdurchdringung ist aber gering, denn nur rund 15 Prozent der Gebäude sind versichert (vgl. Ziff. 4.3.2).
Es ist bei der heutigen Sach- und Rechtslage davon auszugehen, dass sich die Kantone bei einem Erdbebenereignis nebst der Ereignisbewältigung und dem Wiederaufbau ihrer eigenen Infrastrukturen und Bauten auch mit ausserordentlichen Finanzhilfen für private Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer auseinandersetzen müssten. Die fehlende finanzielle Vorsorge für private Gebäude wirkt sich auf die Handlungsfreiheit der öffentlichen Hand aus. Das Erdbebenrisiko ist in dichter besiedelten Gebieten sowie in urbanen Zentren konzentrierter. Das zeigen auch die Resultate aus dem im März 2023 publizierten Erdbebenrisikomodell des SED (vgl. Ziff. 1.7).
Die Gebäudeversicherungssummen sind in den bevölkerungsreichen Kantonen Zürich, Bern, Aargau und Waadt, absolut betrachtet, am höchsten. In diesen Kantonen ist auch die Anzahl Immobilien mit einer besonders hohen Versicherungssumme am höchsten: Rund die Hälfte der 6500 Gebäude mit einer Versicherungssumme von über 25 Millionen Franken, die vom sachlichen Geltungsbereich der vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 ausgenommen würden (vgl. Ziff. 3.3.3), findet sich in diesen vier Kantonen.
Die Kantone bleiben auch mit dem vorgeschlagenen neuen Verfassungsartikel für die Bewältigung von durch Erdbeben verursachte Schäden verantwortlich. Sie sind aber gleichzeitig auch in die Abwicklung des vorgeschlagenen Finanzierungsinstruments einzubeziehen (vgl. Ziff. 3.3.6). Die operativen Tätigkeiten, beispielsweise das Einkassieren des fälligen Betrags oder das Auszahlen von Entschädigungen, könnten die Kantone - ähnlich wie etwa bei der Liegenschaftssteuer - eigenständig durchführen oder andere Stellen damit beauftragen. Ausbleibende Zahlungen wären in diesem Fall nicht zu erwarten, weder bei in- noch bei ausländischen Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern. Dennoch müsste bei der Umsetzung auf Gesetzesstufe geprüft werden, ob auf zivilgesetzlicher Ebene eine Grundlast vorgesehen werden müsste, sodass die Liegenschaften säumiger Gebäudeeigentümerinnen oder -eigentümer notfalls veräussert werden könnten (vgl. Ziff. 3.3.6). Solange kein Schadenereignis eintritt, würden bei den Kantonen keine zusätzlichen laufenden Kosten anfallen. Die Gebäude der Kantone und Gemeinden sind, wie jene im privaten Besitz, demselben Erdbebenrisiko ausgesetzt und vom vorgeschlagenen Finanzierungsinstrument ebenfalls erfasst.
4.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
4.3.1 Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer
Gegenwärtig tragen Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer ein erhebliches, häufig unversichertes finanzielles Eigenrisiko in Bezug auf Erdbebenschäden an ihren Gebäuden. Dieses Risiko ist aber nicht gleichmässig verteilt (vgl. Ziff. 1.7, Abbildung 3). Gemäss Angaben der Vereinigung kantonaler Gebäudeversicherer (VKG) und des Schweizerischen Versicherungsverbands (SVV) sind heute rund 15 Prozent der Gebäude in der Schweiz gegen Schäden durch Erdbeben versichert. Zunehmend besteht je nach Anbieter zudem eine Deckungsobergrenze (vgl. Ziff. 4.3.2), was für die Kundinnen und Kunden zu Unsicherheit und finanziellen Einbussen führen kann, da die Zahlung seitens der Versicherer zunächst aufgeschoben und schliesslich gekürzt werden kann, wenn die deklarierte Leistungsbegrenzung erreicht wird. Ein durch ein schwerwiegendes Erdbeben verursachter Totalschaden insbesondere an einem mittels einer Hypothek finanzierten Gebäude könnte deshalb ohne finanzielle Absicherung zum finanziellen Ruin führen. Die tiefe Nachfrage nach Erdbebenversicherungen mag angesichts des grossen Schadenpotenzials im Fall eines Erdbebens erstaunen. Die Gründe für die tiefe Versicherungsdichte können in der mangelnden Sensibilisierung der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer für das Erdbebenrisiko liegen - hat sich doch in der Schweiz das letzte schwerwiegende Erdbeben mit grossen Schäden 1946 ereignet -, in der falschen Annahme, die Erdbebenrisiken seien als Teil der Elementarschadenversicherung bereits ausreichend gedeckt, in der Höhe der Prämie für eine Erdbebenversicherung oder in der Erwartung umfassender staatlicher Finanzhilfen im Falle eines Schadenbebens.
Mit der vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 wird die finanzielle Bewältigung für durch schwerwiegende Erdbeben verursachte Gebäudeschäden gestärkt. Die Finanzierung der Behebung dieser Schäden erfolgt nachträglich: Solange kein Schadenbeben eintritt, fallen weder Zahlungen an noch wird zweckgebunden Kapital geäufnet und muss verwaltet werden. Die anhand einer Umfrage erstellte Marktübersicht in Tabelle 2 zeigt, dass der bei Auslösung einmalig zu bezahlende Betrag, je nach Standort des Gebäudes, zu Marktprämien dem 9- bis 23-Fachen einer Jahresprämie für eine gleichwertige Erdbebenversicherung entsprechen würde. Die vorgeschlagene Umsetzung der Motion 20.4329 würde also die Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer im Eintretensfall im Durchschnitt nach rund 20 Jahren günstiger zu stehen kommen als vergleichbare private Versicherungslösungen mit jährlich wiederkehrenden Prämienzahlungen.
Tabelle 2
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Die Höhe des vorgeschlagenen Beitrags in Prozenten der Gebäudeversicherungssumme bleibt über die Zeit konstant. Der absolute Betrag verändert sich. Er hängt insbesondere von der Teuerung im Baubereich ab. Die Gebäudeversicherungssumme ist nämlich geprägt durch die Entwicklung der Baukosten, da Gebäudeversicherungen in den meisten Fällen zum Neuwert ausgestaltet sind. Dieser Neuwert entspricht den Kosten für den Wiederaufbau eines Gebäudes in derselben Art und Grösse, bei gleichem Ausbaustandard und zu dann geltenden ortsüblichen Preisen. Durch das Festlegen der finanziellen Verpflichtung als Prozentsatz der Gebäudeversicherungssumme wird ein gleichbleibender Schutz vor Erdbebenrisiken gewährleistet.
Beim vorgeschlagenen Finanzierungsinstrument für ein schwerwiegendes Erdbeben handelt es sich nicht um eine Vollkaskoversicherung, die die garantierte Übernahme von sämtlichen Gebäudeschäden im Zusammenhang mit einem Erdbeben beinhalten würde. Die Versicherung gegen ungedeckte finanzielle Verluste bei einem Erdbeben bleibt den Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern überlassen. Es ist zu erwarten, dass Anbieter von Versicherungslösungen im Bereich der Erdbebenvorsorge ergänzende Produkte zur vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 anbieten werden. Mit diesen Produkten könnten sich die Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer gegen das Risiko versichern, höchstens 0,7 Prozent der Gebäudeversicherungssumme einzahlen zu müssen. Ebenso könnten sie das Residualrisiko versichern, dass die durch das Erdbeben verursachten Gebäudeschäden die vorgeschlagene Kapazität in der Höhe von rund 22 Milliarden Franken übersteigen könnten und damit nicht ausreichend finanzielle Mittel zur Schadenbehebung zur Verfügung stehen könnten. Zudem wäre eine Abdeckung des Selbstbehalts ebenso vorstellbar wie die von Schäden bei einem nicht schwerwiegenden Erdbeben. Die Kosten für die heutigen privaten Erdbebenversicherungen zur Absicherung der Gebäude würden hingegen entfallen. Insgesamt resultiert aus der Perspektive der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer ein Einsparpotenzial gegenüber heute, um eine ähnliche Absicherung gegen Erdbebenrisiken zu erreichen.
4.3.2 Versicherungen
Anbieter von privaten Erdbebenversicherungen sowie die kantonalen Gebäudeversicherungen sind von der vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 direkt betroffen. Per Anfang 2024 erwarteten die Versicherungen, die der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA) unterstellt sind, also alle privatwirtschaftlich tätigen Versicherungen, nicht jedoch diejenigen nach öffentlichem oder kantonalem Recht, gemäss Angaben der FINMA Prämieneinnahmen im Zusammenhang mit Erdbebenrisiken aller Art im Umfang von 212 Millionen Franken oder 0,8 Prozent aller nur von den Schadenversicherern im direkten Schweizer Geschäft erwarteten Prämieneinnahmen, wobei die Prämiensumme, die nur die Versicherung von Gebäudeschäden für den Fall eines Erdbebens umfasst, darunter liegt. Denn die von den Versicherungen gedeckten Erdbebenrisiken können neben Gebäudeschäden auch den Gebäudeinhalt und sonstige finanzielle Verluste von Unternehmen beinhalten (z. B. Mietzinsausfall oder Betriebsunterbruch), die auf ein Erdbeben zurückzuführen sind. Die bisherigen Angebote zur Deckung von Erdbebenrisiken wären grösstenteils hinfällig, könnten aber durch neue, an die vorgeschlagene Umsetzung der Motion 20.4329 angepasste Produkte ersetzt werden. Versicherungslösungen für von der vorgeschlagenen Umsetzung nicht erfasste Gebäude (vgl. Ziff. 3.3.3) müssten hingegen nicht angepasst werden. Auch der Markt für Versicherungen gegen Mietzinsausfall, Betriebsunterbruch oder für Hausrat und Fahrhabe würde im Rahmen der bestehenden Erdbebenversicherung bestehen bleiben. Falls Private und Unternehmen gegenüber Erdbebenrisiken stärker sensibilisiert werden, könnte sich dieser Markt vergrössern, insbesondere da der vorgeschlagene Finanzierungsmechanismus nur für schwerwiegende Erdbeben zur Anwendung kommen soll.
Gemäss Schätzungen von Anbietern von Erdbebenversicherungen schwankt die Deckungskapazität der Schweizer Versicherer für das Risiko Erdbeben gegenwärtig zwischen 10 und 25 Milliarden Franken. Der Erst- und Rückversicherungsmarkt ist damit in der Lage, die aktuell geringe Nachfrage nach Erdbebenversicherungen zu decken. Deutlich höhere Kapazitäten könnten gemäss den Versicherern bei entsprechenden Prämien schrittweise über mehrere Jahre gebildet werden. Schwankungen in der Deckungskapazität des globalen Rückversicherungsmarkts für das Erdbebenrisiko in der Schweiz können aber nicht ausgeschlossen werden.
Mehrere Schweizer Erstversicherer haben deshalb eine Limitierung der gewährten Erdbebendeckung eingeführt (z. B. auf 1 Mia. Fr. pro Jahr für alle Schadenfälle zusammen), um das Risiko für die Versicherung berechenbar zu halten. Diese versicherungstechnisch nachvollziehbare Limitierung wird von den Versicherern auch darum angewendet, weil Erdbeben ein klassisches Kumulrisiko darstellen, so dass durch ein einzelnes Ereignis enorme Schäden verursacht werden können. Das gesamte Schadenpotenzial ist schwierig zu prognostizieren, und der Versicherer will und muss seine vertraglich vereinbarten Leistungen erbringen können. Das bedingt, dass jederzeit genügend Kapital verfügbar sein muss.
Dem Rückgang der Prämieneinnahmen durch den Wegfall von bisherigen Produkten gegenüberzustellen sind zu erwartende Prämieneinnahmen mit neuen oder bestehenden Produkten. Diese neuen Erdbebenversicherungsprodukte, z. B. für die Versicherung des Beitrags von 0,7 Prozent aus der Eventualverpflichtung oder für einen Ausbau der bestehenden Versicherungsprodukte, wie Betriebsunterbruch, Mietzinsausfall oder Hausrat und Geschäftsinventar, könnten den Wegfall der Prämien für die Erdbebenversicherung von Gebäuden zumindest teilweise kompensieren oder sogar übersteigen. Die Produkte der Versicherer, zusammen mit der Kapazität der Eventualverpflichtung ergänzen sich und würden die finanzielle Vorsorge von Privaten, Unternehmen sowie von Gemeinden und Kantonen auf ein mit der Deckung für die übrigen Elementarschäden vergleichbares Niveau bringen. Eine quantitative Einschätzung über die zu erwartenden Prämieneinnahmen unter dem vorgeschlagenen System ist gegenwärtig nicht möglich, auch weil die Details auf Gesetzesstufe noch nicht geklärt sind. Generell lässt sich aber festhalten, dass auch zusammen mit dem vorgeschlagenen Finanzierungsinstrument wegen der aktuell geringen Marktdurchdringung ein Potenzial für komplementäre private Rück- und Erstversicherungslösungen besteht.
Versicherungen sind zudem auch im Hypothekarmarkt tätig und hatten per Ende 2023 mit einem Volumen von 34,8 Milliarden Franken ²6 einen Marktanteil von 3,0 Prozent am inländischen Hypothekarmarkt. In diesem Bereich sind die Versicherungen denselben Risiken ausgesetzt wie die Banken.
²6 Quelle: FINMA, Versicherer-Report 2023, abrufbar unter: www.finma.ch > Dokumentation > FINMA-Publikationen > Statistiken und Kennzahlen > Kennzahlen > Kennzahlen Versicherer > Versicherer-Report ab 2019.
4.3.3 Banken und Pfandbriefinstitute
Mit der vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 kann indirekt auch das Erdbebenrisiko der Banken reduziert werden. Dieses Risiko ist erheblich, jedoch im Vergleich zu jenem der Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern insgesamt deutlich kleiner. Die Banken sind in den allermeisten Fällen als Gegenpartei in Hypothekarverträgen im Umfang der ausstehenden Hypotheken ebenfalls einem Erdbebenrisiko ausgesetzt. Per Ende 2023 waren in der Schweiz insgesamt Hypotheken im Umfang von rund 1169 Milliarden Franken ²7 ausstehend. Der Gebäudeversicherungswert aller Immobilien und damit der Neuwert aller Liegenschaften in der Schweiz war mit rund 3495 Milliarden Franken zum gleichen Zeitpunkt deutlich höher; die durchschnittliche Hypothek pro versichertes Gebäude betrug per Ende 2022 rund 425 000 Franken. Die mögliche Gefahr für Banken besteht vor allem in einem so heftigen Erdbeben, dass sehr schwere Schäden an Gebäudesubstanzen entstehen oder es gar zu Gebäudeeinstürzen kommt. In diesen Fällen, die bereits ab Magnitude 6 auftreten können, kann das Gebäude seinen Wert als Grundpfand für die hypothekargebende Bank verlieren. Die Bank hätte deshalb im Extremfall keinen verwertbaren Gegenwert zur ausstehenden Hypothek mehr, sollten Zahlungsausfälle auf der Hypothek entstehen. Zahlungsausfälle auf Hypotheken von eingestürzten Gebäuden wären kaum vermeidbar, sodass Verluste für die betroffenen Banken resultieren würden. Regional tätige Banken können dabei proportional stärker dem Erdbebenrisiko ausgesetzt sein als landesweit tätige Hypothekarbanken, bei denen automatisch eine gewisse Diversifikation des Erdbebenrisikos über alle Hypotheken stattfindet. Einzelne Banken bieten im Zusammenhang mit Immobilienfinanzierungen in Zusammenarbeit mit Versicherungen auch eine Deckung von Erdbebenrisiken an. Die geringe Deckung der Hypotheken vor Erdbebenrisiken durch die Banken ist auch mit der gegenwärtigen Deckungskapazität des Erst- und Rückversicherungsmarkts zu erklären (vgl. Ziff. 4.3.2). Eine deutlich höhere Absicherung von Hypotheken vor Erdbebenrisiken wäre mit höheren Prämien verbunden und könnte zudem an der Verfügbarkeit der nötigen Versicherungskapazität scheitern. Zudem besitzen Banken im Rahmen ihrer eigenen Anlagen direkt und indirekt (z. B. via Fonds) Immobilien, die dem Risiko Erdbeben ausgesetzt sind.
Pfandbriefzentralen sind eine Ausnahme betreffend die Erdbebenrisiken der Banken. Die Pfandbriefbank Schweizerischer Hypothekarinstitute AG und die Pfandbriefzentrale der Schweizerischen Kantonalbanken AG sind in der Schweiz die beiden Emittenten für hypothekarisch gesicherte Pfandbriefe. Diese beiden Institute hatten per Ende 2023 Pfandbriefe mit erstklassigen Hypotheken im Umfang von insgesamt über 170 Milliarden Franken ausstehend. ²8 Solange die zugrundeliegenden Hypotheken auf den Büchern der kreditgebenden Banken bleiben, sind auch Pfandbriefinstitute keinem unmittelbaren Erdbebenrisiko ausgesetzt. Indirekt besteht jedoch das Risiko eines Ausfalls einer oder mehrerer Regionalbanken wegen zu hoher Verluste auf Hypotheken. Die Investoren in Pfandbriefe sind zudem - ähnlich wie landesweit tätige Hypothekarbanken - automatisch bezüglich Erdbebenrisiken einigermassen diversifiziert. Da Pfandbriefe typischerweise gebündelt sind, ist das Erdbebenrisiko einer Anleihe verteilt über Schuldner aus dem ganzen Land, was einen Totalausfall unwahrscheinlich macht.
²7 Quelle: Datenportal der Schweizerischen Nationalbank (SNB), abrufbar unter https://data.snb.ch > Banken > Bankenstatistik > Ausführliche Jahresendstatistik - Konzern > Bilanz > Aktiven > Hypothekarforderungen Inland.
²8 Quelle: Geschäftsberichte der beiden Pfandbriefzentralen für die Geschäftsjahre 2023.
4.3.4 Unternehmen
Unternehmen insgesamt sind als Gebäudeeigentümer ebenfalls vom vorgeschlagenen Finanzierungsinstrument betroffen und im Umfang der auf Gesetzesstufe zu erlassenden Ausführungsbestimmungen sowohl beitragspflichtig als auch leistungsberechtigt. Die finanziellen Risiken der Unternehmen im Bereich Erdbeben werden deshalb im Umfang des vorgeschlagenen Finanzierungsinstruments ebenfalls reduziert (je nach Umsetzung auf Gesetzesstufe allenfalls mit Ausnahme der Gebäude mit einer Gebäudeversicherungssumme über 25 Millionen Franken [vgl. Ziff. 3.3.3]). Die Unternehmen können deshalb darauf vertrauen, dass auch ihre Kundinnen und Kunden gegen Erdbebenschäden bis zum Erreichen der Kapazitätsgrenze von 22 Milliarden Franken gesichert sind, was für einen erfolgreichen Wiederaufbau nach einem Schadenbeben von grosser Bedeutung ist (vgl. Ziff. 4.3.7).
Das vorgeschlagene Finanzierungsinstrument schafft gemäss den gängigen Bilanzierungsvorschriften für Unternehmen wie den Standards «IAS 37 Provisions, Contingent Liabilities and Contingent Assets» der International Financial Reporting Standards (IFRS) von 2024 ²9 oder den Fachempfehlungen zur Rechnungslegung Swiss GAAP-FER 23 3⁰ keine neue Pflicht zur Bildung von Rückstellungen im Umfang der zu leistenden Beiträge im Fall eines Schadenbebens. Diese zum Zweck der Unternehmensführung auf ein Geschäftsjahr ausgelegten Bilanzierungsregeln berücksichtigen für die Festlegung von Rückstellungen nur die Eintretenswahrscheinlichkeit eines Erdbebens und nicht die Erdbebenrisiken eines Unternehmens. Aufgrund der Seltenheit von verheerenden Schadenbeben ist diese Eintretenswahrscheinlichkeit in jedem einzelnen Jahr gering (vgl. Ziff. 1.7). Rückstellungen sind grundsätzlich erst vorzunehmen, wenn eine faktische oder rechtliche Verpflichtung und auch der zukünftige Mittelabfluss wahrscheinlich sind. Im vorliegenden Fall würde mit der gesetzlichen Einführung des vorgeschlagenen Finanzierungsinstruments zwar eine neue rechtliche Verpflichtung geschaffen, die Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Mittelabflusses aufgrund eines Schadenbebens bliebe jedoch in jedem einzelnen Jahr unterhalb der Wahrscheinlichkeitsschwelle, die zu einer Rückstellungspflicht führen würde. Es handelt sich deswegen um eine ausserbilanzielle Eventualverbindlichkeit, für die zumindest nach den IFRS keine Rückstellungen zu bilden sind. Andernfalls müssten Unternehmen ohne ausreichende Versicherung gegen die Gefahr Erdbeben bereits heute entsprechende Rückstellungen bilden, die bei Eintritt eines Schadenbebens zur Begleichung der ausstehenden Hypotheken zu verwenden wären.
²9 Abrufbar unter:
www.ifrs.org
> IFRS Accounting Standards Navigator > IAS 37 Provisions, Contingent Liabilities and Contingent Assets > Standard.
3⁰ Abrufbar unter: www.fer.ch > Standards > Swiss GAAP FER 23 Rückstellungen.
4.3.5 Pensionskassen und Vorsorgeeinrichtungen
Pensionskassen und Vorsorgeeinrichtungen sind als bedeutende Investoren in inländische Immobilien ebenfalls dem Risiko Erdbeben ausgesetzt. Die über 1300 Pensionskassen und Vorsorgeeinrichtungen haben gemäss der aktuellen Pensionskassenstatistik des Bundesamts für Statistik (BFS) per Ende 2022 gut 24 Prozent ihrer Aktiven oder rund 250 Milliarden Franken in Immobilien investiert - über drei Viertel davon in der Schweiz. 3¹ Die erwirtschafteten Erträge aus den Immobiliengeschäften werden von den Pensionskassen auch verwendet, um Renten an über 1,3 Millionen Personen zu bezahlen. Eine Unterdeckung von Erdbebenrisiken bei Pensionskassen impliziert für Arbeitnehmerinnen und -nehmer sowie für Unternehmen als Arbeitgeber das Risiko, nach einem Erdbeben Sanierungsbeiträge wegen Verlusten auf betroffenen Immobilien leisten zu müssen. Es ist nicht bekannt, wie viele der Pensionskassen ihre direkten und indirekten Immobilienanlagen gegenwärtig gegen Erdbeben versichern.
Im Hypothekarbereich sind Pensionskassen denselben Risiken ausgesetzt wie die Banken (vgl. Ziff. 4.3.3). Neben direkten und indirekten Immobilienanlagen sind sie auch im inländischen Hypothekargeschäft tätig, wenn auch volumenmässig deutlich geringer. Per Ende 2022 beliefen sich die ausstehenden Hypotheken auf 27 Milliarden Franken. Dies entspricht einem Anteil von 2 Prozent am inländischen Hypothekarmarkt. Hypotheken werden nur zu einem kleinen Teil gegen Erdbeben abgesichert.
Sofern ein Gebäude nicht den auf Gesetzesstufe zu definierenden Schwellenwert übersteigt (vgl. Ziff. 3.3.3), sind auch Pensionskassen und Vorsorgeeinrichtungen, die Gebäudeeigentümerinnen sind, bei einem Ereignis im Rahmen der jeweiligen Gebäudeversicherungssumme beitragspflichtig, aber auch leistungsberechtigt. Insgesamt besteht bei Pensionskassen und Vorsorgeeinrichtungen, die ihre Erdbebenrisiken versichern, ein gewisses Einsparpotenzial gegenüber heute (vgl. Ziff. 4.3.1), da auf die jährliche Prämie für die Erdbebenversicherung verzichtet werden kann.
3¹ Quelle: Pensionskassenstatistik 2022, abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statistiken > Soziale Sicherheit > Berufliche Vorsorge > Pensionskassenstatistik 2022.
4.3.6 Mieterinnen und Mieter
Mieterinnen und Mieter sind nicht erfasst von der Pflicht für einen Solidaritätsbeitrag und sind deshalb indirekt von der vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 betroffen, wenn es zu Überwälzungen auf die Mieten kommen sollte. Der Nutzen der vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 liegt nicht nur bei den Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümern, sondern auch bei den Mieterinnen und Mietern, weil sie im Gegensatz zu heute die Sicherheit haben, dass die Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer über die finanziellen Mittel verfügen, beschädigte Gebäude wieder aufzubauen oder zu reparieren.
4.3.7 Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft
Die Auswirkungen eines Schadenbebens auf die Gesamtwirtschaft sind komplex. Ein Schadenbeben kann einerseits grosse Auswirkungen auf die regionale Wirtschaft haben, die teilweise über die Zeit bestehen bleiben und auch andere Regionen oder das ganze Land betreffen können. Gemäss einer Studie über die wirtschaftlichen Auswirkungen von über 7000 Schadenbeben, die sich zwischen 1900 und 2012 auf der Welt ereignet haben, sind die indirekten Auswirkungen von Schadenbeben etwa wegen Betriebsunterbruch oder Umsatzausfall bei den Unternehmen häufig gleich gross oder gar noch grösser als die direkten Schäden bei Gebäuden oder an der Infrastruktur. 3² Andererseits erfolgt unmittelbar nach einem Erdbeben typischerweise eine regional starke Zunahme der Bau- und Ausrüstungsinvestitionen. Wiederaufbautätigkeiten müssen geplant und koordiniert werden, damit möglichst keine Knappheit von Zwischenprodukten oder Arbeitskräften auftritt. Offene Märkte und funktionierende Preissignale können dazu beitragen, Knappheit zu vermeiden und die vorhandenen Ressourcen möglichst effizient einzusetzen. Ein möglichst rascher Wiederaufbau soll dafür sorgen, dass der physische Kapitalstock wiederaufgebaut werden kann, Firmen ihre Produktionstätigkeit in betroffenen Gebieten behalten und das vorhandene Humankapital nicht verloren geht - etwa indem Teile der Bevölkerung die Region dauerhaft verlassen. Eine umfassende Absicherung von Erdbebenrisiken schafft Perspektiven und erleichtert die Planung für einen allfälligen Katastrophenfall. Die flächendeckende Absicherung von Gebäudeschäden, wie durch den in der Motion 20.4329 vorgeschlagenen Mechanismus vorgesehen, ist eine Voraussetzung für einen raschen Wiederaufbau. Gebäudekomplexe im Stockwerkeigentum oder ganze Häuserzeilen im Besitz von unterschiedlichen Parteien könnten nicht instand gestellt werden, wenn einzelne Parteien nicht ausreichend finanziell abgesichert sind, da dann die Finanzierung insgesamt nicht sichergestellt ist. Eine flächendeckende Absicherung ist somit eine wichtige Grundlage, damit ein Schadenbeben in der Schweiz erfolgreich bewältigt werden kann.
3² Daniell J., Khazai B., Vervaeck, A. und Wenzel F. (2012), The worldwide economic impact of earthquakes, Proceedings of the 15th World Conference of Earthquake Engineering.
5 Rechtliche Aspekte
5.1 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz
Die Schweiz hat keine internationalen Verpflichtungen bezüglich der Handhabung von Erdbebenrisiken oder von deren finanziellen Vorsorge, die nicht mit dieser Vorlage vereinbar wären. Erdbeben sind nach Artikel 173 Absatz 3 Buchstabe e der Aufsichtsverordnung vom 9. November 2005 3³ nicht von der Elementarschadenversicherung gedeckt und sind deshalb auch ausgenommen vom Abkommen vom 19. Dezember 1996 ³4 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Fürstentum Liechtenstein betreffend die Direktversicherung sowie die Versicherungsvermittlung.
3³ SR 961.011
³4 SR 0.961.514
5.2 Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.
5.3 Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
Das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz werden eingehalten. Der Bund erhält eine Kompetenz mit nachträglich derogatorischer Wirkung, die Zuständigkeit der Kantone für den Schutz vor Erdbeben bleibt bestehen. Die neue Bundeskompetenz zielt auf die Finanzierung von Schadenfolgen von Erdbeben durch die Gebäudeeigentümerinnen und -eigentümer in der ganzen Schweiz ab, indem diese zur Deckung der Schäden bis zu einer Obergrenze beitragen sollen. Dadurch werden mögliche finanzielle Aufwendungen der öffentlichen Hand reduziert und die Funktionsfähigkeit der verschiedenen Staatsebenen nach einem Schadenbeben besser gewährleistet.
Anhang 1
Internationaler Vergleich zur Finanzierung von Erdbebenrisiken
Der nachfolgende internationale Vergleich der Finanzierung von Erdbebenrisiken beruht auf der Publikation der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) «Financial Management of Earthquake Risk» aus dem Jahr 2018 ³5 .
Versicherungsschutz vor Erdbebenrisiken im internationalen Vergleich
Wie in den beiden untenstehenden Abbildungen ersichtlich ist, besteht in den wenigsten Ländern der Welt eine flächendeckende finanzielle Absicherung des Erdbebenrisikos. Diese finanzielle Absicherungslücke macht die Betroffenen anfällig für Verluste durch Erdbeben. In den letzten 20 Jahren waren rund 85 Prozent der globalen Erdbebenschäden nicht versichert.
³5 Auf Englisch abrufbar unter:
www.oecd-ilibrary.org
> Catalogue > Books > Finance and Investment > 2018.
Abbildung 5
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Geschätzter Anteil Haushalte mit einer Erdbebenversicherungsdeckung. Quelle: OECD.
Die unterschiedlichen Deckungsgrade von Erdbebenrisiken erklären sich primär durch Beteiligungen des Staates an der Deckung vor Erdbebenrisiken. In einigen Ländern wurden öffentliche Erdbeben-(Rück-)Versicherungsvereinbarungen getroffen, um einen möglichst breiten Versicherungsschutz zu erreichen. Damit können auch sehr hohe Durchdringungsraten erreicht werden. Zu diesen Ländern gehören häufig Länder mit einer überdurchschnittlich hohen Erdbebengefährdung wie Neuseeland, Island, Türkei oder Japan. In vielen Ländern ist hingegen die private Deckung von Erdbebenrisiken die hauptsächliche Form der Erdbebenvorsorge (etwa in Italien, Griechenland, Australien, Österreich, Portugal oder Deutschland). Einige dieser Länder haben eine potenziell hohe Erdbebengefährdung. In den meisten dieser Länder ist die Durchdringung von Erdbebenversicherungen gering, obwohl es einige Länder gibt, die ähnliche Durchdringungsraten erreicht haben wie Länder mit speziellen öffentlichen Versicherungssystemen, die in der Regel eine begrenzte Deckung vorsehen.
Abbildung 6
[Bild bitte in Originalquelle ansehen]
Durchdringungsraten von Erdbebenversicherungen nach Art des Angebots oder Grad der Verpflichtung. Quelle: OECD.
Öffentliche Erdbebenversicherungen
Ein nicht abgesichertes Erdbebenrisiko kann für Staaten eine implizite Staatsgarantie bedeuten, da im Ereignisfall erwartet wird, dass denjenigen ohne ausreichende Versicherung nach einem schwerwiegenden Erdbeben geholfen wird. Die Art und Weise, wie die Wiederaufbaukosten eines Erdbebens verwaltet werden, kann sich jedoch ex ante auch auf die Anreize zur Risikominderung auswirken, die für Haushalte, Unternehmen und subnationale Regierungsebenen bestehen. In mehreren Ländern spielen Regierungen eine Rolle bei der Bereitstellung von Versicherungsschutz für das Erdbebenrisiko. Der Schutz wurde häufig speziell eingerichtet, um eine hohe Erdbebengefährdung anzugehen (z. B. in Kalifornien in den Vereinigten Staaten, China, Japan, Neuseeland und Taiwan sowie in der Türkei). Verbunden mit der Erdbebendeckung ist typischerweise eine Prämienzahlung. Staatliche Garantien können jedoch dazu führen, dass die Prämienhöhe nicht risikogerecht ausgestaltet ist. Kein Land kennt bislang eine zur vorgeschlagenen Umsetzung der Motion 20.4329 analoge Einrichtung. In Liechtenstein wurde jedoch die Diskussion darüber ebenfalls aufgenommen. Die liechtensteinische Regierung hat am 11. Juli 2023 ³6 einen Bericht veröffentlicht, wie ein analoges Finanzierungsinstrument umgesetzt werden könnte. Die liechtensteinische Regierung lehnt eine eigenständige nationale Lösung ab, da aufgrund der geringen geografischen Ausdehnung Liechtensteins der Solidarkreis zu klein ist. So würde ein Grossteil der Bevölkerung selbst bei einem Erdbeben in Vaduz einen Schaden erleiden. Die Regierung hat jedoch die Bereitschaft signalisiert, eine Zusammenarbeit mit der Schweiz zu prüfen.
Regierungen können direkt Versicherungsschutz bereitstellen und die Systeme verwalten oder die Bereitstellung von Erdbebenversicherungen durch private Versicherer unterstützen, indem sie irgendeine Form von mit öffentlichen Geldern finanzierte Rückversicherung oder Garantie bereitstellen. Die öffentlichen Versicherungssysteme in Kalifornien (Vereinigte Staaten), China, Island, Neuseeland, Rumänien, Spanien, im Kanton Zürich und in der Türkei bieten einen beschränkten direkten Versicherungsschutz für das Erdbebenrisiko. In Kalifornien besteht für private Versicherer eine Angebotspflicht bezüglich der Deckung von Erdbebenrisiken. Die Versicherer haben dabei die Wahl, entweder einen Versicherungsschutz der kalifornischen Erdbebenbehörde oder einen eigenen Erdbebenschutz anzubieten. In der öffentlichen Erdbebenversicherung in Frankreich, Japan oder Taiwan tritt der Staat als Rückversicherer auf. In Frankreich schreibt der Staat vor, dass alle Gebäudeversicherungsverträge automatisch auch Deckung vor Schäden durch Erdbeben enthalten müssen, wobei sich die Erstversicherer bei der staatlichen Rückversicherungsgesellschaft Caisse centrale de réassurance rückversichern können. Teilweise können die Erstversicherer die Risiken auch ganz an den staatlichen Rückversicherer übertragen.
In vielen Ländern mit einer Form der öffentlichen Erdbebenversicherungen werden hauptsächlich die Erdbebenrisiken privater Haushalte, also von Wohngebäuden, gedeckt. Dies ist etwa in Japan, Neuseeland, Taiwan, China oder der Türkei der Fall. In Frankreich und Spanien sind zusätzlich auch Geschäftsimmobilien, Motorfahrzeuge und erdbebenbedingte Betriebsunterbrüche gedeckt. In Island und Spanien sind neben Wohn- und Gewerbegebäuden auch die öffentliche Infrastruktur gedeckt. Die meisten Länder wenden dabei eine Obergrenze für die Höhe der Gebäudeschäden an, die durch das System gedeckt werden können. Die jeweiligen Erdbebenversicherungen in Kalifornien, Island und Spanien decken demgegenüber alle Schäden nach Abzug eines Selbstbehalts.
In Island, Rumänien und der Türkei ist der Abschluss einer Erdbebenversicherung obligatorisch. Dies erfolgt im Rahmen einer eigenen spezifischen Erdbebenversicherung. In anderen Ländern mit einer öffentlichen Erdbebenversicherung ist die Deckung des Erdbebenrisikos eine automatische Ergänzung von Feuerversicherungspolicen (etwa Frankreich, Neuseeland oder Spanien). In Japan und Kalifornien ist der Abschluss einer Erdbebenversicherung hingegen freiwillig.
³6 Postulatsbeantwortung der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein vom 11. Juli 2023 betreffend Schaffung einer Liechtensteinischen Erdbebenversicherung mittels eines Systems einer obligatorischen oder einer Eventualverpflichtung, Nr. 67/2023; abrufbar unter:
Liechtensteinischer Postulatsbericht
.
Anhang 2
Übersichtstabelle zu den verwendeten Daten
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| Zitat, Fundstelle | Quelle, Herleitung, Annahmen | Letzte Aktualisierung |
|---|---|---|
| Übersicht: Gebäudeschäden im Umfang von ungefähr 45 Mia. Fr. bei einer Wiederholung des Basler Erdbebens | Schätzung SED basierend auf neuem Schweizer Erdbebenrisikomodell | 2023 |
| Ziff. 1.7: durchschnittlich 1000-1500 Erdbeben pro Jahr | SED | 2024 |
| Ziff. 3.3.3: 2600 Bundesbauten | Bundesamt für Bauten und Logistik | 2023 |
| Ziff. 3.3.3: 2,7 Mio. versicherte Gebäude | SVV und VKG | 2022 |
| Ziff. 3.3.3: 6500 Gebäude mit einer Gebäudeversicherungssumme von mehr als 25 Mio. Fr. | SVV und VKG | 2022 |
| Ziff. 4.3.1: rund 15 % der Gebäude in der Schweiz gegen Schäden durch Erdbeben versichert | SVV und VKG | 2022 |
| Ziff. 4.3.1: Prämienvergleich für eine Erdbebenversicherung | Preisofferten von 6 Anbietern von Erdbebenversicherungen für ein repräsentatives Objekt in den drei Gemeinden Bern, St. Gallen und Visp. Die Offerten wurden durch die Firma Risk Agent GmbH im Auftrag des SIF eingeholt. | 2023 |
| Ziff. 4.3.2: Deckungskapazität der Schweizer Versicherer für das Risiko Erdbeben zwischen 10-25 Mia. Fr. | Schätzung SVV beruhend auf einer Umfrage | 2022 |
| Ziff. 4.3.2: Prämieneinnahmen im Zusammenhang mit Erdbebenrisiken aller Art im Umfang von 212 Mio. Fr. | FINMA | 2024 |
| Ziff. 4.3.2 Volumen von 34,8 Mia. Fr. an Hypotheken von Versicherern | FINMA, Versicherungsbericht | 2024 |
| Ziff. 4.3.3 ausstehende Hypotheken der Pfandbriefbanken im Umfang von insgesamt über 170 Mia Fr. | Geschäftsberichte Pfandbriefbank und Pfandbriefzentrale | 2024 |
| Ziff. 4.3.3.: insgesamt Hypotheken im Umfang von rund 1169 Mia. Fr. | SNB, Datenportal | 2024 |
| Ziff. 4.3.5: 24 % der Aktiven von Pensionskassen des Schweizerischen Pensionskassenverbands (rund 250 Mia. Fr.) in Immobilien investiert | Pensionskassenstatistik BFS | 2023 |
Bundesrecht
Botschaft zum Bundesbeschluss über die Einführung einer Kompetenz des Bundes im Bereich der Finanzierung der Behebung von Gebäudeschäden bei Erdbeben
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