Parlamentarische Initiative «Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen» Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 14. Februar 2025 Stellungnahme des Bundesrates
Parlamentarische Initiative «Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen» Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 14. Februar 2025 Stellungnahme des Bundesrates
vom 21. März 2025
Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 14. Februar 2025 ¹ betreffend die parlamentarische Initiative 18.455 «Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.
Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 21. März 2025 | Im Namen des Schweizerischen BundesratesDie Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Stellungnahme
¹ BBl 2025 713
1 Ausgangslage
Die von Nationalrat Jürg Grossen am 27. September 2018 eingereichte parlamentarische Initiative 18.455 «Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen» fordert, Artikel 12 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 ² über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) dahingehend zu ergänzen, dass Parteivereinbarungen bei der Bestimmung des sozialversicherungsrechtlichen Status berücksichtigt werden. In der Begründung der parlamentarischen Initiative wird darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber auf Gesetzesstufe die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit nur knapp geordnet habe. Es sei deshalb notwendig, die Kriterien zur Bestimmung des Rechtsstatus anzupassen, um zu verhindern, dass Erwerbstätige grundsätzlich oder im Zweifelsfall als Angestellte klassifiziert werden, auch wenn die Beteiligten sich einig sind, dass es sich um eine selbstständige Tätigkeit handelt.
Am 15. November 2019 hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) die parlamentarische Initiative vorberaten und entschieden, ihr Folge zu geben. Die ständerätliche Schwesterkommission (SGK-S) stimmte ihr am 10. November 2021 nicht zu. Das Geschäft wurde daraufhin den beiden Räten vorgelegt, wobei der Nationalrat am 14. September 2022 und der Ständerat am 12. Juni 2023 der Initiative Folge gegeben haben.
An ihrer Sitzung vom 20. Juni 2024 verabschiedete die SGK-N den Vorentwurf und schickte ihn in die Vernehmlassung. Sie beantragte, Parteivereinbarungen dann zu berücksichtigen, wenn die bisherigen objektiven Kriterien (unternehmerisches Risiko und organisatorische Unterordnung) keine klare Unterscheidung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit erlauben. Ausserdem wollte es die Kommission den Vertragspartnern von Selbstständigerwerbenden ermöglichen, deren Beiträge auf freiwilliger Basis abzurechnen.
Am 14. Februar 2025 nahm die SGK-N Kenntnis von den Ergebnissen der Vernehmlassung. Auf dieser Grundlage entschied die Kommission mit 13 zu 12 Stimmen, ihren Entwurf anzupassen. Parteivereinbarungen sollen demzufolge systematisch berücksichtigt werden. Eine Minderheit Rechsteiner Thomas spricht sich dafür aus, dass Parteivereinbarungen nur dann berücksichtigt werden, wenn diese in schriftlicher Form vorliegen und die anderen Kriterien für eine klare Bestimmung des Status nicht ausreichen. Ausserdem behält die Kommission die Möglichkeit für Vertragspartner von Selbstständigerwerbenden bei, die Abrechnung der Sozialversicherungsbeiträge auf freiwilliger Basis zu übernehmen. Die Kommission hat den Gesetzesentwurf verabschiedet und ihn dem Bundesrat zur Stellungnahme unterbreitet.
² SR 830.1
2 Stellungnahme des Bundesrates
2.1 Heutige Situation
Die Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit ist im Sozialversicherungsrecht zentral, nicht nur, weil sich der Status auf die Beitragspflicht und die Höhe der geschuldeten Beiträge auswirkt, sondern vor allem auch, weil sich der soziale Schutz für Arbeitnehmende und für Selbstständigerwerbende voneinander unterscheidet.
Im geltenden Sozialversicherungsrecht ist die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit tatsächlich nur knapp geordnet. Das geltende Recht sorgt bei den Beiträgen für eine flexible Unterscheidung zwischen Selbstständigerwerbenden und Arbeitnehmenden und erlaubt es, alle Arten von Erwerbstätigkeit abzudecken. Dieser Ansatz trägt den Anforderungen des sich kontinuierlich verändernden Arbeitsmarktes Rechnung und bietet die notwendige Flexibilität, um sich der zunehmend digitalisierten Wirtschaft anzupassen.
Der Bundesrat stellt fest, dass über 90 Prozent der Gesuche um Anerkennung der Selbstständigkeit bewilligt werden; Streitfälle sind selten. Es ist somit nicht ersichtlich, dass die derzeitige Rechtslage zur Bestimmung des Status die wirtschaftliche Freiheit hemmt. Die freie wirtschaftliche Entfaltung wird weder von den Sozialversicherungsgesetzen im Allgemeinen noch von der Unterscheidung zwischen Unselbstständigerwerbenden und Selbstständigerwerbenden im Besonderen behindert.
Das bestehende System hat sich bewährt, und die Praxis wird laufend verbessert, insbesondere im Sinne einer weiteren Erleichterung des Verfahrens zur Bestimmung des Rechtsstatus. So können mittlerweile Gesuche zur Anerkennung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit via Online-Formular eingereicht werden, ³ was das Verfahren erheblich vereinfacht.
³ Weitere Informationen sind abrufbar unter: https://selbststaendig-erwerbend.ch.
2.2 Würdigung der Kommissionsvorlage
2.2.1 Berücksichtigung des Parteiwillens
Bei der Statusbestimmung soll gemäss der Kommissionsmehrheit den Parteivereinbarungen eine entscheidende Rolle zukommen.
Das Sozialversicherungsrecht fällt unter das öffentliche Recht. Die Kriterien für die Pflichten und Rechte der Versicherten und der Arbeitgeber sind objektiv und im Gesetz geregelt. Die Bürgerinnen und Bürger können nicht selbst über ihren Rechtsstatus und die sich daraus ergebenden Pflichten entscheiden. Der Parteiwille ist demgegenüber ein Konzept des Zivilrechts. Er ist subjektiver Natur und dementsprechend schwierig festzustellen. Eine Anwendung auf öffentliches Recht würde zwangsläufig zu einer hohen Komplexität führen, was die Rechtssicherheit stark beeinträchtigen könnte. Die Rechtsnatur des Vertrags zwischen den Parteien kann bei der Bestimmung des Status zwar als Indiz berücksichtigt werden, kann aber keine entscheidende Rolle spielen. Auch im Zivilrecht muss bei der Unterscheidung zwischen Arbeitsvertrag und selbstständiger Tätigkeit stets auf die objektiven Tatsachen des Vertragsverhältnisses abgestellt werden und nicht auf die Willensäusserungen der Vertragsparteien. Die Gesetzesänderung hätte aus Sicht des Zivilrechts deshalb eine grundlegende konzeptionelle Änderung zur Folge.
Es ist zudem zu befürchten, dass der Parteiwille aufgrund des ungleichen Kräfteverhältnisses zwischen den Vertragsparteien durch einen dominierenden Vertragspartner verzerrt wird oder dass sich dieser Wille je nach Situation ändert, namentlich sobald ein Versicherungsfall eintritt, was zu noch mehr Rechtsunsicherheit führt.
Weil die Auftraggebenden von Selbstständigerwerbenden keine sozialversicherungsrechtlichen Arbeitgeberpflichten haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie den Selbstständigerwerbenden-Status bevorzugen, und das zum Nachteil der anderen Vertragspartei, deren soziale Absicherung geschwächt würde. Der soziale Schutz von Arbeitnehmenden würde infrage gestellt und wäre grundlegend geschwächt, vor allem weil Selbstständigerwerbende weder der obligatorischen beruflichen Vorsorge noch der obligatorischen Unfallversicherung noch der Arbeitslosenversicherung unterstellt sind. Angesichts der möglichen Folgen der geringeren sozialen Absicherung auf das Gemeinwesen (Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe) darf das Sozialversicherungsrecht diesen Aspekt nicht ausblenden. Es kann nicht sein, dass die wirtschaftlichen Risiken der Selbstständigerwerbenden letztlich der Allgemeinheit aufgebürdet werden.
Die vorgeschlagene Massnahme wäre ausserdem nicht mit dem Arbeitsrecht vereinbar, in dem der Parteiwille bei der Einstufung der Tätigkeit nie ein bestimmendes Kriterium ist. Sie könnte grosse Koordinationsprobleme verursachen, weil ein und dieselbe Tätigkeit je nach Bereich unterschiedlich beurteilt werden könnte.
Das Gesetzgebungsprojekt steht zudem im Widerspruch zu den Entwicklungen im Ausland. So hat die EU kürzlich eine Richtline verabschiedet, die für den Fall von Plattformarbeit eine widerlegbare gesetzliche Vermutung zugunsten einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit vorsieht. Die Richtline sieht vor, dass der Status aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse bestimmt werden muss und die Bezeichnung des Vertragsverhältnisses durch die beteiligten Parteien nicht von Bedeutung ist.
Insgesamt käme der Vorschlag dem Öffnen der Büchse der Pandora gleich, wobei sich die Folgen und die Zahl der Betroffenen nicht abschätzen lassen. Der Gesetzgeber ist gehalten, ein gewisses Gleichgewicht sicherzustellen zwischen einem flexiblen am Arbeitsmarkt orientierten System, das die wirtschaftliche Entwicklung und das Wirtschaftswachstum unterstützt, und einem System, das für die gesamte Bevölkerung angemessenen sozialen Schutz bietet. Das heutige System der Statusbestimmung sorgt für dieses Gleichgewicht. Auch wenn für die Entwicklung des Arbeitsmarkts ein gewisses Mass an Flexibilität erforderlich ist, müssen der Schutz der Arbeitnehmenden und die Entwicklung der Sozialversicherungen gewährleistet sein, denn beide stellen ebenfalls Faktoren für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt dar. Wird dieses System infrage gestellt, so droht eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und des sozialen Schutzes, was für die Schwächsten schwere finanzielle Auswirkungen hätte.
Eine Minderheit Rechsteiner Thomas beantragt die Berücksichtigung des Parteiwillens bei der Bestimmung des Beitragsstatus, wenn die Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse keine klare Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit erlaubt. Diese Lösung hätte zwar geringere Auswirkungen als der Mehrheitsantrag, würde aber ebenfalls die Rechtssicherheit erheblich schwächen. Denn ob eine Situation klar ist oder nicht, ist subjektiv. Die Frage ist mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet. Eine Situation mag einigen klar erscheinen, anderen aber nicht. So könnte die Durchführungsstelle eine Situation, die für die Betroffenen offensichtlich ist, anders einschätzen, was zwangsläufig zu weiteren Schwierigkeiten und Konflikten führen würde. Bis zu einem Entscheid des Bundesgerichts bestünde Unklarheit, was der Rechtssicherheit schaden würde. Dass nur schriftliche Parteivereinbarungen berücksichtigt würden, ändert daran nichts.
In Bezug auf den Antrag der Kommission, der den Bundesrat zur Festlegung von Abgrenzungskriterien verpflichten will, sieht dieser keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, weil einerseits das bestehende System, wie dargelegt, angemessen ist und er andererseits den Vollzug eines Gesetzes gegebenenfalls auf dem Verordnungsweg regeln kann (Art. 182 Abs. 1 der Bundesverfassung ⁴ ). Die Delegationsnorm hätte deshalb nicht zur Folge, dass die Rechtssicherheit gegenüber der heutigen Situation erhöht würde. Sie könnte die grundlegenden Probleme, die mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung verbunden wären, nicht aufwiegen.
⁴ SR 101
2.2.2 Unterstützung der Selbstständigerwerbenden bei der Beitragsabrechnung
Die Kommission will ausserdem, dass Selbstständigerwerbende bei ihren Vorkehrungen im Zusammenhang mit ihrer Beitragspflicht unterstützt werden können (neuer Abs. 4bis in Art. 14 AHVG).
Heute werden die AHV-Beiträge von Selbstständigerwerbenden einfach und effizient anhand der Steuerdaten berechnet, die an die Ausgleichskassen übermittelt werden. Vermittler für die Beitragszahlung einzubeziehen, würde das Verfahren unnötig verkomplizieren, sowohl für die Selbstständigerwerbenden als auch für die Durchführungsstellen. Ausserdem ist es bereits heute möglich, die Beitragsabrechnung an Dritte (Treuhänder) zu delegieren und solche Dienstleistungen digital anzubieten. Eine Anpassung des gesetzlichen Rahmens ist nicht notwendig.
2.3 Schlussfolgerung
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die systematische Berücksichtigung des Parteiwillens den gesetzlichen Rahmen, der klar und flexibel ist, schwächen würde. Sie würde der Rechtssicherheit schaden und die Position der Erwerbstätigen, die in den meisten Fällen schwächere Vertragspartei, untergraben.
Der Bundesrat sieht aktuell keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf und lehnt den Entwurf der SGK-N ab.
3 Antrag des Bundesrates
Der Bundesrat beantragt Nichteintreten auf die Vorlage.
Bundesrecht
Parlamentarische Initiative. «Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen». Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 14. Februar 2025. Stellungnahme des Bundesrates
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