Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Notenaustausches zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1862 in Bezug auf die Eingabe von Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das Schengener Informationssystem (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands)
Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Notenaustausches zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1862 in Bezug auf die Eingabe von Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das Schengener Informationssystem (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands)
vom 13. November 2024
Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung und die Umsetzung des Notenaustausches vom 17. August 2022 zwischen der Schweiz und der Europäischen Union betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1862 in Bezug auf die Eingabe von Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das Schengener Informationssystem (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands).
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 13. November 2024 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Übersicht
Gegenstand dieser Vorlage ist die Übernahme und Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1862 in Bezug auf die Eingabe von Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das Schengener Informationssystem (SIS). Diese Verordnung sieht vor, dass Europol Informationen betreffend Drittstaatsangehörige, die der Beteiligung an terroristischen oder sonstigen schweren Straftaten verdächtigt werden, an einen Schengen-Staat übermitteln kann, damit dieser eine Informationsausschreibung im SIS vornehmen kann.
Ausgangslage
Mit dem Schengen-Assoziierungsabkommen (SAA) hat sich die Schweiz grundsätzlich zur Übernahme aller Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands verpflichtet (Art. 2 Abs. 3 und Art. 7 SAA). Die Übernahme eines neuen Rechtsakts erfolgt dabei in einem besonderen Verfahren, das die Notifikation der Weiterentwicklung durch die zuständigen EU-Organe und die Übermittlung einer Antwortnote seitens der Schweiz umfasst.
Inhalt der Vorlage
Die Verordnung (EU) 2022/1190 sieht vor, dass Europol (Agentur der EU für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung) Informationen betreffend Drittstaatsangehörige, die der Beteiligung an terroristischen oder sonstigen schweren Straftaten verdächtigt werden, an einen Schengen-Staat übermitteln und ihm vorschlagen kann, dass er im Interesse der Union eine Informationsausschreibung zu diesen Drittstaatsangehörigen im SIS vornimmt. Ausserdem ist vorgesehen, dass Europol den Schengen-Staaten Sachfahndungsausschreibungen vorschlagen kann, wenn diese Sachen mit einer Person verbunden sind, die bereits Gegenstand einer Informationsausschreibung ist.
Im Falle eines Treffers («Hit») zu einer Informationsausschreibung anlässlich einer Kontrolle sieht die Verordnung (EU) 2022/1190 vor, dass der Staat, in dem der Treffer erfolgt (der vollziehende Staat), die notwendigen Informationen verdeckt einholt und diese dem ausschreibenden Staat sowie Europol übermittelt. Dazu gehören namentlich die Tatsache, dass die Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, ausfindig gemacht wurde, Ort, Zeit und Grund der Kontrolle, Route und Bestimmungsort; Gegenstand der Informationsausschreibung sind ferner die Begleitpersonen der Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, wenn nach Lage der Dinge davon ausgegangen werden kann, dass sie mit der ausgeschriebenen Person in Verbindung stehen, oder auch mitgeführte Sachen einschliesslich Reisedokumente. An der Tatsache, dass Europol selbst keine Ausschreibungen im SIS erfassen kann, ändert die Verordnung (EU) 2022/1190 nichts.
Umsetzung in das schweizerische Recht
Die Umsetzung der Schengen-Weiterentwicklung ins Landesrecht erfordert eine Teilrevision des Bundesgesetzes über die polizeilichen Informationssysteme des Bundes.
Botschaft
1 Ausgangslage
1.1 Einleitung
Das Schengener Informationssystem (SIS) ist das Hauptinstrument für den Informationsaustausch zwischen den zuständigen nationalen Behörden im Schengen-Raum hinsichtlich Personen- und Sachfahndungen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung oder Verfolgung von Straftaten oder für die Strafvollstreckung. Am 6. Juli 2022 verabschiedete die Europäische Union (EU) die Verordnung (EU) 2022/1190 zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1862 ¹ in Bezug auf die Eingabe von Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das SIS. ²
Die Verordnung (EU) 2022/1190 sieht vor, dass Europol (Agentur der EU für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung) Informationen betreffend Drittstaatsangehörige, die der Beteiligung an terroristischen oder sonstigen schweren Straftaten verdächtigt werden, an einen Schengen-Staat übermitteln und ihm vorschlagen kann, dass er im Interesse der Union eine Informationsausschreibung zu diesen Drittstaatsangehörigen im SIS vornimmt. Dabei präzisiert die Verordnung, dass der Vorschlag von Europol zur Ausschreibung durch den angefragten Staat überprüft werden muss. Die Eingabe der Informationsausschreibung in das SIS liegt im Ermessen des Staats, der den Vorschlag von Europol erhalten hat (der ausschreibende Staat). Ausserdem ist vorgesehen, dass Europol den Mitgliedstaaten Sachfahndungsausschreibungen vorschlagen kann, wenn diese Sachen mit einer Person verbunden sind, die bereits Gegenstand einer Informationsausschreibung ist. An der Tatsache, dass Europol selbst keine Ausschreibungen im SIS erfassen kann, ändert die Verordnung (EU) 2022/1190 nichts.
Im Falle eines Treffers («Hit») zu einer Informationsausschreibung anlässlich einer Kontrolle sieht die Verordnung (EU) 2022/1190 vor, dass der Staat, in dem der Treffer erfolgt (der vollziehende Staat), die notwendigen Informationen verdeckt einholt und diese dem ausschreibenden Staat sowie Europol übermittelt. Dazu gehören namentlich die Tatsache, dass die Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, ausfindig gemacht wurde, Ort, Zeit und Grund der Kontrolle, Route und Bestimmungsort; Gegenstand der Informationsausschreibung sind ferner die Begleitpersonen der Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, wenn nach Lage der Dinge davon ausgegangen werden kann, dass sie mit der ausgeschriebenen Person in Verbindung stehen, sowie mitgeführte Sachen einschliesslich Reisedokumente oder auch die Umstände, unter denen die Person ausfindig gemacht wurde.
¹ Verordnung (EU) 2018/1862 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, zur Änderung und Aufhebung des Beschlusses 2007/533/JI des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1986/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und des Beschlusses 2010/261/EU der Kommission, ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 56; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2022/1190, ABl. L 185 vom 12.7.2022, S. 1.
² Verordnung (EU) 2022/1190, ABl. L 185 vom 12.7.2022, S. 1.
1.2 Handlungsbedarf und Ziele
Mit dem Schengen-Assoziierungsabkommen (SAA) ³ hat sich die Schweiz grundsätzlich zur Übernahme aller Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands verpflichtet (Art. 2 Abs. 3 SAA). Die Übernahme eines neuen Rechtsakts erfolgt dabei in einem besonderen Verfahren, das die Notifikation der Weiterentwicklung durch die zuständigen EU-Organe und die Übermittlung einer Antwortnote seitens der Schweiz umfasst (Art. 7 Abs. 2 SAA).
Zum Schengen-Besitzstand gehören die EU-Rechtsakte zum SIS. Am 28. November 2018 verabschiedeten das Europäische Parlament und der Rat der EU ein Reformpaket von drei EU-Verordnungen, das die sachliche und technische Weiterentwicklung des SIS zum Ziel hatte. Dabei handelte sich im Bereich Migration um die beiden EU-Verordnungen zur Grenzkontrolle ⁴ und Rückkehr ⁵ und im Bereich der «polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen» um die Verordnung (EU) 2018/1862 (nachfolgend Verordnung «SIS Polizei»).
Mit diesem Reformpaket wurden die bisherigen Rechtsgrundlagen des SIS stufenweise abgeändert und ergänzt. Seit dem 7. März 2023, dem Zeitpunkt der Inbetriebnahme des neuen SIS, sind sie nun vollständig anwendbar.
Noch bevor die gesetzlichen Grundlagen zur Umsetzung der EU-Verordnung «SIS Polizei» in der Schweiz in Kraft traten, verabschiedeten das Europäische Parlament und der Rat der EU am 6. Juli 2022 eine weitere EU-Verordnung, die den Schengen-Staaten die Eingabe von Ausschreibungen im SIS auf Vorschlag von Europol ermöglicht. Basierend auf Vorschlägen von Europol ändert diese Verordnung (EU) 2022/1190 die Verordnung «SIS Polizei» in Bezug auf die Eingabe von Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das SIS. Dadurch soll eine bestehende Lücke im Informationsaustausch geschlossen werden.
Schwere Kriminalität und Terrorismus sind häufig globaler Natur. Daher können Informationen von Drittstaaten und internationalen Organisationen über Personen, die der schweren Kriminalität und des Terrorismus verdächtigt werden, auch für die Sicherheit im Schengen-Raum von entscheidender Bedeutung sein.
Europol spielt eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Terrorismus und schweren Straftaten, indem die Agentur Analysen und Einschätzungen der Bedrohungslage bereitstellt, um die Ermittlungen der nationalen Strafverfolgungsbehörden zu unterstützen. Vielfach gelangen Informationen einer internationalen Organisation oder eines Drittstaats über Personen, die schwere Kriminalität und Terrorismus begehen oder solcher Delikte verdächtigt werden, direkt zu Europol, insbesondere, wenn es sich bei den betreffenden Personen um Drittstaatsangehörige handelt. Bislang hatten die Schengen-Staaten bzw. ihre einschlägigen Endnutzerinnen und Endnutzer des SIS keinen Zugriff auf solche Informationen, wenn ihnen diese nicht über die üblichen Kommunikationskanäle - etwa via Interpol - weitergegeben wurden. Ausserdem sind die Mitgliedstaaten derzeit aufgrund ihres nationalen Rechts nicht immer in der Lage, auf der Grundlage solcher Informationen Ausschreibungen in das SIS einzugeben.
Diese Lücke beim Informationsaustausch wird nun insofern geschlossen, als Europol gemäss der Verordnung (EU) 2022/1190 einem Schengen-Staat analysierte und verifizierte Informationen zu Drittstaatsangehörigen übermitteln kann und Schengen-Staaten auf diesen Vorschlag von Europol Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das SIS eingeben können, um die entsprechenden Informationen unmittelbar und in Echtzeit zur Verfügung zu stellen. Der Schengen-Staat entscheidet nach seinem Ermessen, ob er die von Europol zur Ausschreibung vorgeschlagenen Personen in einer neugeschaffenen Ausschreibungskategorie - der Informationsausschreibung - im SIS erfassen will. Dabei könnte es zum Beispiel um eine Information gehen, wonach ein mutmasslicher Terrorist in Europa ein Attentat plant. Nimmt der betreffende Schengen-Staat die Ausschreibung auf Vorschlag von Europol vor, so wird er zum «ausschreibenden Staat». Europol kann weiterhin nicht selbst Ausschreibungen im SIS tätigen; diese Kompetenz bleibt den Schengen-Staaten vorbehalten. Führt eine Personenkontrolle in einem Schengen-Staat (dem «vollziehenden Staat») zu einem Treffer in Verbindung mit einer Informationsausschreibung, so informiert dieser den ausschreibenden Staat sowie Europol. Der vollziehende Staat, welcher die Kontrolle durchführt, hat in einem Trefferfall den Auftrag, ganz oder teilweise die in der Verordnung (EU) 2022/1190 aufgeführten Informationen zur Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung im SIS ist, einzuholen und zu übermitteln.
Die Verordnung (EU) 2022/1190 wurde der Schweiz am 1. Juli 2022 als Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands notifiziert. Am 17. August 2022 hat der Bundesrat den Notenaustausch zur Übernahme der Verordnung unter Vorbehalt der parlamentarischen Genehmigung gutgeheissen. Durch die Übermittlung der Antwortnote bezüglich Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 an die EU, vorbehaltlich der Erfüllung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, ist der Notenaustausch am selben Tag erfolgt.
³ SR 0.362.31
⁴ Verordnung (EU) 2018/1861 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der Grenzkontrollen, zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und zur Änderung und Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006, ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 14.
⁵ Verordnung (EU) 2018/1860 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Nutzung des Schengener Informationssystems für die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 312 vom 7.12.2018, S. 1; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2021/1152, ABl. L 249 vom 14.7.2021, S. 15.
1.3 Verlauf der Verhandlungen
Am 9. Dezember 2020 legte die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung «SIS Polizei» in Bezug auf die Eingabe von Ausschreibungen durch Europol (nachfolgend «Vorschlag SIS») vor.
Zusätzlich brachte sie den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/794 ⁶ über Europol in Bezug auf die Zusammenarbeit von Europol mit privaten Parteien, die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Europol zur Unterstützung strafrechtlicher Ermittlungen und die Rolle von Europol in Forschung und Innovation ein (nachfolgend «Vorschlag Europol»).
Der portugiesische Vorsitz des Rates der EU entschied, im ersten Halbjahr 2021 prioritär den Vorschlag Europol und erst anschliessend den Vorschlag SIS zu behandeln. Folglich wurde der Vorschlag SIS am 3. Februar 2021 erstmals einer Arbeitsgruppe des Rates der EU vorgelegt. Seine weitere Beratung erfolgte erst im zweiten Halbjahr 2021 unter slowenischem Vorsitz. Während der Beratung des Vorschlags Europol kristallisierte sich heraus, dass eine Befugnis von Europol, selbst Ausschreibungen im SIS vornehmen können, nicht mehrheitsfähig war. In der Folge unterbreitete der slowenische Vorsitz der zuständigen Arbeitsgruppe des Rates der EU am 16. Juli 2021 einen Kompromissvorschlag. Die Arbeitsgruppe schloss ihre Arbeiten im Oktober 2021 ab.
Wie bereits erwähnt war die Frage der Zuständigkeit zur Eingabe von Ausschreibungen betreffend Informationen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das SIS ein zentraler Diskussionspunkt. Der Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission sah vor, dass Europol innerhalb einer neugeschaffenen Ausschreibungskategorie solche Ausschreibungen selbst erfassen können soll. Der Rat der EU entschied jedoch anders: Europol soll nicht selbstständig Ausschreibungen erfassen, sondern einem Mitgliedstaat der EU die Eingabe der Ausschreibung vorschlagen können.
Am 15. Oktober 2021 verabschiedete der LIBE-Ausschuss (Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres) des Europäischen Parlaments seinen Bericht zum Verordnungsvorschlag. Der anschliessende Trilog dauerte von November 2021 bis März 2022 und war begleitet von technischen Meetings und Sitzungen der für das Dossier zuständigen Arbeitsgruppe des Rates der EU. Die Schweiz war an den Sitzungen der Arbeitsgruppe vertreten.
Am Trilog einigten sich der französische Vorsitz und die Vertreterinnen und Vertreter des Europäischen Parlaments auf einen Kompromiss für den Text der Verordnung (EU) 2022/1190. Der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (COREPER) stimmte der Verordnung am 30. März 2022 zu, der LIBE-Ausschuss des Europäischen Parlaments am 31. März 2022. Der Änderungsvorschlag wurde am 8. Juni 2022 vom Plenum des Europäischen Parlaments und am 27. Juni 2022 vom Ministerrat gebilligt. Am 1. Juli 2022 wurde diese Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands der Schweiz bereits vor der offiziellen Verabschiedung notifiziert. Die formelle Verabschiedung der Verordnung folgte am 6. Juli 2022 mit der Unterzeichnung des Rechtsaktes durch die Präsidentin des Europäischen Parlaments und den Präsidenten des Rates der EU.
Zum Zeitpunkt der Notifikation war für die Schweiz die Frage unklar, ob Europol auch der Schweiz die Eingabe von Ausschreibungen im SIS vorschlagen kann, obwohl die Schweiz kein Mitgliedstaat von Europol ist, oder ob die Schweiz «nur» Treffer in Zusammenhang mit Informationsausschreibungen von Mitgliedstaaten von Europol bearbeiten kann, ohne selbst solche Ausschreibungen vornehmen zu können. In der Folge wurde die Frage bilateral zwischen der Schweiz und der EU geklärt. Die Schwierigkeit bestand insbesondere darin, dass die Verordnung zum einen eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands und damit für die Schweiz grundsätzlich verbindlich ist, zum anderen aber Tätigkeiten in Zusammenhang mit Europol regelt, bei der die Schweiz nicht Mitglied ist. Im ersten Halbjahr 2023 hat die Schweiz von der Europäischen Kommission die abschliessende Antwort erhalten, dass Europol Vorschläge für die Eingabe von Ausschreibungen im SIS auch an die Schweiz richten kann und die Schweiz ebenfalls diese Möglichkeit im nationalen Recht umsetzen muss.
⁶ Verordnung (EU) 2016/794 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung (Europol) und zur Ersetzung und Aufhebung der Beschlüsse 2009/371/JI, 2009/934/JI, 2009/935/JI, 2009/936/JI und 2009/968/JI des Rates, ABl. L 135 vom 24.5.2016, S. 53.
1.4 Verfahren zur Übernahme der Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands
Mit der Unterzeichnung des SAA am 26. Oktober 2004 verpflichtete sich die Schweiz nach Artikel 2 Absatz 3 und Artikel 7 SAA, grundsätzlich alle Rechtsakte, welche die EU als Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands erlassen hat, zu übernehmen und, soweit erforderlich, in das schweizerische Recht umzusetzen.
Artikel 7 SAA sieht ein spezielles Verfahren für die Übernahme und Umsetzung von Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands vor. Zunächst notifiziert die EU der Schweiz «unverzüglich» die Annahme eines Rechtsakts, der eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands darstellt. Danach verfügt die Schweiz über eine Frist von dreissig Tagen, um dem zuständigen Organ der EU (Rat der EU oder EU-Kommission) mitzuteilen, ob sie die Weiterentwicklung übernimmt. Die dreissigtägige Frist beginnt mit der Annahme des Rechtsakts durch die EU zu laufen (Art. 7 Abs. 2 Bst. a SAA).
Soweit die zu übernehmende Weiterentwicklung rechtlich verbindlicher Natur ist, bilden die Notifizierung durch die EU und die Antwortnote der Schweiz einen Notenaustausch, der aus Sicht der Schweiz einen völkerrechtlichen Vertrag darstellt. Im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben muss dieser Vertrag entweder vom Bundesrat oder vom Parlament und, im Fall eines Referendums, vom Volk genehmigt werden.
Die zur Übernahme anstehende Verordnung (EU) 2022/1190 ist rechtsverbindlich. Ihre Übernahme muss daher mittels eines Notenaustausches erfolgen.
Vorliegend ist die Bundesversammlung für die Genehmigung des Notenaustauschs zuständig. In Übereinstimmung mit Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe b SAA hat die Schweiz der EU am 17. August 2022 in ihrer Antwortnote betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 mitgeteilt, dass der Notenaustausch erst am Datum der Mitteilung durch die Schweiz über die Erfüllung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen in Kraft treten kann. Die Schweiz verfügt ab dem Zeitpunkt der Notifizierung des Rechtsakts durch den Rat der EU über eine Frist von maximal zwei Jahren für die Übernahme und Umsetzung der vorliegenden Schengen-Weiterentwicklung. Innerhalb dieser Frist muss auch eine allfällige Referendumsabstimmung stattfinden.
Sobald das innerstaatliche Verfahren abgeschlossen ist und alle verfassungsrechtlichen Voraussetzungen im Hinblick auf die Übernahme und Umsetzung der EU-Verordnung erfüllt sind, unterrichtet die Schweiz den Rat der EU und die Kommission unverzüglich in schriftlicher Form darüber. Diese Mitteilung, die der Ratifizierung des Notenaustauschs gleichkommt, erfolgt unverzüglich nach Ablauf der Referendumsfrist (oder nach der Abstimmung im Falle eines Referendums, Art. 7 Abs. 2 Bst. b SAA).
Erfolgt die Übernahme und Umsetzung einer Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands nicht fristgerecht, so riskiert die Schweiz die Beendigung der Schengen-Zusammenarbeit insgesamt und damit auch der Dublin-Zusammenarbeit (Art. 7 Abs. 4 SAA i. V. m. Art. 14 Abs. 2 des Dublin-Assoziierungsabkommens [DAA] ⁷ ).
Ausgehend vom Datum der Notifikation durch die EU (1. Juli 2022) endete die Frist für die Übernahme und Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 somit am 1. Juli 2024. Die Umsetzung dieser Verordnung durch die Schweiz in ihr Landesrecht wird insbesondere wegen der bei Ziffer 1.3 erwähnten zusätzlichen Abklärungen mit einer gewissen Verzögerung erfolgen. Die Fristüberschreitung soll im Hinblick auf die oben erwähnten Konsequenzen jedoch auf ein absolutes Minimum beschränkt werden. Zu diesem Zweck wurden bereits verschiedene Massnahmen ergriffen, so insbesondere eine Verkürzung der Vernehmlassungsfrist sowie der Beschluss einer partiellen vorläufigen Anwendung des Notenaustauschs zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Verordnung (EU) 2022/1190 (vgl. Ziffer 7.7).
⁷ SR 0.142.392.68
1.5 Verhältnis zur Legislaturplanung und zu Strategien des Bundesrates
Die Vorlage wurde weder in der Botschaft vom 24. Januar 2024 ⁸ zur Legislaturplanung 2023-2027 noch im Bundesbeschluss vom 6. Juni 2024 ⁹ über die Legislaturplanung 2023-2027 angekündigt. Dennoch trägt diese Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands während der Legislatur 2023-2027 zur Umsetzung des Ziels 19 bei, das wie folgt lautet: «Die Schweiz beugt bewaffneten Konflikten vor und bekämpft Terrorismus, Gewaltextremismus und alle Formen der Kriminalität effektiv und mit angemessenen Instrumenten». Denn die Eingabe von Informationsausschreibungen im SIS, gestützt auf Daten von Behörden von Drittstaaten oder internationalen Organisationen, trägt zu den Zielen der Bekämpfung von Gewalt, Kriminalität und Terrorismus bei und ermöglicht, wirksam gegen diese Phänomene anzugehen. Durch die Übernahme und Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 trägt die Schweiz somit dazu bei, die Sicherheit ihrer eigenen Bevölkerung, aber auch jener des Schengen-Raums zu garantieren.
⁸ BBl 2024 525
⁹ BBl 2024 1440
2 Vernehmlassungsverfahren
2.1 Vernehmlassungsvorlage
Der in Vernehmlassung gegebene Vorentwurf entsprach im Kern dem vorliegenden Gesetzesentwurf. Er sah ebenfalls die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 und eine Teilrevision des Bundesgesetzes vom 13. Juni 2008 1⁰ über die polizeilichen Informationssysteme des Bundes (BPI) vor. Der Vorentwurf umfasste hauptsächlich die Anpassung der Artikel 15 und 16 BPI sowie die Ergänzung dieses Gesetzes mit einem neuen Anhang mit einem Deliktskatalog, wie nachfolgend unter Ziffer 5 näher erläutert.
1⁰ SR 361
2.2 Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens
Gestützt auf Artikel 3 Absatz 1 Buchstaben b und c des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 2005 1¹ wurde eine Vernehmlassung durchgeführt. Diese wurde am 10. April 2024 eröffnet und dauerte bis zum 28. Juni 2024. Insgesamt sind 35 Stellungnahmen eingegangen: Die 26 Kantone, fünf politische Parteien sowie vier weitere interessierte Kreise haben sich zur Vernehmlassungsvorlage geäussert. Die Stellungnahmen sind mehrheitlich positiv. Sie sind im Bericht zu den Ergebnissen des Vernehmlassungsverfahrens ¹2 detailliert dargelegt. Die Botschaft wurde präzisiert, um von einigen Vernehmlassungsteilnehmern aufgeworfene Fragen zu beantworten. Zudem wird im Folgenden auf die Bedenken der Vernehmlassungsteilnehmer eingegangen.
1¹ SR 172.061
¹2
www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene
Vernehmlassungen > 2024 > EJPD
2.3 Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens
Praktische Umsetzung
Sowohl die Kantone Waadt und Wallis als auch die Konferenz der Kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten der Schweiz (KKPKS) thematisieren die Änderung des Verfahrens für die Polizistinnen und Polizisten an der Front. Die KKPKS betont, dass das anzuwendende Verfahren klar und einfach definiert werden müsse, zumal dessen Implementierung ihrer Ansicht nach einer Schulung jeder Polizistin und jedes Polizisten in der Schweiz notwendig machen dürfte. Die KKPKS fordert daher eine Konsultation der kantonalen Polizeibehörden zum Verfahren und zu den konkreten Modalitäten der Anwendung, die vom EJPD noch zu definieren sind, und damit verbunden eine zeitnahe und umfassende Kommunikation über die erarbeiteten Modalitäten sowie dem Einführungszeitpunkt.
Laut der KKPKS ist ausserdem zu klären, wie eine Informationsausschreibung im SIS gehandhabt würde, wenn ein Kanton oder mehrere Kantone ein Verfahren gegen die auszuschreibende Person führen. Schliesslich müsse mehr Klarheit bezüglich des konkreten Ablaufs der Analyse und Beurteilung der Daten, die das Bundesamt für Polizei (fedpol) von Europol erhält, geschaffen werden. Diesbezüglich wirft die KKPKS die Frage auf, ob die Interessen der Kantone berücksichtigt und die kantonalen Polizeibehörden miteinbezogen werden. Abhängig davon, wie diese Fragen beantwortet werden, könnte den Kantonen gemäss KKPKS zusätzlicher Aufwand entstehen.
Dem Bundesrat ist bewusst, dass die Einführung einer neuen Ausschreibungskategorie im SIS in Form der Informationsausschreibungen gemäss der Verordnung (EU) 2022/1190 dazu führt, dass das Verfahren für die Polizistinnen und Polizisten an der Front ändert. Die Kantone werden demnächst über die KKPKS entsprechende Informationen erhalten. Um die Polizistinnen und Polizisten hinsichtlich dieser Neuerung zu schulen, werden Schulungsangebote bereitgestellt. Die Polizistinnen und Polizisten werden über eine klare Handlungsanleitung verfügen, wie bei einem Treffer in Zusammenhang mit einer Informationsausschreibung vorzugehen ist. Aufgrund seiner operativen Natur wird dieser Aspekt im Rahmen dieser Vorlage aber nicht ausgeführt.
Was das Verfahren rund um die Eingabe einer Informationsausschreibung im SIS angeht, ist der Bundesrat der Auffassung, dass dieses nicht mit allfälligen laufenden Verfahren der Kantone gegen die betroffene Person konkurrenziert. Denn die Informationsausschreibungen bezwecken lediglich die Gewinnung von Informationen zur betreffenden Person, was mögliche laufende Ermittlungen nicht gefährdet. Die Bearbeitung der Anfrage von Europol durch fedpol wird nachfolgend unter Ziffer 4.2 im Detail dargelegt. Im Rahmen dieser Bearbeitung nimmt fedpol mit den Kantonen, bei denen allenfalls Hinweise auf konkrete Verbindungen bestehen, Kontakt auf. Den Kantonen sollte dadurch im Vergleich zur bestehenden Praxis kein Mehraufwand entstehen.
Deliktskatalog nach Anhang 4 des Entwurfs zur Änderung des BPI
Der Kanton Zürich erachtet es als wesentlich, dass die Deliktskataloge in den Anhängen des BPI, des Schengen-Informationsaustausch-Gesetzes vom 12. Juni 2009 ¹3 und der N-SIS-Verordnung vom 8. März 2013 ¹4 deckungsgleich ausgestaltet sind. Darüber hinaus ersucht der Kanton darum, zu prüfen, ob der vorgelegte Deliktskatalog gewisse Delikte (wie Sabotage und Nötigung) auch tatsächlich einschliesst.
Für die SP ist wichtig, dass die im Anhang 4 des Entwurfs zur Änderung des BPI (E-BPI) aufgeführten Delikte im Zusammenhang mit der Begehung schwerer Formen von Kriminalität oder der Terrorismusbekämpfung beurteilt werden, dies insbesondere deshalb, da Konstellationen denkbar seien, bei denen die im Anhang genannten Delikte für sich allein nicht als schwere Formen der Kriminalität oder Terrorismus einzuschätzen sind, zum Beispiel Betäubungsmittelhandel.
Die Piratenpartei Schweiz lehnt die Vorlage in der vorgelegten Form ab und beurteilt die Nennung gewisser Delikte wie Produktpiraterie oder Erschleichen einer Leistung neben gewissen anderen Delikten des Katalogs als unverhältnismässig. Sie verlangt insbesondere die Streichung mehrerer Ziffern (oder Strafbestimmungen) in Anhang 4 E-BPI (Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Erschleichen einer Leistung, Nachahmung und Produktpiraterie, Computerkriminalität).
Der Bundesrat hält aufgrund folgender Überlegungen unverändert am Deliktskatalog gemäss Anhang 4 E-BPI fest, dies: Im Rahmen der polizeilichen Schengen-Zusammenarbeit sind vor allem zwei Deliktskataloge relevant, die mit je spezifischem Geltungsbereich parallel nebeneinander bestehen. Der eine listet die Straftatbestände auf, für die der Europäische Haftbefehl zur Anwendung gelangt. ¹5 Der andere und vorliegend zentrale Katalog nennt die Straftatbestände, in deren Bereich Europol die Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der Kriminalität unterstützen und deren Tätigkeit verstärken kann. ¹6 Die beiden Deliktskataloge sind inhaltlich weitgehend deckungsgleich (bei teilweise unterschiedlichem Wortlaut), weichen also nur punktuell voneinander ab: Im Europol-Deliktskatalog fehlen die Kriminalitätsformen «Sabotage» und «Brandstiftung», die im Deliktskatalog zum Europäischen Haftbefehl enthalten sind. Die beiden Deliktskataloge sind für die Schweiz je bezüglich ihrer einzelnen Straftatbestände und damit auch bezüglich ihrer (beschränkten) Abweichungen verbindlich. Es ist der Schweiz somit verwehrt, einzelne Straftatbestände zusätzlich in die landesrechtliche Umsetzung aufzunehmen oder andere darin wegzulassen. Gleichzeitig hat sich der Bundesrat bei der Erstellung der Liste der jeweiligen äquivalenten Straftatbestände nach schweizerischem Recht (rechte Spalte des Deliktskatalogs nach Anhang 4) vom Grundsatz der Verhältnismässigkeit leiten lassen (Art. 36 Abs. 3 der Bundesverfassung [BV] ¹7 ). Ebenso muss im praktischen Einzelfall der Einbezug eines bestimmten einzelnen Straftatbestands in eine Informationsausschreibung verhältnismässig sein (Art. 197 Abs. 1 Bst. d der Strafprozessordnung ¹8 ). Es gilt diesbezüglich also kein Automatismus.
Anschluss der Kantone an den SIENA-Kanal
Die KKPKS wünscht den Anschluss der Kantone an die Anwendung SIENA im Sinne eines «passiven Leserechts». SIENA (Secure Information Exchange Network Application) ist eine Plattform für den sicheren und raschen Austausch von operativen und strategischen kriminalitätsbezogenen Informationen zwischen Strafverfolgungsbehörden und mit Europol. Nach Ansicht der KKPKS liesse sich dadurch für die kantonalen Polizeibehörden die Kommunikation und der Informationsfluss im internationalen Kontext optimieren.
Der Bundesrat sieht im Rahmen dieser Vorlage den Anschluss der Kantone an SIENA nicht vor. Ein Anschluss ist für die Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 durch die Schweiz nicht nötig. Fedpol wird aber in Zukunft einen allfälligen Anschluss der Kantone an den SIENA-Kanal prüfen können.
Vorläufige Anwendung des Notenaustauschs
Die SP betont, dass die Revision des BPI zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung (EU) 2022/1190 noch nicht in Kraft sein wird. Sie unterstützt daher die vorläufige Anwendung des Notenaustauschs betreffend die Übernahme und Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190, wie in Artikel 7 b des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997 ¹9 (RVOG) vorgesehen, um die Bearbeitung der Informationsausschreibungen anderer Schengen-Staaten bei einem Treffer in der Schweiz zu garantieren.
Der Bundesrat ist sich der Herausforderungen bewusst, die sich durch die Verzögerung bei der Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 ergeben. Der Zeitplan für die technische Umsetzung der neuen Kategorie der Informationsausschreibung hat allerdings seit der Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens auf europäischer Ebene geändert. Mittlerweile ist die Einführung dieser neuen Ausschreibungskategorie im SIS erst Ende 2025 vorgesehen. Bis dahin dürfte die Schweiz über die erforderlichen Rechtsgrundlagen verfügen, sofern gegen den vorgelegten Bundesbeschluss kein Referendum ergriffen wird.
Sollte die Gesetzesänderung aber einer Referendumsabstimmung zu unterbreiten sein, wird es zu einer zusätzlichen Verzögerung kommen. Aus diesem Grund prüft der Bundesrat den ihm zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum, um insbesondere mit einer partiellen vorläufigen Anwendung des Notenaustauschs basierend auf Artikel 7 b RVOG zu ermöglichen, die Verordnung (EU) 2022/1190 zumindest teilweise anzuwenden und dadurch die Europol-Informationsausschreibungen anderer Schengen-Staaten in der Schweiz im SIS anzuzeigen.
¹3 SR 362.2
¹4 SR 362.0
¹5 Deliktskatalog gemäss Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1.
¹6 Deliktskatalog gemäss Verordnung (EU) 2016/794 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung (Europol) und zur Ersetzung und Aufhebung der Beschlüsse 2009/371/JI, 2009/934/JI, 2009/935/JI, 2009/936/JI und 2009/968/JI des Rates, Anhang 1, ABl. L 135 vom 24. Mai 2016, S. 53.
¹7 SR 101
¹8 SR 312.0
¹9 SR 172.010
2.4 Änderung der Vorlage gestützt auf die Vernehmlassung
Die Botschaft wurde ergänzt, um gewisse Fragen, die im Vernehmlassungsverfahren aufgekommen sind, zu beantworten und den von den Teilnehmern eingebrachten Bemerkungen Rechnung zu tragen.
Im E-BPI, Anhang 4 (Deliktskatalog), wurden in Umsetzung eines Hinweises aus der Vernehmlassung (ZH) bei Ziffer 27 (Illegaler Handel mit Hormonen und Wachstumsförderern) die relevanten Bestimmungen des Heilmittelgesetzes vom 15. Dezember 2000 2⁰ korrekterweise um die Deliktskategorie der Verbrechen ergänzt.
2⁰ SR 812.21
3 Inhalt der Verordnung (EU) 2022/1190
3.1 Die Verordnung (EU) 2022/1190 im Überblick
Mit der Änderung durch die Verordnung (EU) 2022/1190 erhält die Verordnung «SIS Polizei» neue Artikel, die vorsehen, dass Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen auf Vorschlag von Europol durch den ersuchten Staat in das SIS eingegeben werden können. Die Vorschläge von Europol basieren auf der Grundlage von Informationen, die Europol von Behörden von Drittstaaten oder internationalen Organisationen über die mutmassliche Beteiligung von Drittstaatsangehörigen an terroristischen oder sonstigen schweren Straftaten nach Anhang I der Verordnung (EU) 2016/794 erhalten hat. Zweck einer solchen Ausschreibung ist es, dass die Endnutzerinnen und Endnutzer, die Abfragen im SIS durchführen, verdeckt Informationen über die ausgeschriebenen Personen sammeln können. Die Informationsausschreibung ergänzt die in Artikel 36 «SIS Polizei» geregelten Instrumente der verdeckten Kontrolle (in der Schweiz «verdeckte Registrierung»), Ermittlungsanfrage und gezielten Kontrolle. Die im Trefferfall bei dieser neuen Ausschreibungskategorie zu ergreifenden Massnahmen entsprechen denjenigen für verdeckte Registrierungen oder gezielte Kontrollen gemäss Artikel 48 des Durchführungsbeschlusses K(2024) 290 endg. 2¹ Dieser Durchführungsbeschluss wurde von der Schweiz im Februar 2024 als Schengen-Weiterentwicklung übernommen.
Mit der Verordnung (EU) 2022/1190 werden einzelne Bestimmungen der Verordnung «SIS Polizei» angepasst. Zentral sind die Artikel 37a und 37b (beziehungsweise 37 bis und 37 ter in der französischen Version der EU-Verordnung), die neu in die Verordnung «SIS Polizei» eingefügt wurden:
Artikel 37a schafft die neue Ausschreibungskategorie der Informationsausschreibungen betreffend Drittstaatsangehörige im Interesse der Union. Diese Ausschreibungen werden im SIS nicht von Europol eingegeben. Es ist vielmehr so, dass Europol eine solche Ausschreibung einem Mitgliedstaat vorschlagen kann, worauf dieser nach seinem Ermessen, vorbehaltlich einer Überprüfung und Analyse des Vorschlags von Europol, entscheidet, ob die Ausschreibung vorgenommen werden soll. Europol muss dem Mitgliedstaat sämtliche ihr vorliegenden Informationen zum betreffenden Fall sowie die Ergebnisse ihrer Beurteilung, ob die Ausschreibung erforderlich und gerechtfertigt ist, zur Verfügung stellen.
Artikel 37b legt fest, welche Massnahmen der vollziehende Staat im Falle von Treffern zu Informationsausschreibungen zu ergreifen hat. Das Ziel ist, dass der ausschreibende Staat und Europol eine Bestätigung, dass die Person, zu der eine Informationsausschreibung vorliegt, ausfindig gemacht wurde, sowie weitere Informationen zu ihr erhalten. Daher ist vorgesehen, dass der Staat, in dem der Treffer erfolgt (der vollziehende Staat), die notwendigen Informationen zur Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, einholt und diese dem ausschreibenden Staat und Europol übermittelt. Dazu gehören namentlich die Tatsache, dass die Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, ausfindig gemacht wurde, Ort, Zeit und Grund der Kontrolle, Route und Bestimmungsort; weitere Informationen betreffen die Begleitpersonen der Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, wenn nach Lage der Dinge davon ausgegangen werden kann, dass sie mit der ausgeschriebenen Person in Verbindung stehen, sowie mitgeführte Sachen einschliesslich Reisedokumente oder auch die Umstände, unter denen die Person ausfindig gemacht wurde. Die polizeilichen Organe vor Ort erheben diese Informationen verdeckt und während ihrer Routinetätigkeit. Die Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, darf unter keinen Umständen auf das Vorhandensein der Ausschreibung hingewiesen werden; die Informationsbeschaffung darf für sie nicht erkennbar sein.
2¹ Durchführungsbeschluss K(2024) 290 endg. der Kommission vom 29. Januar 2024 zur Festlegung detaillierter Bestimmungen für die Aufgaben der SIRENE-Büros und den Austausch von Zusatzinformationen zu Ausschreibungen im Schengener Informationssystem im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen («SIRENE-Handbuch - Polizei») und zur Aufhebung des Durchführungsbeschlusses C(2021) 7901 final. Nicht zur Veröffentlichung im ABl bestimmt.
3.2 Inhalt der Verordnung (EU) 2022/1190 im Einzelnen
Die Verordnung (EU) 2022/1190 ändert die Verordnung «SIS Polizei», um die Eingabe von Ausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen in das SIS auf Vorschlag von Europol zu ermöglichen. Im Einzelnen:
Art. 3
«Begriffsbestimmungen»
Artikel 3 wird wie folgt ergänzt:
-
Nummer 8, die den Begriff der « Kennzeichnung» definiert, wird ergänzt mit der neuen Kategorie der Informationsausschreibungen.
-
Eine neue Nummer 22 definiert den Begriff «Drittstaatsangehöriger» , da Personen, die unter diese Definition fallen, neu Gegenstand einer Informationsausschreibung sein können.
Art. 20
«Kategorien von Daten»
Artikel 20 wird in den Absätzen 1 und 2 mit einem Verweis auf den neuen Artikel 37a ergänzt. Absatz 1 präzisiert bezüglich der Kategorien von Daten im SIS, dass es sich um Daten handelt, die von jedem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt werden und die für die in den verschiedenen Artikeln, darunter im neuen Artikel 37a , «festgelegten Zwecke erforderlich sind». In Absatz 2 Buchstabe b wird der betreffende Artikel mit dem Verweis auf Artikel 37a ergänzt.
Art. 24
«Allgemeine Bestimmungen über die Kennzeichnung»
Gemäss Artikel 24 Absatz 1 kann ein Mitgliedstaat verlangen, dass eine Ausschreibung dahingehend gekennzeichnet wird, dass sie nicht in seinem Hoheitsgebiet vollzogen wird, wenn er der Auffassung ist, dass diese «mit seinem nationalen Recht, seinen internationalen Verpflichtungen oder wesentlichen nationalen Interessen nicht vereinbar ist» . Der Geltungsbereich dieser Bestimmung wird neu auf die Informationsausschreibungen nach Artikel 37a erweitert.
Kapitel IXa
«Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union»
Dieses Kapitel wird neu in die Verordnung «SIS Polizei» eingefügt. Es umfasst zwei neue Artikel: 37a und 37b .
Art. 37a
«Ausschreibungsziele und -bedingungen»
Absatz 1 enthält den Kern der Neuregelung : «Die Mitgliedstaaten können Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen […] auf Vorschlag von Europol zur Eingabe einer Informationsausschreibung auf der Grundlage von Informationen, die sie von Behörden von Drittstaaten oder internationalen Organisationen erhalten haben, in das SIS eingeben.»
Das Ziel einer solchen Ausschreibung ist in Absatz 2 festgehalten: Die Endnutzerinnen und Endnutzer des SIS sollen über die mutmassliche Beteiligung von Drittstaatsangehörigen an terroristischen oder sonstigen schweren Straftaten, wie in Anhang I der Verordnung (EU) 2016/794 zum Mandat von Europol aufgeführt, unterrichtet werden, damit sie die in Artikel 37 b der vorliegenden Verordnung aufgeführten Informationen erhalten.
Gemäss Absatz 3 kann Europol den Mitgliedstaaten eine Informationsausschreibungen zur Eingabe in das SIS nur vorschlagen, wenn sie feststellt, dass tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass eine Person eine terroristische Straftat oder eine sonstige schwere Straftat nach Absatz 2 plant oder begeht, oder aufgrund der Gesamtbeurteilung dieser Person davon auszugehen ist, «dass sie möglicherweise eine Straftat nach Absatz 2 begehen wird». Europol muss sich vorgängig vergewissern, dass die Voraussetzungen für eine Ausschreibung nach Absatz 4 vorliegen.
Gemäss Absatz 4 kann Europol die Eingabe einer Informationsausschreibung in das SIS erst dann vorschlagen, wenn sie festgestellt hat, dass eine solche erforderlich und gerechtfertigt ist. Dies setzt voraus, dass sie die gemäss Artikel 17 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung (EU) 2016/794 bereitgestellten Informationen, also Informationen von Unionseinrichtungen, Drittstaaten und internationalen Organisationen, in Bezug auf ihre Zuverlässigkeit und Richtigkeit analysiert hat und feststellen konnte, dass zumindest einer der Absatz 3 genannten Fälle vorliegt. Zudem muss sich mittels Abfrage im SIS erwiesen haben, dass zur betroffenen Person noch keine Ausschreibung vorliegt.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so kann Europol die ihr vorliegenden Informationen sowie das Ergebnis der Bewertung gemäss den Absätzen 3 und 4 den Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen und einem oder mehreren Mitgliedstaaten die Eingabe der Informationsausschreibung im SIS vorschlagen. Europol muss die Mitgliedstaaten auch über Ergänzungen und Änderungen oder Fehlerhaftigkeit in den Daten unterrichten (Abs. 5) .
Der Mitgliedstaat, welchem Europol die Eingabe der Informationsausschreibung vorgeschlagen hat, muss die von Europol erhaltenen Daten überprüfen und analysieren. Kommt er zum Schluss, diese Ausschreibung vornehmen zu wollen, so kann er sie im SIS erfassen (Abs. 6) . Es liegt dabei letztlich in seinem Ermessen, ob er die Ausschreibung vornehmen will.
Der ausschreibende Mitgliedstaat muss die anderen Mitgliedstaaten und Europol im Rahmen eines Austausches von Zusatzinformationen über die Eingabe der Ausschreibung im SIS informieren (Abs. 7) . Der Mitgliedstaat, der von Europol den Vorschlag für eine Informationsausschreibung erhalten hat, unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten und Europol innerhalb von 12 Monaten über das Ergebnis seiner Analyse des Vorschlags und den Entscheid, ob eine Informationsausschreibung im SIS eingegeben wurde (Abs. 9) . Falls er beschliesst, die von Europol vorgeschlagene Informationsausschreibung nicht vorzunehmen, kann er - sofern die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind - die Eingabe einer anderen Art von Ausschreibung zu derselben Person beschliessen (Abs. 8) .
Ist eine Informationsausschreibung erfolgt, übermittelt Europol nach diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehende relevante ergänzende oder geänderte Daten zu einer Informationsausschreibung unverzüglich dem ausschreibenden Mitgliedstaat (Abs. 10) . Ebenso setzt Europol diesen Staat so rasch wie möglich (spätestens nach zwei Arbeitstagen) darüber in Kenntnis, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass in das SIS eingegebene Daten sachlich falsch oder unrechtmässig gespeichert worden sind (Abs. 11) . Der ausschreibende Mitgliedstaat ist sodann verpflichtet, die erhaltenen Informationen zu prüfen und nötigenfalls die Informationsausschreibung anzupassen oder zu löschen.
Darüber hinaus sieht Absatz 12 vor, dass Europol den Mitgliedstaaten Sachfahndungsausschreibungen vorschlagen kann, wenn eindeutige Hinweise darauf bestehen, dass diese Sachen mit einer Person verbunden sind, die bereits Gegenstand einer Informationsausschreibung ist. In diesem Fall werden die Informationsausschreibung und die Sachfahndungsausschreibung miteinander verknüpft.
Im Hinblick auf die Umsetzung der neuen Kategorie von Informationsausschreibungen im SIS sieht Absatz 13 vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Vorkehrungen für die Eingabe, die Aktualisierung und die Löschung von Informationsausschreibungen in das SIS treffen. Absatz 15 ermächtigt die Kommission zum Erlass von Durchführungsrechtsakten zur Festlegung und Weiterentwicklung der notwendigen Vorschriften für die Eingabe, Aktualisierung, Löschung und Abfrage der in der Informationsausschreibung enthaltenen Daten.
Art. 37b
«Massnahmen aufgrund einer Informationsausschreibung»
Im Falle eines Treffers bei einer Informationsausschreibung muss der Mitgliedstaat, in dem der Treffer erfolgt ist (vollziehender Mitgliedstaat), so weit wie möglich die folgenden, in Absatz 1 aufgelisteten Informationen einholen und dem ausschreibenden Mitgliedstaat übermitteln:
-
«die Tatsache, dass die Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, ausfindig gemacht wurde;
-
Ort, Zeit und Grund der Kontrolle;
-
Route und Bestimmungsort;
-
Begleitpersonen der Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, wenn nach Lage der Dinge davon ausgegangen werden kann, dass sie mit der ausgeschriebenen Person in Verbindung stehen;
-
mitgeführte Sachen einschliesslich Reisedokumente;
-
die Umstände, unter denen die Person ausfindig gemacht wurde».
Diese Informationen müssen dem ausschreibenden Mitgliedstaat im Rahmen eines Austauschs von Zusatzinformationen übermittelt werden (Abs. 2) . Für die Zwecke der Unterrichtung von Europol gemäss Artikel 48 Absatz 8 Buchstabe b (Abs. 3) müssen die Informationen nach Absatz 1 auch eingeholt werden, wenn die Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung im SIS ist, im Hoheitsgebiet des ausschreibenden Mitgliedstaats ausfindig gemacht wird .
Der vollziehende Mitgliedstaat gewährleistet eine verdeckte Erhebung möglichst vieler Informationen während der Routinetätigkeit seiner nationalen zuständigen Behörden, also vor allem während einer Polizei- oder Grenzkontrolle (Abs. 4). Die Erhebung dieser Informationen darf den verdeckten Charakter der Kontrollmassnahmen nicht gefährden, und die Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, darf unter keinen Umständen auf das Vorhandensein der Ausschreibung hingewiesen werden.
Art. 43
«Besondere Vorschriften für die Überprüfung oder die Abfrage anhand von Lichtbildern, Gesichtsbildern, daktyloskopischen Daten und DNA-Profilen»
Artikel 43 Absatz 3 wird mit einem Verweis auf den neuen Artikel 37a ergänzt. Liegen zu einer Person, die Gegenstand einer Informationsausschreibung ist, daktyloskopische Daten vor, so können diese Daten mit den daktyloskopischen Daten im SIS abgeglichen werden, die an einem Tatort schwerer oder terroristischer Straftaten sichergestellt worden sind.
Art. 48
«Zugriff von Europol auf Daten im SIS»
Absatz 8 wird ergänzt mit der Information, welche die Mitgliedstaaten Europol nach einem Treffer zu einer Informationsausschreibung im Wege des Austauschs von Zusatzinformationen übermitteln:
-
«über jeden Treffer zu nach Artikel 37a in das SIS eingegebenen Informationsausschreibungen (Bst. a);
-
darüber, wann die Person, die Gegenstand der Informationsausschreibung ist, gemäss Artikel 37b Absatz 3 im Hoheitsgebiet des ausschreibenden Mitgliedstaats aufgefunden wurde (Bst. b);
-
über nicht gemäss Artikel 37a in das SIS eingegebene Ausschreibungen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten. (Bst. c.) Die Mitgliedstaaten können ausnahmsweise davon absehen, Europol über Ausschreibungen nach Buchstabe c dieses Absatzes zu unterrichten, wenn dies laufende Ermittlungen oder die Sicherheit einer Person gefährden oder wesentlichen Interessen der Sicherheit des ausschreibenden Mitgliedstaats zuwiderlaufen würde».
Art. 53
«Prüffrist für Personenausschreibungen»
Um den mit dem neuen Artikel 37a eingeführten Informationsausschreibungen Rechnung zu tragen, werden die Absätze 4, 6 und 7 angepasst. Der ausschreibende Mitgliedstaat kann die Ausschreibung für die Dauer eines Jahres eingeben, und er überprüft innerhalb eines Jahres, ob es erforderlich ist, diese beizubehalten (Prüffrist; Abs. 4). Die Ausschreibung kann über die Prüffrist hinaus beibehalten werden, wenn dies - gemäss einer umfassenden individuellen Bewertung, die zu protokollieren ist - für den der Ausschreibung zugrunde liegenden Zweck erforderlich und verhältnismässig ist (Abs. 6). Wenn dies nicht der Fall ist, werden die Informationsausschreibungen nach Ablauf der einjährigen Prüffrist automatisch gelöscht (Abs. 7).
Art. 54
«Prüffrist für Sachfahndungsausschreibungen»
Artikel 54 Absatz 3 wird mit einem Verweis auf den neuen Artikel 37a ergänzt. Am Grundsatz, dass Sachfahndungsausschreibungen nur so lange wie Personenausschreibungen beibehalten werden, ändert sich nichts.
Art. 55
«Löschung von Ausschreibungen»
Zur Festlegung der Modalitäten für die Löschung von Informationsausschreibungen wird ein neuer Absatz 4a eingeführt:
«Informationsausschreibungen gemäss Artikel 37a werden gelöscht, sobald
a)
die Ausschreibung gemäss Artikel 53 abgelaufen ist; oder
b)
die zuständige Behörde des ausschreibenden Mitgliedstaats - gegebenenfalls auch auf Vorschlag von Europol - deren Löschung beschlossen hat».
Zudem wird Absatz 7 mit einem Verweis auf den neuen Artikel 37a ergänzt. Eine gemäss diesem Artikel im SIS eingegebene Sachfahndungsausschreibung ist zu löschen, wenn die mit dieser Sache in Zusammenhang stehende Informationsausschreibung zu einer Person gelöscht wird.
Art. 56
«Verarbeitung von SIS-Daten»
Artikel 56 Absätze 1 und 5 werden mit einem Verweis auf den neuen Artikel 37a ergänzt. Die mit einer Informationsausschreibung in Zusammenhang stehenden Daten dürfen grundsätzlich nur für die in Artikel 37a genannten Zwecke verarbeitet werden (Abs. 1). Von dieser Regel darf nur abgewichen werden, wenn die weitere Verarbeitung «in Verbindung mit einem spezifischen Fall» steht und «soweit [die Datenverarbeitung] zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden und schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, aus schwerwiegenden Gründen der nationalen Sicherheit oder zur Verhütung einer schweren Straftat erforderlich ist» (Abs. 5) . In diesem Fall ist die vorherige Zustimmung des ausschreibenden Staates einzuholen.
Art. 74
«Kontrolle und Statistiken»
Ein neuer Absatz 5a wird eingeführt, wonach die Mitgliedstaaten, Europol und die Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Grosssystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (eu-LISA) «der Kommission die Informationen zur Verfügung [stellen], die als Beitrag zu der Bewertung und den Berichten gemäss Artikel 68 der Verordnung (EU) 2016/794 erforderlich sind».
Art. 79
«Inkrafttreten, Inbetriebnahme und Anwendung»
In diesem Artikel wird ein neuer Absatz 7 eingeführt, der das Inkrafttreten der Bestimmungen zu den Informationsausschreibungen regelt: Wenn die Mitgliedstaaten die technischen und verfahrenstechnischen Vorkehrungen zur Verarbeitung von Informationsausschreibungen getroffen haben, wird die Kommission einen Beschluss zur Festlegung des Datums erlassen, ab dem die Mitgliedstaaten mit der Eingabe, Aktualisierung und Löschung von Informationsausschreibungen im SIS gemäss Artikel 37a beginnen können.
4 Grundzüge des Umsetzungserlasses
4.1 Die beantragte Neuregelung
Die Rechtsgrundlagen, die erforderlich sind, damit die Schweiz Informationsausschreibungen im SIS eingeben kann - also im Wesentlichen die Umsetzung des neuen Artikels 37a der Verordnung «SIS Polizei» -, werden mit einer Änderung des BPI geschaffen. Die Bearbeitung von Treffern zu Informationsausschreibungen durch die Schweiz in Umsetzung des neuen Artikels 37b der Verordnung «SIS Polizei» wird auf Verordnungsebene mittels einer Änderung der N-SIS-Verordnung geregelt werden. Mit diesem Vorgehen wird bezüglich der Regelungsebenen dem geltenden Recht gefolgt: Die einzelnen Ausschreibungskategorien, die das SIS verwendet, legt das formelle Gesetz fest, also Artikel 16 BPI, während die Massnahmen, die seitens der schweizerischen Behörden bei der Umsetzung einer Ausschreibung zu ergreifen sind, in der N-SIS-Verordnung (6. Kapitel) geregelt sind. Die übrigen Bestimmungen, die mit der Verordnung (EU) 2022/1190 neu in die Verordnung «SIS Polizei» eingeführt werden, sind entweder direkt anwendbar (wie etwa jene bei Art. 48 oder 74), betreffen einzig EU-Behörden (wie etwa Art. 79) oder sind bereits durch das geltende schweizerische Recht abgedeckt (wie etwa die Anpassungen bei den Art. 53-55 und 56, die durch Art. 43 ff. bzw. Art. 38 der N-SIS-Verordnung erfasst sind).
4.2 Umsetzung
Die praktische Umsetzung des neuen Instruments der Informationsausschreibungen auf Vorschlag von Europol erfolgt seitens der Schweiz auf der technischen Ebene durch ein Zusammenspiel zweier polizeilicher Informationssysteme des Bundes: des automatisierten Polizeifahndungssystems (RIPOL) nach Artikel 15 BPI und des nationalen Teils des Schengener Informationssystems (N-SIS) nach Artikel 16 BPI.
Das
SIS ist ein Informationssystem, in dem Personen und gestohlene Gegenstände ausgeschrieben werden, die polizeilich zwecks Auslieferung gesucht werden oder die mit einer Einreisesperre, einer Wegweisung belegt sind oder vermisst werden.
Das SIS besteht aus einem zentralen System (C-SIS) und einem nationalen System (N-SIS). RIPOL ist das sogenannte Quellsystem für alle Kategorien von Ausschreibungen im SIS, also das System, in dem die Daten im Hinblick auf eine Ausschreibung im SIS ursprünglich erfasst werden (so, wie das Zentrale Migrationsinformationssystem [ZEMIS] - das Personenregister für ausländische Staatsangehörige, die in der Schweiz leben - Quellsystem für die SIS-Ausschreibungen im Migrationsbereich ist). Als Quellsystem ermöglich RIPOL den Zugriff auf die Daten des N-SIS. 2²
Vorschläge von Europol für Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen werden von der Schweiz in zwei Prozessschritten umgesetzt:
Prozessschritt 1: Eingabe der Informationsausschreibung
Vorschläge für Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen von Europol (inkl. der Informationen zu dieser Person) erreichen die Schweiz über den Informationskanal SIENA. Konkret gehen die Vorschläge zu Ausschreibungen bei der Einsatz- und Alarmzentrale (EAZ) von fedpol ein, die für den gesamten internationalen polizeilichen Informationsaustausch die Funktion des SPOC (Single Point of Contact) wahrnimmt. Die EAZ erfasst die Informationen im Geschäfts- und Aktenverwaltungssystem von fedpol nach Artikel 18 BPI und teilt sie einer fedpol-internen Fachstelle zur weiteren Bearbeitung zu. Diese Stelle ist zuständig für den Entscheid, ob seitens der Schweiz der Vorschlag von Europol zur Informationsausschreibung angenommen und von ihr in das SIS eingespeist wird. Im Einzelnen überprüft und analysiert sie den Vorschlag von Europol zur Eingabe der Informationsausschreibung (im Sinne des neuen Art. 37 a Abs. 6 der Verordnung «SIS Polizei»). Sie prüft die Zuverlässigkeit der Informationsquelle und die Richtigkeit der Informationen über die betreffende Person. Hierzu kann sie von Europol, soweit erforderlich, zusätzliche Informationen anfordern. Enthalten diese Informationen Hinweise auf einen spezifischen Kanton, nimmt fedpol mit der entsprechenden Kantonspolizei Kontakt auf. Es ist jedoch anzunehmen, dass bei den Anfragen von Europol an die Schweiz kein spezifischer Schweiz-Bezug bestehen wird; ansonsten würden die Informationen zu einer Person, die beispielsweise in der Schweiz ihren Wohnsitz hat, - wie bereits heute - der Schweiz per SIENA gemeldet. Wie der fedpol-interne Prüfprozess weiter abläuft, wird auf einer nachgeordneten Regelungsebene geklärt werden. Darauf gestützt evaluiert die Fachstelle, ob hinreichende Gründe zu der Annahme bestehen, dass die betreffende Person eine in den Zuständigkeitsbereich von Europol fallende schwere Straftat im Sinne von Anhang I der Verordnung (EU) 2016/794 begangen hat, an einer solchen Straftat beteiligt war oder eine solche Straftat plant. Dies mündet in die abschliessende Beurteilung, ob die Angemessenheit, Relevanz und Bedeutung eines konkreten Falles die Eingabe der Informationsausschreibung in das SIS rechtfertigen (Verordnung [EU] 2022/1190 Erwägung 8).
Die zuständige Stelle von fedpol informiert die anderen Schengen-Staaten sowie Europol innerhalb von 12 Monaten über das Ergebnis ihrer Prüfung und Analyse und darüber, ob sie dem Vorschlag von Europol zur Informationsausschreibung Folge leistet (Art. 37 a Abs. 9). Folgt sie dem Vorschlag, so trägt sie die Fahndung im RIPOL ein und aktiviert in diesem die Fahndung für das SIS.
Prozessschritt 2: Treffermeldungen
Im Falle eines Treffers auf eine Informationsausschreibung im Sinne von Artikel 37 a (ob durch die Schweiz oder einen anderen Schengen-Staat) findet die Endnutzerin oder der Endnutzer Angaben, dass sie oder er verdeckt, ohne dass die kontrollierte Person dies mitbekommt, folgende Informationen über die im Rahmen einer Routinetätigkeit kontrollierten Person erheben soll (Art. 37 b ):
-
die Tatsache, dass die in der Ausschreibung gesuchte Person angetroffen wurde, und die Umstände der Kontrolle (Ort, Zeit und Grund der Kontrolle);
-
die von der gesuchten Person beabsichtigte Reiseroute (einschliesslich Zielort);
-
ob und von wem die gesuchte Person begleitet wurde, sofern nach Lage der Dinge davon ausgegangen werden kann, dass die Begleitpersonen mit der ausgeschriebenen Person in Verbindung stehen;
-
welche Sachen die gesuchte Person mit sich führt (inkl. Reisedokumente).
In dieser verdeckten Erhebung sollten möglichst viele der genannten Informationen gesammelt werden. Wichtig ist jedoch, dass der verdeckte Charakter der Kontrollmassnahme nicht gefährdet und die kontrollierte Person nicht über die SIS-Ausschreibung informiert wird. So soll sichergestellt werden, dass das Ermittlungsverfahren von Europol, aber auch jeder anderen Behörde (bspw. einer Kantonspolizei) gegen diese Person nicht gefährdet wird.
Die erhobenen Informationen werden der SIRENE weitergleitet, welche dann wie bei jeder anderen Ausschreibung zu Personen nach geltendem Artikel 9 Buchstabe abis der N-SIS-Verordnung «die geforderten Massnahmen» einleitet. Um welche Massnahmen es sich im Einzelnen handelt, ist EU-rechtlich in Artikel 37 b festgelegt, landesrechtlich wird dies in der noch zu revidierenden N-SIS-Verordnung geregelt (siehe oben, Ziff. 4.1). Wird ein Treffer erzielt, so meldet das SIRENE-Büro dies Europol und dem SIRENE-Büro des ausschreibenden Mitgliedstaates (Art. 48 Abs. 1 des Durchführungsbeschlusses K(2024) 290 endg.). Davon kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn die Meldung laufende Ermittlungen oder die Sicherheit einer Person gefährden oder wesentlichen Sicherheitsinteressen des ausschreibenden Mitgliedstaats zuwiderlaufen würde (Art. 48). Informationsgewinnung und -austausch entsprechen im Wesentlichen dem Vorgehen bei der verdeckten Registrierung nach Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe jbis BPI.
Die SIRENE ist zudem Ansprechstelle für alle inländischen Partnerbehörden im Zusammenhang mit dem Vorliegen eines Treffers (Art. 355 e Abs. 2 des Strafgesetzbuchs [StGB] ²3 ).
2² Vgl. hierzu: Botschaft des Bundesrates vom 6. März 2020 zur Genehmigung und Umsetzung der Notenaustausche zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Rechtsgrundlagen über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) (Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands) und zur Änderung des Bundesgesetzes über das Informationssystem für den Ausländer- und den Asylbereich, BBl 2020 3534 (Erläuterungen zu Art. 15 E-BPI).
²3 SR 311.0
5 Erläuterungen zu einzelnen Artikeln
Vorbemerkung zur Gesetzessystematik der Neuregelung im BPI
Die Ausschreibungskategorien nach der Verordnung (EU) 2018/1862 «SIS Polizei» wurden durch die Verordnung (EU) 2022/1190 um die zusätzliche Kategorie der Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen ergänzt. Aufgrund der sachlichen Nähe zur in Artikel 36 der Verordnung «SIS Polizei» geregelten Personen- und Sachfahndungsausschreibung (Massnahmen hierzu in Art. 37) wurden die neu hinzukommenden Informationsausschreibungen in der Verordnung «SIS Polizei» als Artikel 37 a eingefügt, die entsprechende Regelung der Massnahmen hierzu in Artikel 37 b . Im nationalen Recht ist die Ausschreibung nach Artikel 36 der Verordnung «SIS Polizei» mit Artikel 16 Absatz 2 Buchstabe g BPI umgesetzt. Aufgrund derselben Überlegung der sachlichen Nähe erfolgt nun die neue Regelung zur Informationsausschreibung zu Drittstaatsangehörigen im Landesrecht ebenfalls in Artikel 16 (Nationaler Teil des Schengener Informationssystems), und zwar als Artikel 16 Absatz 2 Buchstabe gbis E-BPI. Der sich für diese Informationsausschreibungen ergebende Regelungsbedarf für das Informationssystem RIPOL wird aus denselben Überlegung der sachlichen Nähe in Artikel 15 (Automatisiertes Polizeifahndungssystem) geregelt, und zwar mit Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe kbis E-BPI im unmittelbaren Anschluss an Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe k E-BPI.
Art. 15 Abs. 1 Bst. kbis und Abs. 3 Bst. j
Das automatisierte Polizeifahndungssystem (RIPOL) ist Quellsystem für die Ausschreibungen im SIS (siehe oben, Ziff. 4.2). Der Aufgabenkatalog von Artikel 15 BPI ist entsprechend um die Informationsgewinnung und den Informationsaustausch über die mutmassliche Beteiligung von Drittstaatsangehörigen an terroristischen oder sonstigen schweren Straftaten im Sinne von Anhang 4 E-BPI zu ergänzen.
Allgemein können Ausschreibungen im SIS aus technischen Gründen national nur über RIPOL erfolgen. Dies gilt somit auch für die neue Kategorie der Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen. Auch diese Informationsausschreibungen müssen somit in Artikel 15 Absatz 1 abgebildet werden. Inhaltlich unterscheiden sich die Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen dabei in einem zentralen Punkt von den Ausschreibungen nach Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe k: Sie können einzig durch Europol vorgeschlagen werden und somit nicht als rein nationale Ausschreibung erfolgen. Sie werden entsprechend in einem eigenständigen neuen Buchstaben k bis geregelt.
Gemäss geltendem Artikel 15 Absatz 3 Buchstabe a BPI ist fedpol befugt, Ausschreibungen über das RIPOL «zur Erfüllung der Aufgaben nach Absatz 1» vorzunehmen. Zu diesen Aufgaben gehören entsprechend neu die auf Vorschlag von Europol erfolgenden Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen.
Ebenfalls zu Ausschreibungen im RIPOL befugt sind gemäss geltenden Artikel 15 Absatz 3 Buchstabe j die kantonalen Polizeibehörden. Da nun aber neu gemäss Artikel 16 Absatz 4bis E-BPI einzig fedpol Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen auf Vorschlag von Europol vornehmen darf, ist in Artikel 15 Absatz 3 Buchstabe j klarzustellen, dass die kantonalen Polizeibehörden von dieser Kategorie von RIPOL-Ausschreibungen auszunehmen sind.
Art. 16 Abs. 2 Bst. gbis 4 Einleitungssatz, Abs. 4bis und 6
Der Katalog der Aufgaben des N-SIS nach Artikel 16 Absatz 2 wird mittels Einfügung eines Buchstabens g bis durch die neue Aufgabe der Informationsgewinnung und des Informationsaustausches über die mutmassliche Beteiligung von Drittstaatsangehörigen an terroristischen oder sonstigen schweren Straftaten im Sinne von Anhang 4 E-BPI ergänzt. Damit ist diese Ausschreibungskategorie auch im Landesrecht formell-gesetzlich verankert.
Gemäss Einleitungssatz von Artikel 16 Absatz 4 in seiner geltenden Fassung können die Aufgaben nach Absatz 2 von allen zehn der im Absatz 4 aufgelisteten Behörden bzw. Behördenkategorien wahrgenommen werden. Die Verbreitung speziell von Informationsausschreibungen auf Vorschlag von Europol nach Artikel 16 Absatz 2 Buchstabe gbis E-BPI ist aber fedpol vorbehalten (vgl. nachfolgend die Erläuterungen zu Abs. 4bis). Dieser Umstand hat eine Eingrenzung des Verweises im Einleitungssatz von Absatz 4 zur Folge. Verweist dieser nach geltendem Wortlaut umfassend auf die «Erfüllung der Aufgaben nach Absatz 2», so ist er neu zu beschränken auf die «Erfüllung der Aufgaben nach Absatz 2 Buchstaben a-g und h-r». Dadurch ist die Aufgabe nach Buchstabe gbis (Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen) vom Verweis ausgenommen.
Unabhängig von der Einführung des neuen Instruments der Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen soll die vorliegende Gesetzesänderung dazu genutzt werden, den geltenden Wortlaut des Einleitungssatzes redaktionell zu optimieren: Die Formulierung, wonach die einzeln genannten Stellen zur Erfüllung ihrer Aufgaben «Ausschreibungen für die Eingabe in das N-SIS melden» können, erweist sich aus heutiger Sicht insofern als irreführend, als sie den Eindruck erweckt, es handle sich beim N-SIS um ein eigenständiges Informationssystem, in das zudem die genannten Meldungen «eingegeben» werden. Tatsächlich verhält es sich wie folgt: Eine SIS-Ausschreibung der Schweiz wird technisch im CS-SIS eingetragen, dem zentralen Schengener Informationssystem. Der Begriff «N-SIS» bezeichnet demgegenüber als solcher kein eigenständiges Informationssystem. Mit «N-SIS» wird vielmehr das gesamte nationale System bezeichnet, umfassend die SIRENE-IT, den Schengen National Adapter, das Schengen National Interface, den Alert Manager und - vorliegend besonders relevant - die nationale Kopie des SIS (NS-SIS, im Unterschied zum CS-SIS). Der Wortlaut des Einleitungssatzes von Absatz 4 spricht somit neu von «Ausschreibungen für die Verbreitung im SIS». Am Inhalt ändert sich nichts.
Gemäss Artikel 37 a der Verordnung «SIS Polizei» ist Europol befugt, mit dem Vorschlag zu einer Informationsausschreibung an einen Schengen-Staat zu gelangen. Die Aufgabe des Schengen-Staats nach Artikel 37 a Absatz 6, den Vorschlag von Europol für die Vornahme einer Informationsausschreibung im SIS entgegenzunehmen, zu überprüfen und zu analysieren und in der Folge nach seinem Ermessen über deren Eingabe im SIS zu entscheiden, muss auf nationaler Stufe umgesetzt werden und wird dabei gemäss Absatz 4 bis fedpol zugewiesen, denn fedpol ist seitens der Schweiz der ausschliessliche Endpunkt des Informationskanals SIENA für den Informationsaustausch mit Europol (vgl. oben, Ziff. 4.2).
Mit dem Inkrafttreten des totalrevidierten Datenschutzgesetzes vom 25. September 2020 ²4 (DSG) am 1. September 2023 ist gleichzeitig das Schengen-Datenschutzgesetz vom 28. September 2018 aufgehoben worden. ²5 Der geltende Artikel 16 Absatz 6 BPI war im Zuge der Änderung vom 25. September 2020 des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom 16. Dezember 2005 ²6 (AIG), zusammen mit einer gleichlautenden Bestimmung im AIG selbst (Art. Art. 109 a Abs. 4), in das BPI eingefügt worden. Während im Erlass zu dieser Änderung des AIG die Aufhebung des Artikels 109 a Absatz 4 im Hinblick auf das Inkrafttreten des DSG mittels einer Koordinationsbestimmung bereits vorgesehen war, ²7 unterblieb versehentlich eine solche Regelung für eine zeitgleiche Aufhebung von Artikel 16 Absatz 6 BPI. Die vorliegende Änderung des BPI wird dazu genutzt, die Aufhebung dieser Bestimmung nachzuholen.
Anhang 4
Die Informationsausschreibungen unterliegen einem Deliktskatalog: Gemäss Artikel 37 a Absatz 2 der Verordnung «SIS Polizei» verfolgen die Informationsausschreibungen den Zweck, «Endnutzer, die eine Abfrage im SIS durchführen, über die mutmassliche Beteiligung der Drittstaatsangehörigen an terroristischen Straftaten oder an sonstigen schweren Straftaten, wie in Anhang I der Verordnung (EU) 2016/794 aufgeführt, zu unterrichten, damit sie die in Artikel 37 b der vorliegenden Verordnung aufgeführten Informationen erhalten». Die Verordnung (EU) 2016/794 des Europäischen Parlaments und des Rates ist nicht Teil des Schengen-Besitzstands. Sie und damit auch ihr Anhang I haben für die Schweiz keine rechtlich bindende Wirkung. Sie ist jedoch bei der Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 dahingehend zu berücksichtigen, dass der Inhalt von Anhang I - also der darin enthaltene Deliktskatalog - im nationalen Recht mit einem gleichwertigen Katalog nach Schweizer Recht übernommen werden muss. Dies erfolgt mittels Schaffung eines neuen, zusätzlichen Anhangs 4 zum BPI.
Der Anhang listet in der linken Spalte die «Kriminalitätsformen» gemäss Anhang I der Verordnung (EU) 2016/794 auf und in der rechten Spalte die diesen Kriminalitätsformen entsprechenden Straftatbestände nach schweizerischem Recht (StGB und Nebenstrafrecht). Der Deliktskatalog gemäss Anhang I der Verordnung (EU) 2016/794 in Verbindung mit Artikel 37 a Verordnung «SIS Polizei» ist für die Schweiz verbindlich. Es können nicht einzelne Kriminalitätsformen gestrichen oder andere hinzugefügt werden. Die linke Spalte von Anhang 4 übernimmt somit unverändert die Auflistung der Kriminalitätsformen gemäss Anhang I der Verordnung (EU) 2016/794, dies mit einer Ausnahme: Aus redaktionellen Überlegungen werden bei den Kriminalitätsformen «Betrugsdelikte» und «gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete Straftaten» (linke Spalte, Ziff. 15) die entsprechenden landesrechtlichen Straftatbestände thematisch zusammengezogen. Für das nationale Recht stellt sich hingegen die Frage, welche Straftatbestände des schweizerischen Rechts sachlich und bezüglich ihres Schweregrads den einzelnen Kriminalitätsformen nach EU-Vorgabe entsprechen. Die Auflistung der Straftatbestände nach nationalem Recht, also in der rechten Spalte, folgen somit zwei Kriterien: Es sind diejenigen - und nur diejenigen - Straftatbestände aufgelistet, die materiell der jeweiligen Kriminalitätsform nach EU-Recht entsprechen, und dies wiederum nur, sofern sie - zweites Kriterium - mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Massnahme von mindestens drei Jahren bedroht sind. Diese letztere Anforderung resultiert aus Artikel 36 der Verordnung «SIS Polizei». Diese Bestimmung ist dahingehend zu verstehen, dass für das Verständnis des Begriffs «schwere Straftat» der Rahmenbeschluss 2002/584/JI zum Europäischen Haftbefehl ²8 massgeblich ist. Und dieser qualifiziert in seinem Artikel 2 Absatz 2 jene Straftaten als «schwer», die «mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Massregel der Sicherung im Höchstmass von mindestens drei Jahren bedroht sind». Da für Informationsausschreibungen auch ein Bezug zu «schweren Straftaten, wie in Anhang I der Verordnung (EU) 2016/794 aufgeführt», erforderlich ist (vgl. Art. 37 a Abs. 2 der Verordnung «SIS Polizei») und der Straftatenkatalog der Verordnung (EU) 2016/794 nur «Formen der schweren Kriminalität» erfasst (vgl. Art. 3 Abs. 1), wird im Interesse der Herstellung einer begrifflichen Kohärenz, wonach gleichlautende Begriffe in einem Erlass gleich verstanden werden sollen, die erwähnte Strafbarkeitsschwelle des Europäischen Haftbefehls in analoger Weise auch im Rahmen der Informationsausschreibungen herangezogen, um den erforderlichen Schweregrad der Straftaten zu bestimmen. Soweit speziell in Ziffer 15 in Anhang 4 E-BPI das Bundesgesetz vom 22. März 1974 ²9 über das Verwaltungsstrafrecht angesprochen ist, wird zu berücksichtigen sein, dass dieses Gesetz momentan Gegenstand einer Totalrevision ist.
²4 SR 235.1
²5 DSG, Anhang 1: Aufhebung und Änderung anderer Erlasse, I, Ziff. 2, AS 2022 491 .
²6 SR 142.20
²7 AS 2023 147
²8 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1.
²9 SR 313.0
6 Auswirkungen
6.1 Auswirkungen auf den Bund
Die Verordnung (EU) 2022/1190 schafft weder neue Datenbanken noch zusätzliche Kanäle für den Schengen-weiten polizeilichen Informationsaustausch, da es sich um eine punktuelle Anpassung des SIS handelt. Aus technischer Sicht wird sich die Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 auf die zwei vorerwähnten Hauptprozessschritte konzentrieren: die Eingabe von Informationsausschreibungen im SIS auf Vorschlag von Europol und die Meldung von Treffern zu solchen Ausschreibungen (vgl. oben, Ziff. 4.2).
Beim ersten Prozessschritt werden die Informationen zur vorgeschlagenen Ausschreibung von Europol über SIENA an fedpol übermittelt. fedpol überprüft diese Informationen und nimmt gegebenenfalls eine SIS-Ausschreibung vor. Wie bei den anderen SIS-Ausschreibungskategorien wird das RIPOL als Quellsystem dienen, in dem die Ausschreibungen erstellt, verwaltet und schliesslich gelöscht werden. Die Umsetzung dieses Verfahrens wird sich vergleichsweise einfach gestalten, weil es mit der bestehenden Struktur kompatibel ist. Die technische Umsetzung wird gemäss aktueller Schätzung einmalige Kosten in Höhe von 100 000 Franken generieren.
Bei einem Treffer in Verbindung mit einer Informationsausschreibung wird wie folgt vorgegangen: Anlässlich einer Abfrage im SIS resultiert ein Treffer in Verbindung mit einer Ausschreibung, die von einem anderen Schengen-Staat im SIS erfasst und publiziert wurde. Die SIS-Nutzerin oder der SIS-Nutzer wird auf die bestehende Informationsausschreibung hingewiesen. Der Treffer wird über die bestehenden Kanäle dem Schweizer SIRENE-Büro übermittelt. Dieses meldet den Treffer dem SIRENE-Büro des ausschreibenden Staats. Der Aufwand für die Umsetzung dieses Verfahrens wird als relativ gering erachtet, da bestehende Prozesse und Kanäle genutzt werden. Die erforderlichen Anpassungen betreffen die Ergänzung bestehender Formulare oder Erstellung neuer Formulare sowie eine neue Ausschreibungskategorie. Die einmaligen Kosten für die Umsetzung dieses Aspekts werden auf 50 000 Franken geschätzt.
Nebst diesen einmaligen Kosten in Höhe von insgesamt 150 000 Franken wird die Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 keine neuen zusätzlichen Betriebskosten erzeugen und kein zusätzliches Personal erfordern. Es sei angemerkt, dass kaum davon auszugehen ist, dass Europol für die Eingabe von Ausschreibungen im SIS vorrangig an die Schweiz gelangen wird, die kein Mitgliedstaat von Europol ist. Folglich dürfte die Bearbeitung von Vorschlägen von Europol für Informationsausschreibungen im SIS bei fedpol voraussichtlich keinen grossen Aufwand generieren.
6.2 Auswirkungen auf die Kantone
Die technische Umsetzung und die Anpassung der Rechtsgrundlagen erfolgen auf der Ebene des Bundes. Für diejenigen Kantone, die bereits in ihrer Gesetzgebung die verdeckte Registrierung und die gezielte Kontrolle geregelt haben, besteht kein zusätzlicher Rechtsetzungsbedarf. Die Kantone sind von dieser Verordnung grundsätzlich nur dann betroffen, wenn Polizeiangehörige während einer Personenkontrolle mit einer Informationsausschreibung konfrontiert sind, welche die kontrollierte Person betrifft. In einem solchen Fall müssen die betreffenden Polizeiangehörigen das Verfahren zur Treffermeldung anwenden, unter Berücksichtigung allfälliger besonderer Modalitäten für Informationsausschreibungen, die Gegenstand des Vollziehungsrechts sein werden.
Ferner bringt die Stärkung der Zusammenarbeit mit Europol, welche sich aus der Verordnung (EU) 2022/1190 ergibt, einen Sicherheitsgewinn auch für die Kantone. Dank der neuen Daten zu potenziellen Kriminellen, die im SIS integriert werden, dürfte diese Verordnung die Sicherheit im Schengen-Raum erhöhen.
7 Rechtliche Aspekte
7.1 Verfassungsmässigkeit
Der Bundesbeschluss über die Genehmigung und Umsetzung des Notenaustausches zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für auswärtige Angelegenheiten zuständig ist. Das BPI stützt sich auf Artikel 57 Absatz 2 BV sowie die ungeschriebene Bundeskompetenz zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit (sogenannte inhärente Kompetenz des Bundes). Für Bundeszuständigkeiten, die sich aus der Existenz und Natur der Eidgenossenschaft ergeben und für die eine explizite Zuweisung einer Rechtsetzungskompetenz fehlt, wird nach heutiger Praxis stellvertretend Artikel 173 Absatz 2 BV genannt. Die vorliegende Revision betrifft die Informationssysteme nach Artikel 15 und 16 BPI sowie Anhang 4 BPI und dient damit der Erfüllung von Bundesaufgaben, die in anderen Bundesgesetzen mit jeweils eigenen Verfassungsgrundlagen (etwa Art. 123 Abs. 1 BV) geregelt sind.
Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (siehe auch Art. 24 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 3⁰ [ParlG] und Art. 7 a Abs. 1 RVOG). Der Bundesrat verfügt über keine selbstständige Abschlusskompetenz zur Übernahme der vorliegenden EU-Verordnung.
3⁰ SR 171.10
7.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz
Mit der Übernahme dieser Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands erfüllt die Schweiz ihre Verpflichtungen aus dem SAA. Die Überschreitung der im SAA vorgesehenen zweijährigen Frist durch die Schweiz sollte keine Auswirkungen nach sich ziehen, sofern die Schweiz für die technische Umsetzung der neuen Funktionalität - die nicht vor Ende 2025 geplant ist (siehe oben, Ziff. 1.4) - bereit sein wird. Die Eingabe von Informationsausschreibungen im SIS auf Vorschlag von Europol, wie es die Verordnung (EU) 2022/1190 vorsieht, erfolgt vorbehaltlich der üblichen Kontrollen, die vor jeder Ausschreibung im SIS durchgeführt werden. Die vorgesehenen Massnahmen sind mit der Konvention vom 4. November 1950 3¹ zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), dem Internationalen Pakt vom 16. Dezember 1966 3² über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) und den weiteren internationalen Verpflichtungen der Schweiz in diesem Bereich vereinbar. Die Übernahme dieser EU-Verordnung und die damit einhergehenden Gesetzesänderungen stehen somit im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz.
3¹ SR 0.101
3² SR 0.103.2
7.3 Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie unbefristet und unkündbar sind (Ziff. 1), den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen (Ziff. 2) oder wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert (Ziff. 3). Nach Artikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen: Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in Form eines Bundesgesetzes erlassen werden .
Der vorliegende Notenaustausch betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, kann aber jederzeit gekündigt werden und sieht keinen Beitritt zu einer internationalen Organisation vor. Jedoch erfordert dessen Umsetzung eine Teilrevision des BPI. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des Notenaustausches untersteht deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV.
Nach Artikel 141 a Absatz 2 BV können die Gesetzesänderungen, die der Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrages dienen, in den Genehmigungsbeschluss aufgenommen werden, wenn dieser dem fakultativen Referendum untersteht. Die vorgeschlagenen Gesetzesbestimmungen dienen der Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 und ergeben sich unmittelbar aus den darin enthaltenen Verpflichtungen. Der Entwurf des Umsetzungserlasses kann deshalb in den Genehmigungsbeschluss aufgenommen werden. Die Bundesversammlung genehmigt völkerrechtliche Verträge, die dem Referendum unterliegen, in der Form eines Bundesbeschlusses (Art. 24 Abs. 3 ParlG).
7.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Die Vorlage sieht weder Subventionen noch Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen vor, die eine neue einmalige Ausgabe von mehr als 20 Millionen Franken oder neue wiederkehrende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen würden. Folglich unterliegt sie nicht der Ausgabenbremse.
7.5 Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
Das Prinzip der Subsidiarität (Art. 5 a und 43 a Abs. 1 BV) wird mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung zur Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 eingehalten: Der Bund übernimmt keine neuen Aufgaben, welche bisher von den Kantonen wahrgenommen wurden. Die Vorlage tangiert die Aufgabenteilung oder die Aufgabenerfüllung durch Bund und Kantone nicht.
Auch das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz (Art. 43 a Abs. 2 BV) wird respektiert: Die Vorlage sollte keine zusätzlichen Kosten für die Kantone verursachen, und ihre Umsetzung obliegt dem Bund. Damit wird die fiskalische Äquivalenz in Bezug auf die Kongruenz von Kostenträger und Entscheidträger eingehalten.
7.6 Datenschutz
Auf der Ebene des EU-Rechts erforderte die punktuelle Ergänzung der Verordnung (EU) 2018/1862 mit dem neuen Instrument der Europol-Informationsausschreibungen gemäss Verordnung (EU) 2022/1190 keine zusätzlichen Regelungen zum Datenschutz. Auf die neu vorgesehenen Informationsausschreibungen sind somit unverändert die diesbezüglichen Bestimmungen der Verordnung (EU) 2018/1862 anwendbar, wie sie bereits mit der Vorlage des Bundesrates vom 6. März 2020 zur Genehmigung und Umsetzung der Notenaustausche zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Rechtsgrundlagen über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) (Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands) und zur Änderung des Bundesgesetzes über das Informationssystem für den Ausländer- und den Asylbereich ins Landesrecht übernommen worden sind. Es kann somit auf die Ausführungen zu Datenschutz und Datensicherheit in dieser Botschaft des Bundesrates verwiesen werden. 3³ Abgesehen von den speziellen Regelungen in der Verordnung (EU) 2018/1862 unterliegt die Datenbearbeitung in der EU im Zusammenhang mit den Informationsausschreibungen der Datenschutz-Grundverordnung (Verordnung [EU] 2016/679) ³4 und der Verordnung (EU) 2018/1725 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 und des Beschlusses Nr. 1247/2002/EG. ³5 Das schweizerische Recht muss die Anforderungen der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands erfüllen, insbesondere die Anforderungen der Richtlinie (EU) 2016/680 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates. ³6
Das DSG setzt die Anforderungen der Datenschutzrichtlinie (EU) 2016/680 allgemein für alle Bundesorgane um. Obwohl das DSG die Anforderungen der Datenschutz-Grundverordnung nicht formell umgesetzt hat, da diese keine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands darstellt, trägt es diesen vollumfänglich Rechnung. Somit ist der Grundsatz der Äquivalenz zum EU-Recht gewährleistet. ³7
Bei der Anwendung der Verordnung (EU) 2022/1190 ist die Kontrolle durch den Europäischen Datenschutzbeauftragten gewährleistet. Dieser wurde vor dem Erlass der Verordnung konsultiert. ³8 In der Schweiz hat der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB) eine vergleichbare Kontrollfunktion inne (vgl. Art. 49 ff. DSG). Wie die anderen Schengen-Staaten hat demnach auch die Schweiz sicherzustellen, dass die Datenbearbeitung im Zusammenhang mit ihren Ausschreibungen im SIS rechtmässig erfolgt.
3³ BBl 2020 3487 ff.
³4 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1.
³5 ABl. L 295 vom 21.11.2018, S. 39; vgl. Verordnung (EU) 2022/1190 Erwägung 10.
³6 ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 89.
³7 Vgl. Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 15. Januar 2024 über die erste Überprüfung der Wirkungsweise der Angemessenheitsfeststellungen gemäss Artikel 25 Absatz 6 der Richtlinie 95/46/EG, S. 15 (www.edoeb.admin.ch/edoeb/de/home/datenschutz/international/angemessenheit.html).
³8 Verordnung (EU) 2022/1190 Erwägung 22.
7.7 Partielle vorläufige Anwendung
Die Fristüberschreitung für die Übernahme und Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 (vgl. Ziff. 1.4) durch die Schweiz sollte keine negativen Auswirkungen auf die innere Sicherheit im Schengen-Raum haben. Dies aus folgendem Grund: Die technische Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 und damit die Anwendung der neuen SIS-Ausschreibungskategorie wird auf EU-Ebene gemäss aktuellen Informationen der EU-Kommission frühestens ab Ende 2025/Anfang 2026 erfolgen. Auf diesen Zeitpunkt hin kann das parlamentarische Verfahren zur Genehmigung der Gesetzesänderung zur Umsetzung der EU-Verordnung abgeschlossen sein. Die Schweiz könnte somit die neuen SIS-Informationsausschreibungen zeitgleich mit den übrigen Schengen-Staaten anwenden. Sollte die Gesetzesänderung aber einer Referendumsabstimmung zu unterbreiten sein, wird es zu einer zusätzlichen Verzögerung kommen. Aus diesem Grund beabsichtigt der Bundesrat eine partielle vorläufige Anwendung des Notenaustauschs basierend auf Artikel 7 b RVOG. Damit würde die Verordnung (EU) 2022/1190 zumindest soweit angewendet, wie es erforderlich ist, um die Europol-Informationsausschreibungen anderer Schengen-Staaten in der Schweiz im SIS anzuzeigen und um es der Schweiz zu ermöglichen, die im Falle eines Treffers verlangten Massnahmen zu vollziehen. Vorläufig anzuwenden sind die Bestimmungen von Artikel 1 der Verordnung (EU) 2022/1190 in Bezug auf die nachfolgenden Bestimmungen der Verordnung (EU) 2018/1862: Artikel 3 Nummer 8 (Einführung der Kennzeichnung auch für die neue Kategorie der Informationsausschreibungen) und Nummer 22 (Begriffsdefinition des «Drittstaatsangehörigen»); Artikel 20 Absätze 1 und 2 Buchstabe b (Informationsausschreibungen von Drittstaatsangehörigen, einschliesslich von Sachen, als neue Inhalte des SIS); Artikel 24 Absatz 1 (erweiterter Inhalt für einer Kennzeichnung); Artikel 37 b (Massnahmen bei einem Treffer aufgrund der Informationsausschreibung eines anderen Schengen-Staates); Artikel 43 Absatz 3 (Abfragen im Zusammenhang mit Informationsausschreibungen im SIS mittels daktyloskopischer Daten); Artikel 48 Absatz 8 (Information von Europol im Fall eines Treffers), sowie Artikel 56 Absätze 1 und 5 (Verwendungsbeschränkung bei der Bearbeitung der Daten im Zusammenhang mit einer Informationsausschreibung).
Im Ergebnis könnte damit die Verordnung (EU) 2022/1190 zumindest teilweise dahingehend angewendet werden, dass die Europol-Informationsausschreibungen anderer Schengen-Staaten sowie die im Falle eines Treffers vom vollziehenden Staat zu ergreifenden Massnahmen in der Schweiz im SIS angezeigt werden. Mit einer solchen partiellen vorläufigen Anwendung wäre eine operative Umsetzung der neuen Kategorie der Informationsausschreibungen im SIS durch die Schweiz während der Übergangsphase bis zur vollständigen Übernahme und Umsetzung der Verordnung (EU) 2022/1190 (Inkrafttreten der Änderung des BPI) gewährleistet.
Im Einklang mit Artikel 7 b Absatz 1 des RVOG kann der Bundesrat bei völkerrechtlichen Verträgen, für deren Genehmigung die Bundesversammlung zuständig ist, die vorläufige Anwendung beschliessen oder vereinbaren, wenn die Wahrung wichtiger Interessen der Schweiz und eine besondere Dringlichkeit es gebieten. Die oben aufgeführten Bestimmungen des EU-Verordnungsrechts sind für eine vorläufige Anwendung geeignet, da sie direkt anwendbar sind und mit keiner Bestimmung des geltenden schweizerischen Rechts in Widerspruch stehen, so dass es zu deren Anwendbarkeit keiner rechtlichen Umsetzung bedarf. Diese Voraussetzungen sind aus Sicht des Bundesrates erfüllt. Gemäss Artikel 7 b Absatz 1bis RVOG und Artikel 152 Absatz 3 ter ParlG verzichtet der Bundesrat auf die vorläufige Anwendung, wenn sich die zuständigen Kommissionen beider Räte dagegen aussprechen.
Gemäss Artikel 152 Absatz 3bis ParlG konsultiert der Bundesrat die zuständigen parlamentarischen Kommissionen über eine partielle vorläufige Anwendung. Wenn es sich herausstellt, dass die post-parlamentarische Phase zur Genehmigung und Umsetzung des Notenaustausches vor dem Datum der Inbetriebnahme abgeschlossen wird, wird auf die vorläufige Anwendung verzichtet.
Liste der verwendeten Abkürzungen
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| Europol | Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung |
| Interpol | Internationale kriminalpolizeiliche Organisation |
| KKPKS | Konferenz der Kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten der Schweiz |
| LIBE | Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres |
| SIENA | Secure Information Exchange Network Application |
| SIRENE | Supplementary Information REquest at the National Entry |
Bundesrecht
Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Notenaustausches zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2022/1190 zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1862 in Bezug auf die Eingabe von Informationsausschreibungen zu Drittstaatsangehörigen im Interesse der Union in das Schengener Informationssystem (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands)
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