BBl 2024 3027
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Bundesgesetz über die Unverjährbarkeit von Mord (Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes) Umsetzung Standesinitiative 19.300; Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates

Bundesgesetz über die Unverjährbarkeit von Mord (Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes) Umsetzung Standesinitiative 19.300; Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates
vom 7. Oktober 2024
Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren
Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf einer Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes. ¹ Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.
Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.
7. Oktober 2024Im Namen der KommissionDer Präsident: Daniel Jositsch
Übersicht
Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates unterbreitet einen Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Unverjährbarkeit von Mord.
Ausgangslage
Die Standesinitiative 19.300 verlangt, dass für Schwerstverbrecher keine Verjährungsfristen gelten sollen.
Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates legt nun einen Entwurf zur Unverjährbarkeit von Mord vor.
Inhalt der Vorlage
Gemäss dem Entwurf soll die Unverjährbarkeit nicht für alle Delikte des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes mit der Strafdrohung «lebenslang» gelten. Im Vordergrund steht klar der Mord, und darauf beschränkt sich demzufolge auch der Vorentwurf.
Die Kommission hat weiter beschlossen, die Unverjährbarkeit von Mord im Jugendstrafgesetz nicht vorzusehen. Eine solche Regelung würde sich nicht mit den bewährten Grundsätzen des schweizerischen Jugendstrafrechts vertragen und könnte überdies zu fragwürdigen Urteilen in der Praxis führen.
Bericht
¹ BBl 2024 3028

1 Ausgangslage

1.1 Standesinitiative 19.300 (St. Gallen)

Am 7. Januar 2019 reichte der Kanton St. Gallen gestützt auf Artikel 115 des Parlamentsgesetzes (ParlG) ² die Initiative 19.300 ein. Die Initiative lautet wie folgt:
«Der Kantonsrat lädt die Bundesversammlung ein, das Schweizerische Strafgesetzbuch dahingehend zu ändern, dass die Verjährungsfrist für lebenslange Strafen von 30 Jahren auf unverjährbar angehoben wird.»
Der Initiantenkreis untermauert sein Anliegen mit den in den letzten Jahrzehnten erzielten Fortschritte in der Rechtsmedizin, insbesondere bei der DNA-Analyse.
Am 10. März 2020 beschloss der Ständerat mit 20 zu 18 Stimmen auf Antrag der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-S, 7/4/2) und gemäss Artikel 109 Absatz 2 ParlG, der Initiative keine Folge zu geben. Da die Ablehnung einer Standesinitiative einen Entscheid beider Räte bedarf (Art. 116 Abs. 3 ParlG), ging die Initiative anschliessend in den Nationalrat, der dem Antrag der Minderheit (13/8) seiner Kommission (RK-N) folgte und am 1. Juni 2021 mit 90 zu 89 Stimmen bei 10 Enthaltungen entschied, der Initiative Folge zu geben. Am 16. Dezember 2021 folgte der Ständerat dem Antrag der Minderheit der RK-S (8/5) und gab der Initiative mit 21 zu 20 Stimmen ebenfalls Folge.
² SR 171.10

1.2 Vorarbeiten der Kommission

An ihrer Sitzung vom 3. November 2022 diskutierte die Kommission gestützt auf ein Arbeitspapier der Verwaltung über die Umsetzung der Initiative und verfeinerte dabei die gewünschte Stossrichtung des Vorentwurfs. Unter Einbezug der Ausführungen der Initiantinnen und Initianten an der Anhörung vom 16. Januar 2020 sprach sich die Kommission für eine Umsetzung in deren Sinne aus, das heisst für eine Abschaffung der Verjährungsfrist nur für Mord (Art. 112 des Strafgesetzbuches [StGB] ³ ) und nicht für eine wortgetreue Umsetzung des eingereichten Textes (womit alle Delikte mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe unverjährbar wären). ⁴
Die Kommission präzisierte zunächst, dass - aus offensichtlichen Gründen der Kohärenz - neben den angestrebten Änderungen des StGB auch das Militärstrafgesetz (MStG) ⁵ anzupassen und das Jugendstrafgesetz (JStG) ⁶ in die Überlegungen miteinzubeziehen ist.
Die Begründung der Standesinitiative beschränkt sich zudem auf die Verfolgungsverjährung (Art. 97 f. StGB). Für die Kommission scheint es jedoch offensichtlich, dass die Vollstreckung von lebenslangen Strafen (Art. 99 Abs. 1 StGB) ebenfalls unverjährbar sein soll. ⁷
Die Kommission beschloss letztlich, das JStG nicht zu ändern. Denn schon bei der Umsetzung der Volksinitiative «für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» wurde die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern (Art. 101 Abs. 1 Bst. e StGB) aus rechtssystematischen und teleologischen Gründen nicht ins JStG übernommen. ⁸
Die Kommission beriet den Vorentwurf an ihrer Sitzung vom 12. Oktober 2023. Das Anliegen der Standesinitiative blieb in der Kommission sehr umstritten: Sie nahm den Vorentwurf in der Gesamtabstimmung mit 5 zu 0 Stimmen bei 6 Enthaltungen an. Sie genehmigte ausserdem den erläuternden Bericht und beschloss die Verlängerung der zweijährigen Frist für die Umsetzung der Standesinitiative durch den Ständerat in der Wintersession 2023 abzuwarten und danach das Vernehmlassungsverfahren zu eröffnen.
Die Kommission hat zwischen dem 9. Januar 2024 bis zum 16. April 2024 zu ihrem Vorentwurf eine Vernehmlassung durchgeführt. Stellung genommen haben 25 Kantone, 4 politische Parteien und 10 Organisationen. Insgesamt gingen damit 39 Stellungnahmen ein. An ihrer Sitzung vom 7. Oktober 2024 hat die Kommission die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis genommen und den entsprechenden Bericht veröffentlicht. ⁹ Sie hat festgestellt, dass die Einführung der Unverjährbarkeit von Mord überwiegend abgelehnt wird (17 Kantone, 2 Parteien und 8 Organisationen lehnen den Vorentwurf ab, während ihn 8 Kantone, 2 Parteien und 1 Organisation begrüssen). Zahlreiche Teilnehmer regen jedoch an, die Verjährungsfristen bei schweren Straftaten generell zu überprüfen (13 Kantone und 4 Organisationen). Insbesondere die Differenz zwischen der Verfolgungsverjährung bei vorsätzlicher Tötung (15 Jahre, Art. 97 Abs. 1 Bst. b) und derjenigen bei Mord (30 Jahre, Art. 97 Abs. 1 Bst. a StGB) wird als stossend empfunden.
Der Handlungsbedarf für eine Regelung zur Unverjährbarkeit von Mord war bereits in den Debatten des Parlaments zur Standesinitiative 19.300 im Rahmen der Vorprüfung sehr umstritten 1⁰ . Die Kommission hat sich an ihrer Sitzung vom 7. Oktober 2024 aber den Argumenten, die für eine Unverjährbarkeit von Mord sprechen, insgesamt angeschlossen und hat mit 5 zu 4 Stimmen beschlossen, ihrem Rat die in die Vernehmlassung gegebene Vorlage unverändert zu unterbreiten sowie diese dem Bundesrat zur Stellungnahme zu überweisen. Eine Minderheit ( Sommaruga , Crevoisier Crelier, Rieder, Schmid) beantragt ihrem Rat, nicht auf die Vorlage einzutreten.
Die Kommission argumentiert vor allem mit Interessen von Opfer-Angehörigen. Deren Interesse an Aufklärung und Bestrafung eines sie betreffenden Morddeliktes nehme auch nach Jahrzehnten nicht ab. 1¹ Dem wird von der Minderheit entgegengehalten, dass mit der Unverjährbarkeit hohe Erwartungen von Angehörigen geweckt und sodann enttäuscht werden könnten: Gerichtsurteile aus dem Ausland zeigten, dass eine Tat nicht immer einer bestimmten Person zugerechnet werden könne, wenn nach Jahrzehnten plötzlich neue Beweismittel auftauchten. ¹2
Die Kommission weist darauf hin, dass technologische Fortschritte wie insbesondere die DNA-Analyse es ermöglichen, auch noch nach Jahrzehnten ein Delikt aufklären zu können. ¹3 Die Minderheit befürchtet, dass damit falsche Hoffnungen geweckt werden könnten: Allein die Zuordnung einer DNA-Spur zu einer bestimmten Person bedeute nicht, dass damit der Täter zweifelsfrei identifiziert sei. Mit zunehmendem Zeitablauf werde die Beweisführung generell schwierig. Neue Technologien ermöglichten es vor allem, Straftaten schneller aufzuklären. ¹4
Die Minderheit weist schliesslich auf die systemische Bedeutung der Verjährung hin, die vor allem in der Wiederherstellung des Rechtsfriedens liege, wenn eine ausreichend lange Zeit verstrichen sei. ¹5
Die Kommission wurde bei ihrer Arbeit gestützt auf Artikel 112 Absatz 1 ParlG vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement unterstützt.
³ SR 311.0
⁴ Dazu eingehend Ziff. 1.4.3.
⁵ SR 321.0
⁶ SR 311.1
⁷ Dazu auch Ziff. 1.4.1.
⁸ Dazu eingehend Ziff. 1.4.2.
⁹ Vernehmlassungsbericht, abrufbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2024 > Parl (Stand 10. Oktober 2024).
1⁰ Dazu schon oben Ziff. 1.1.
1¹ Votum SR Jositsch, AB 2020 S 123 und AB 2021 S 1424; Votum SR Germann, AB 2020 S 124; Votum NR Egger Mike, AB 2021 N 943; Votum SR Z’graggen, AB 2021 S 1427.
¹2 Votum SR Rieder, AB 2020 S 124 und AB 2021 S 1425; Votum NR Hurni AB 2021 N 942; Votum SR Sommaruga (für die Kommission), AB 2021 S 1423; Votum SR Zopfi, AB 2021 S 1427.
¹3 So insb. die Begründung zur Standesinitiative 19.300; Votum SR Germann, AB 2020 S 124; Votum SR Jositsch, AB 2021 S 1424; Votum SR Z’graggen, AB 2021 S 1427.
¹4 Votum SR Sommaruga (für die Kommission), AB 2020 S 122; Votum SR Rieder, AB 2021 S 1425; Votum SR Michel, AB 2021 S 1428.
¹5 Votum NR Brenzikofer (für die Kommission), AB 2021 N 942; Votum SR Bauer, AB 2021 S 1425; Votum SR Sommaruga (für die Kommission), AB 2021 S 1429.

1.3 Die Unverjährbarkeit im geltenden Strafrecht

Das geltende StGB legt in Artikel 101 Absatz 1 die Unverjährbarkeit für folgende Delikte fest:
Völkermord (Art. 264);
Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 264 a Abs. 1 und 2);
Kriegsverbrechen (Art. 264 c Abs. 1-3, 264 d Abs. 1 und 2, 264 e Abs. 1 und 2, 264 f , 264 g Abs. 1 und 2 und 264 h );
Verbrechen, die als Mittel zu Erpressung oder Nötigung Leib und Leben vieler Menschen in Gefahr brachten oder zu bringen drohten, namentlich unter Verwendung von Massenvernichtungsmitteln, durch Auslösen von Katastrophen oder durch Geiselnahme (schwere Terrorakte);
sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 und 1bis), sexueller Übergriff und sexuelle Nötigung (Art. 189), Vergewaltigung (Art. 190), Missbrauch einer urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen Person (Art. 191), Ausnützung einer Notlage oder Abhängigkeit (Art. 193) und Täuschung über den sexuellen Charakter einer Handlung (Art. 193 a ), wenn sie an Kindern unter 12 Jahren begangen wurden.
Das MStG enthält mit Artikel 59 eine analoge Regelung zum StGB.
Die Regelung im JStG trägt den besonderen Gegebenheiten bei jugendlichen Straftätern und den erzieherischen Zwecken des JStG Rechnung. ¹6 Für die Verfolgungs- und die Vollstreckungsverjährung gelten daher erheblich kürzere Fristen als im StGB. ¹7 Folgende Regeln gelten für jugendliche Straftäter:
Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe j JStG verweist für die allgemeinen Regeln zur Verjährung (Fristberechnung etc.) auf das StGB und erklärt dieses für sinngemäss anwendbar.
In Artikel 36 f. JStG werden die Verjährungsfristen auf die Ziele und Zwecke des JStG abgestimmt und damit verkürzt.
Bei Straftaten nach den Artikeln 111-113, 122, 124, 182, 189-191, 193, 193 a , 195 und 197 Absatz 3StGB, die sich gegen ein Kind unter 16 Jahren richten, wird die Verfolgungsverjährung gemäss Artikel 36 Absatz 2 JStG verlängert: Sie dauert in jedem Fall mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers. Diese Änderung erfolgte hauptsächlich im Rahmen der Umsetzung der Lanzarote Konvention. Diese verpflichtet die Vertragsstaaten unter anderem sicherzustellen, dass die Verjährungsfristen für bestimmte Straftaten ausreichend lang sind, um die Einleitung der Strafverfolgung zu ermöglichen, nachdem das Opfer volljährig geworden ist. ¹8 An der Vollstreckungsverjährung gemäss Artikel 37 Absatz 2 JStG wurde hingegen festgehalten.
Die Unverjährbarkeit von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und schweren Terrorakten wird mit dem Verweis in Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe j JStG aus dem StGB übernommen. Diese Regeln gehen den Artikeln 36 f. JStG vor. ¹9 Dieser Ausnahme liegt ebenfalls eine völkerrechtliche Verpflichtung zugrunde, nämlich das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Dessen Umsetzung soll eine effiziente, transparente und lückenlose gesetzliche Regelung und Strafverfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie von Kriegsverbrechen in der Schweiz gewährleisten. Bei diesen Straftaten handelt es sich regelmässig um derart schwere Verbrechen, dass das Strafbedürfnis der internationalen Gemeinschaft auch nach langer Zeit nicht völlig verschwindet. 2⁰
Die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern (Art. 101 Abs. 1 Bst. e StGB) wurde aus systematischen und teleologischen Gründen nicht ins JStG übernommen. 2¹
¹6 Dazu eingehend Ziff. 1.4.2.
¹7
Hug Christoph / Schläfli Patrizia / Valär martina,
in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.) Basler Kommentar JStG (BSK JStG)
,
Basel
2019
, Art. 36 N 1.
¹8 Botschaft vom 4. Juli 2012 zur Genehmigung des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention) sowie zu seiner Umsetzung (Änderung des Strafgesetzbuchs), BBl 2012 7571 , 7641 . Die Regelung im JStG stimmt im Grundsatz überein mit der Regelung in Art. 97 Abs. 2 StGB.
¹9
Hug/Schläfli/Valär
(Fn. 16), Art. 36 N 11.
2⁰ Botschaft vom 23. April 2008 über die Änderung von Bundesgesetzen zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, BBl 2008 3863 , 3912 .
2¹ Botschaft vom 22. Juni 2011 zum Bundesgesetz zur Umsetzung von Art. 123 b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät (Änderung des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes), BBl 2011 5977 , 6003 ff., und
Zurbrügg Matthias,
in
:
Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar StGB (BSK StGB)
,
Basel
2019,
Art. 101 N 16.

1.4 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung

Die Kommission hat verschiedene Möglichkeiten zur Umsetzung des Standesinitiative 19.300 geprüft.

1.4.1 Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung

Die Begründung der Standesinitiative und die Diskussionen im Parlament beschränkten sich auf die Verfolgungsverjährung (Art. 97 f. StGB). Die Änderung ist in sich jedoch nur dann kohärent, wenn die Vollstreckung von lebenslangen Strafen - heute Verjährung nach 30 Jahren (Art. 99 Abs. 1 Bst. a StGB, wie bei der Verfolgungsverjährung) - ebenfalls unverjährbar ist.
Die Unverjährbarkeit ist in Artikel 101 StGB sowohl hinsichtlich Verfolgung als auch Vollstreckung geregelt. 2² Die Standesinitiative kann deshalb mit der Änderung dieser Bestimmung umgesetzt werden.
Zurbrügg
(Fn. 20), Art. 101 N 17.

1.4.2 Regelungsverzicht im JStG

Die Unverjährbarkeit von Mord soll im StGB und im MStG geregelt werden. Für das JStG erachtet die Kommission eine solche Regelung jedoch einstimmig aus folgenden Gründen als systemfremd:
Das JStG ist in erster Linie ein Massnahmenstrafrecht und primär dem Schutz- sowie Erziehungsgedanken verpflichtet. Nicht Sühne und Vergeltung, sondern Erziehung, Förderung und Integration sind die angestrebten Ziele. ²3 Angesichts ihres Alters können Verhaltensänderungen bei Jugendlichen in der Regel gut mit erzieherischen Massnahmen bewirkt werden. Das JStG wird deshalb vom Grundgedanken geleitet, dass Kinder und Jugendliche einer gesonderten strafrechtlichen Behandlung bedürfen. ²4
Die Bestimmungen des StGB gelten für das JStG somit nur ergänzend sowie sinngemäss (Art. 1 Abs. 2 JStG). ²5 Bei der Anwendung der Bestimmungen des StGB auf Jugendliche sind zudem die Grundsätze nach Artikel 2 JStG - insbesondere Schutz und Erziehung des Jugendlichen - zu berücksichtigen (s. Art. 1 Abs. 3 JStG). Die für Jugendliche im Einzelfall ausgefällte Strafe muss sich am Schutz- und Erziehungsgedanken orientieren und die wesentlichen erzieherischen Gesichtspunkte beachten. ²6
So darf eine Strafe bzw. ein Freiheitsentzug nach dem JStG, anders als im Erwachsenenstrafrecht, nicht sehr lange oder gar lebenslang, sondern gemäss Artikel 25 JStG maximal vier Jahre dauern. Die Anordnung eines maximal dauernden Freiheitsentzugs (bzw. der Strafrahmen im Gesetz) ist zudem an strenge Voraussetzungen geknüpft (s. Art. 25 Abs. 2 JStG). Der - im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht sehr niedrige - Strafrahmen von vier Jahren ist (als ultima ratio) nur für eine streng begrenzte Anzahl besonders schwerer Delikte (so beispielsweise für vorsätzliche Tötung und Mord) vorgesehen, welche nach Vollendung des 16. Lebensjahres begangen worden sein müssen.
Diese Ziele und Grundprinzipien des JStG können nicht ohne Weiteres auf Erwachsene übertragen werden, die in ihren Jugendjahren eine Straftat begangen haben - vor allem dann nicht, wenn die Täterin oder der Täter inzwischen bspw. 60 Jahre alt ist. Es würde höchst merkwürdig anmuten, wenn eine 60-jährige Person zu einer jugendstrafrechtlichen (Schutz-) Massnahme oder Sanktion verurteilt würde. Dies ist nach geltendem Recht auch nicht möglich: Der Vollzug sämtlicher jugendstrafrechtlicher Schutzmassnahmen oder Strafen endet von Gesetzes wegen mit Vollendung des 25. Altersjahres (Art. 19 Abs. 2 und 37 Abs. 2 JStG). Befindet sich die Person zu diesem Zeitpunkt im Vollzug einer Strafe oder Massnahme, muss sie bzw. er entlassen werden. ²7
Der Gesetzgeber hat es aus den vorstehenden Gründen abgelehnt, die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern ins JStG zu übernehmen. ²8 Auch auf eine Verlängerung der Verfolgungsverjährung für diese Delikte wurde ausdrücklich verzichtet. Dabei war auch entscheidend, dass solche Taten - begangen von einer unter 18-Jährigen Person - deutlich weniger schwer wiegen als die übrigen in Artikel 36 Absatz 2 JStG aufgelisteten Tatbestände. ²9
Die einzige Regelung zur Unverjährbarkeit im JStG ist auf die Umsetzung des Römer Statuts, also einen völkerrechtlichen Vertrag, zurückzuführen. Dabei geht es insbesondere darum, dass auch noch nach langer Zeit schwerste Verbrechen aufgearbeitet werden können, die eine Gesellschaft als Ganzes betreffen und somit auch eine historische Bedeutung haben. Hier besteht also ein allgemeines Interesse an der Klärung von Verbrechen mit historischer Bedeutung. Dies ist beim Anliegen der vorliegenden Standesinitiative zu verneinen.
²3
Hug/Schläfli/Valär
(
Fn
. 16)
, Art. 2 N 1 und 3; BGE 94 IV 56, 57 f.
²4
Hug/Schläfli/Valär (
Fn
. 16)
, Vor Art. 1 N 1 und 3.
²5
Hug/Schläfli/Valär (
Fn
. 16)
, Art. 1 N 8.
²6
Hug/Schläfli/Valär (
Fn
. 16)
, Art. 2 N 4b (mit Hinweis auf ein Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen).
²7
Hug/Schläfli/Valär (
Fn
. 16)
, Art. 37 N 5; zum Übergang ins Erwachsenenstrafrecht bei besonders gefährlichen jugendlichen Straftätern siehe die Motion 16.3142 Caroni (Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen), die mit dem Geschäft 22.071 Änderung des Strafgesetzbuches und des Jugendstrafgesetzes (Massnahmenpaket Sanktionenvollzug) umgesetzt wird.
²8 Botschaft vom 22. Juni 2011 zum Bundesgesetz zur Umsetzung von Art. 123 b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät (Änderung des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes), BBl 2011 5977 , 6003 ff., und
Zurbrügg (
Fn
. 20)
, Art. 101 N 16.
²9
Hug/Schläfli/Valär (
Fn. 16), Art. 36 N 8.

1.4.3 Beschränkung auf Mord

Die Standesinitiative 19.300 verlangt, dass die Verjährungsfrist von 30 Jahren für Delikte mit lebenslanger Strafe aufgehoben und diese für unverjährbar erklärt werden.
Im StGB sind die folgenden Verbrechen mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht: Mord (Art. 112); qualifizierte Geiselnahme (Art. 185 Ziff. 3); Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 264, Art. 264 a Abs. 2, Art. 264 c Abs. 3, Art. 264 d Abs. 2, Art. 264 e Abs. 2, Art. 264 f Abs. 2, Art. 264 g Abs. 2, Art. 264 h Abs. 2); qualifizierter Angriff auf die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft («Kriegstreiberei», Art. 266 Ziff. 2).
Im MStG sind die folgenden Verbrechen mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht: Ungehorsam vor dem Feind (Art. 61 Abs. 4); Meuterei vor dem Feind (Art. 63 Ziff. 2); Feigheit vor dem Feind (Art. 74); Kapitulation (Art. 75); Wachtverbrechen oder -vergehen vor dem Feind (Art. 76 Ziff. 3); Spionage und landesverräterische Verletzung militärischer Geheimnisse (Art. 86 Ziff. 2); qualifizierter militärischer Landesverrat (Art. 87 Ziff. 3); Franktireur («Freischärler-Tatbestand», Art. 88); qualifizierte Waffenhilfe (Art. 90 Abs. 2); qualifizierte Begünstigung des Feindes (Art. 91 Ziff. 2); Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 108, Art. 109 Abs. 2, Art. 111 Abs. 3, Art. 112 Abs. 2, Art. 112 a Abs. 2, Art. 112 b Abs. 2, Art. 112 c Abs. 2, Art. 112 d Abs. 2); Mord (Art. 116); qualifizierte Geiselnahme (Art. 151 c Ziff. 3). Es ist zu beachten, dass bei einem Grossteil dieser Delikte die lebenslange Freiheitsstrafe nur in Kriegszeiten oder in Zeiten aktiven Dienstes angedroht wird.
In den Diskussionen zur Standesinitiative 19.300 war stets nur von Mord nach Artikel 112 StGB die Rede. Die Kommission schlägt deshalb vor, die Unverjährbarkeit auf Mord zu beschränken .

2 Rechtsvergleich

Es ist schwierig, die Verjährungsregeln in den verschiedenen Ländern zu vergleichen, denn die Regelungen sind sehr heterogen: Die Unverjährbarkeit etwa betrifft zuweilen nur den Mord (z.B. Deutschland) oder aber alle Delikte mit lebenslanger Freiheitsstrafe (z.B. Österreich und Liechtenstein). Oft werden Verjährungsregeln verschärft, wenn das Opfer minderjährig ist. Vereinzelt wird bei der Verjährung darauf abgestellt, wie lange die letzte Ermittlungshandlung zurück liegt (so z.B. Frankreich).
Im Sinne einer groben Übersicht ergibt sich für die Nachbarländer der Schweiz beschränkt auf Mord folgendes Bild:
In Deutschland, Österreich, Liechtenstein und Italien ist Mord unverjährbar. 3⁰ In Deutschland und Österreich ist die Unverjährbarkeit jedenfalls auch im Kontext der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten zu sehen. 3¹ Es bestehen somit starke Parallelen zur Begründung der Unverjährbarkeit von Völkermord, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen auch im schweizerischen StGB. 3²
Frankreich 3³ kennt wie die Schweiz ebenfalls die Verjährbarkeit bei Mord.
3⁰ Eingehend BSK StGB-
Zurbrügg (
Fn. 20), Vor Art. 97-101 N 25 ff.
Schmid Johann
, in Laufhütte et al. (Hrsg.), Leipziger Kommentar StGB, Berlin 2008, § 78 N 5.
3² Dazu vorne Ziff. 1.3.
3³ Eingehend BSK StGB-
Zurbrügg (
Fn. 20), Vor Art. 97-101 N 30 ff.

3 Grundzüge der Vorlage

3.1 Die beantragte Neuregelung

Gemäss dem E-StGB soll nur der Mord (Art. 112 StGB) unverjährbar sein. Völkermord, Kriegsverbrechen etc. sind bereits nach geltendem Recht unverjährbar (s. oben Ziff. 1.3).
Die Rückwirkung wird wie bei der Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern geregelt. ³4
Die Änderungen im E-StGB werden entsprechend in den E-MStG übertragen.
³4 Dazu Ziff. 4, Erläuterungen zu Art. 101 Abs. 3 Satz 4 (neu) E-StGB.

4 Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln

Art. 101 Abs. 1 Bst. f (neu)
Artikel 101 StGB regelt die Unverjährbarkeit. Der Mord wird neu in den Katalog der unverjährbaren Straftaten gemäss Absatz 1 aufgenommen. Für das Militärstrafrecht soll Artikel 59 Absatz 1 MStG entsprechend ergänzt werden.
Art. 101 Abs. 3 Satz 4 (neu) E-StGB
Ein Strafgesetz darf keine Rückwirkung auf Verhaltensweisen haben, die vor seinem Inkrafttreten erfolgt sind. Im Bereich der Verjährung ist der Grundsatz der lex mitior ausdrücklich in Artikel 389 StGB verankert. Er sieht vor, dass die Anwendung einer neuen Verjährungsfrist auf einen Sachverhalt, der vor Inkrafttreten dieser Frist eingetreten ist, nur dann zulässig ist, wenn sie für den Täter günstiger ist. Der Gesetzgeber kann jedoch von dieser Regel abweichen, wenn er dies im Gesetz ausdrücklich vorsieht (Art. 389 Abs. 1 erster Satzteil StGB).
Der Bundesrat hat in der Botschaft zur Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative eingehend dargelegt, welche Regeln bei der Rückwirkung von Verjährungsbestimmungen zu beachten sind. ³5 Daraus ergeben sich folgende Konstellationen:
Ist die Straftat zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts nach dem zum Zeitpunkt der Tat anwendbaren Recht bereits verjährt, so kann die Verjährung durch das neue Recht nicht aufgehoben werden.
Ist hingegen die Straftat nach dem zum Zeitpunkt der Tat anwendbaren Recht zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts noch nicht verjährt, so kann der Gesetzgeber gestützt auf Artikel 389 StGB die Unverjährbarkeit für solche Straftaten vorsehen.
Ist die Straftat nach dem Inkrafttreten des neuen Rechts begangen worden, wird die Verjährung nach dem neuen Recht beurteilt.
Die Rückwirkung wird in Artikel 101 Absatz 3 Satz 4 E-StGB gemäss diesen Regeln festgelegt. Mit Artikel 59 Absatz 3 Satz 4 E-MStG wird eine analoge Regelung für das Militärstrafrecht vorgeschlagen.
³5 Botschaft vom 22. Juni 2011 zum Bundesgesetz zur Umsetzung von Art. 123 b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät (Änderung des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes), BBl 2011 5977 , 6005 f.

5 Auswirkungen

5.1 Auswirkungen auf den Bund

Die Strafverfolgung und der Straf- und Massnahmenvollzug betreffen primär die Kantone (Art. 123 Abs. 2 BV), weshalb keine wesentlichen finanziellen und personellen Auswirkungen auf den Bund zu erwarten sind.

5.2 Auswirkungen auf Kantone

Weil die Ermittlungen bei einem Tötungsdelikt mit Verdacht auf Mord jederzeit wieder aufgenommen werden können, fallen entsprechende Kosten an. Diese können nicht beziffert werden. Weil solche Delikte selten sind, dürften die finanziellen Auswirkungen nicht besonders hoch sein.

6 Rechtliche Aspekte

6.1 Verfassungsmässigkeit

Nach Artikel 123 BV ist der Bund zur Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts und Strafprozessrechts befugt.

6.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Die Änderung des StGB und des MStG wirft mit Blick auf internationale Verpflichtungen keine besonderen Fragen auf.
Bundesrecht
Bundesgesetz über die Unverjährbarkeit von Mord (Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes). Umsetzung Standesinitiative 19.300; Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher. Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates
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