BBl 2025 713
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Parlamentarische Initiative «Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen» Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates

Parlamentarische Initiative «Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen» Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates
vom 14. Februar 2025
Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf des Bundesgesetzes über die Anpassung von Bestimmungen für Selbstständigerwerbende im Sozialversicherungsrecht ¹ . Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.
Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.
14. Februar 2025 Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Barbara Gysi
Übersicht
Die Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit ist im Sozialversicherungsrecht zentral, nicht nur, weil sich der Status auf die Beitragspflicht und die Höhe der geschuldeten Beiträge auswirkt, sondern auch, weil sich der soziale Schutz für Arbeitnehmende und für Selbstständigerwerbende voneinander unterscheidet.
Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats (SGK-N) ist der Auffassung, dass die derzeitige Rechtslage zur Bestimmung des Beitragsstatuts die wirtschaftliche Freiheit von Unternehmern hemmen kann. Gleichzeitig ist evident, dass sich die aktuelle Praxis im Vollzug in gewissen Fällen hinderlich auf die wirtschaftliche Aktivität in der Schweiz und den Zugang zum Arbeitsmarkt für Direktbetroffene auswirkt. Ihrer Ansicht nach vermag die derzeitige Rechtslage das von den Vertragsparteien gewünschte Resultat nicht immer zu erreichen, da die Vollzugsbehörden oder auch die Gerichte nicht selten gegen den Willen der Betroffenen entscheiden.
Um die wirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen, die soziale Absicherung von Selbstständigen zu verbessern und die Rechtssicherheit zu erhöhen, sollen die Hauptkriterien für die Bestimmung des Beitragsstatus im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) verankert werden. Für die Abgrenzung sollen neben den von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien - die organisatorische Unterordnung und das unternehmerische Risiko - auch allfällige Parteivereinbarungen berücksichtigt werden. Der Bundesrat soll die Abgrenzungskriterien auf Verordnungsebene definieren.
Zudem möchte die Kommission die Möglichkeit vorsehen, dass Dritte, wie z. B. Plattformunternehmen, die Selbstständigerwerbenden bei der Abrechnung der Beiträge unterstützen können.
Bericht
¹ BBl 2025 714

1 Ausgangslage

1.1 Entstehungsgeschichte

Nationalrat Jürg Grossen reichte am 27. September 2018 die parlamentarische Initiative 18.455 ein. Darin fordert er, das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 ² über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) dahingehend zu ändern, dass Parteivereinbarungen bei der Bestimmung des Rechtsstatus der Beschäftigten berücksichtigt werden.
In der Begründung der Initiative wird darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber auf Gesetzesstufe die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit nur knapp geordnet hat, um die unternehmerische Tätigkeit nicht unnötig zu hemmen. Nationalrat Jürg Grossen stellt indes fest, dass die Entscheide der Vollzugsbehörden und teilweise auch der Gerichte in der Praxis vermehrt hinderlich wirken. So würden Erwerbstätige grundsätzlich oder im Zweifelsfall als Angestellte klassifiziert, auch wenn sich die Beteiligten einig sind, dass es sich um eine selbstständige Tätigkeit handelt. Dies entspricht seiner Ansicht nach nicht dem Willen der Betroffenen und gefährdet die Unternehmensmodelle von internationalen Firmen genauso wie jene zahlreicher Schweizer Start-ups. Betroffen seien nicht nur «neue» Geschäftsmodelle, sondern auch die «traditionelle» Wirtschaft, etwa Psychologinnen und Psychologen, Ärztinnen und Ärzte, Hotellerie (Wellnessangebote), Kurierinnen und Kuriere oder Taxifahrerinnen und -fahrer. Laut Jürg Grossen braucht es rasch Massnahmen, um die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu hemmen.
Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats (SGK-N) gab der parlamentarischen Initiative am 15. November 2019 mit 15 zu 7 Stimmen bei 1 Enthaltungen Folge. Ihre ständerätliche Schwesterkommission ³ entschied am 10. November 2021 mit 11 zu 1 Stimmen, diesem Beschluss nicht zuzustimmen.
Die SGK-N prüfte die Initiative am 19. Mai 2022 erneut und beantragte ihrem Rat mit 12 zu 8 Stimmen bei 2 Enthaltungen, der Initiative Folge zu geben. Am 14. September 2022 folgte der Nationalrat dem Antrag seiner Kommission mit 127 zu 57 Stimmen bei 3 Enthaltungen.
Die SGK-S tagte am 18. April 2023 für eine erneute Vorprüfung der parlamentarischen Initiative. Die Kommissionsmehrheit sah nach wie vor keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf in diesem Bereich und hat mit 7 zu 4 Stimmen bei 1 Enthaltung empfohlen, dem Beschluss des Nationalrates, der Initiative Folge zu geben, nicht zuzustimmen. Dennoch hat der Ständerat dem Beschluss des Nationalrats am 12. Juni 2023 mit 26 zu 16 Stimmen zugestimmt.
An ihrer Sitzung vom 17. November 2023 hat die SGK-N entschieden, die Initiative gemäss eingereichtem Text umzusetzen. Sie hat die Verwaltung gestützt auf Artikel 112 Absatz 1 ParlG beauftragt, einen Vorentwurf auszuarbeiten.
Die Kommission hat am 11. April 2024 verschiedene Anpassungen am Vorentwurf vorgenommen und diesen mit 17 zu 8 Stimmen gutgeheissen. Am 20. Juni 2024 hat die Kommission die Vernehmlassungsvorlage finalisiert. Die Vernehmlassung dauerte vom 5. Juli bis zum 1. November 2024.
Am 14. Februar 2025 hat die Kommission die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis genommen. Als Reaktion auf die eingegangenen Stellungnahmen beschloss sie mit 13 zu 12 Stimmen, dem bisherigen Minderheitsantrag Silberschmidt in Artikel 12 Absatz 3 ATSG den Vorzug zu geben. Parteivereinbarungen sollen so als gleichwertiges Kriterium berücksichtigt werden müssen. Mit 13 zu 12 Stimmen hat die Kommission ihren Entwurf schliesslich zuhanden des Rates verabschiedet und unterbreitet ihn gleichzeitig dem Bundesrat zur Stellungnahme.
² SR 830.1
³ Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S).

1.2 Aktuelle Rechtslage

Im geltenden Sozialversicherungsrecht ist die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit nur knapp geordnet. Als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten gemäss Artikel 10 ATSG Personen, die in unselbstständiger Stellung Arbeit leisten und dafür massgebenden Lohn nach dem jeweiligen Einzelgesetz beziehen. Nach Artikel 12 ATSG ist selbstständigerwerbend, wer Erwerbseinkommen erzielt, das nicht Entgelt für eine als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer geleistete Arbeit darstellt. Der Fokus liegt somit nicht auf der erwerbstätigen Person selber, sondern auf dem durch sie erzielten Einkommen (objektiver Ansatz): Es handelt sich entweder um massgebenden Lohn oder um Einkommen aus einer selbstständigen Tätigkeit. Selbstständigerwerbende können demnach gleichzeitig auch Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer sein (in Art. 12 Abs. 2 ATSG ausdrücklich so erwähnt).
Für die Definition des massgebenden Lohns verweist das ATSG auf die verschiedenen Einzelgesetze. Als massgebender Lohn gilt gemäss Artikel 5 Absatz 2 AHVG ⁴ « jedes Entgelt für in unselbständiger Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit geleistete Arbeit ». Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit ist hingegen « jedes Erwerbseinkommen, das nicht Entgelt für in unselbständiger Stellung geleistete Arbeit darstellt » (Art. 9 Abs. 1 AHVG). Die anderen Sozialversicherungen kennen keine eigene Definition der Begriffe «Arbeitnehmerin/Arbeitnehmer» oder «massgebender Lohn», sondern verweisen auf das AHVG (vgl. Art. 2 Abs. 1 Bst. a AVIG ⁵ ; Art. 7 Abs. 2 BVG ⁶ ; Art. 1 UVV ⁷ ).
Folglich haben die Definitionen in Artikel 10 und 12 ATSG heute keine eigenständige Bedeutung.
Das entscheidende Kriterium für die Abgrenzung ist die unselbstständige Stellung. Da auch das AHVG diesen Begriff nicht definiert, hat das Bundesgericht in einer langjährigen Praxis die Abgrenzungskriterien präzisiert und dabei zwei Hauptkriterien herausgearbeitet: das arbeitsorganisatorische Abhängigkeitsverhältnis und das unternehmerische Risiko. Für das erste Kriterium muss unter anderem geprüft werden, ob die betroffene Person Weisungen entgegennehmen muss und ob eine Pflicht zur persönlichen Aufgabenerfüllung besteht. Das zweite Kriterium hängt beispielweise von der Höhe der getätigten Investitionen, der Haftung für Schädigungen Dritter oder auch davon ab, ob die betreffende Person in eigenem Namen und auf eigene Rechnung handelt. Gemäss Rechtsprechung beurteilt sich die Frage, ob im Einzelfall eine selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit vorliegt, nicht aufgrund der Rechtsnatur des Vertragsverhältnisses zwischen den Parteien. Diese kann zwar ein Indiz sein, ist aber nicht ausschlaggebend. Die Abgrenzung erfolgt anhand einer Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalles auf der Grundlage der tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse. ⁸
⁴ SR 831.10
⁵ SR 837.0
⁶ SR 831.40
⁷ SR 832.202
⁸ BGE 123 V 161 E. 1

1.3 Regelungsbedarf und Ziele

Für die SGK-N ist es wichtig, die wirtschaftlichen Realitäten zu erkennen und die soziale Absicherung für Selbstständige zu verbessern. Dazu sollen die Sozialversicherungen den Willen der Vertragsparteien bei der Bestimmung des Beitragsstatus stärker berücksichtigen. Nach Ansicht der SGK-N neigen die Behörden und Gerichte derzeit im Zweifels- oder Streitfall dazu, Erwerbstätige als Angestellte zu klassifizieren, und zwar auch dann, wenn sich die Beteiligten einig sind, dass es sich um eine selbstständige Tätigkeit handelt. Das kann unternehmerische Aktivitäten unnötig behindern.
Die SGK-N hat den vom Bundesrat am 27. Oktober 2021 vorgelegten Bericht «Digitalisierung - Prüfung einer Flexibilisierung des Sozialversicherungsrechts» ⁹ zur Kenntnis genommen. Im Gegensatz zum Bundesrat hält sie eine gesetzliche Regelung zur Abgrenzung des Beitragsstatus jedoch für notwendig. Dazu müsse der Gesetzgeber einen normativen Rahmen festlegen, damit die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen nicht eingeschränkt wird.
Die Kommission möchte bei dieser Gelegenheit die soziale Absicherung der Selbstständigerwerbenden stärken, insbesondere, wenn diese ihre Dienstleistungen über Internetplattformen anbieten. Dazu sollen der Bezug der Beiträge vereinfacht und die betroffenen Unternehmen in die Verantwortung genommen werden können.
⁹ Vgl. www.bsv.admin.ch > Publikationen & Services > Berichte und Gutachten > Bundesratsberichte > 2021 > Bericht des Bundesrates «Digitalisierung - Prüfung einer Flexibilisierung des Sozialversicherungsrechts («Flexi-Test»)».

1.4 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung

An ihrer Sitzung vom 17. November 2023 prüfte die SGK-N die Möglichkeit, die Änderung auf Verordnungs- oder Weisungsebene zu verankern. Diese Lösung wurde indes verworfen, da die von der Initiative angestrebte Wirkung nur durch eine Regelung auf Gesetzesstufe erzielt werden kann. Nach dem Gesetzmässigkeitsprinzip muss jede Rechtsnorm das übergeordnete Recht beachten (Art. 5 BV 1⁰ ). Alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen sind in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen (Art. 164 BV). Das bedeutet, dass sich die Rechtsvorschriften innerhalb des von der Normenhierarchie vorgegebenen Rahmens bewegen müssen und keine zusätzlichen Einschränkungen oder Verpflichtungen mit sich bringen dürfen. Vollzugsbehörden und Gerichte können demnach nur über eine entsprechende Verankerung auf Gesetzesstufe dazu verpflichtet werden, beim Entscheid über den Rechtsstatus auch die Parteivereinbarungen zu berücksichtigen.
Die Kommission hat zudem die Möglichkeit geprüft, auf Gesetzesstufe ausdrücklich ein zweistufiges Prüfverfahren vorzusehen. Danach sollten Parteivereinbarungen nur berücksichtigt werden, wenn die Prüfung der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation kein klares Resultat ergibt. Nach der Vernehmlassung hat die Kommissionsmehrheit entschieden, diese Variante zugunsten des ursprünglichen Wortlauts der parlamentarischen Initiative zu verwerfen.
1⁰ SR 101

2 Vernehmlassungsverfahren

2.1 Vernehmlassungsvorlage

Im Hinblick auf das Vernehmlassungsverfahren hatte eine Kommissionsmehrheit ein zweistufiges Prüfverfahren vorgeschlagen, wonach Parteivereinbarungen nur in Grenzfällen zur Anwendung kommen sollen (siehe Ziff. 1.4). Eine Minderheit Silberschmidt beantragte, entsprechend dem Wortlaut der Initiative Parteivereinbarungen dieselbe Bedeutung zu geben wie den übrigen Abgrenzungskriterien.

2.2 Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Die Vernehmlassung dauerte vom 5. Juli bis zum 1. November 2024. Insgesamt wurden 51 Behörden und Organisationen angeschrieben, um an der Vernehmlassung teilzunehmen. Es sind 60 Rückmeldungen eingegangen.
Die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden, nämlich 20 Kantone und 16 Organisationen, lehnt die Neuregelung insgesamt ab. Von den Befürwortenden unterstützen vier den Entwurf der Kommissionsmehrheit, während sich 11 für den Minderheitsantrag Silberschmidt aussprechen. Die übrigen neun Teilnehmenden unterstützen lediglich Teile der Vorlage, äussern Vorbehalte oder verzichten auf eine Stellungnahme.
Nachfolgend sind die Stellungnahmen kurz erläutert. Für detaillierte Ausführungen wird auf den «Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens» und auf die publizierten Stellungnahmen verwiesen 1¹ .
1¹ www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2024 > Parl.

2.3 Berücksichtigung von Parteivereinbarungen

Die Mehrheit der Teilnehmenden lehnt es ab, eine gesetzliche Pflicht zur Berücksichtigung von Parteivereinbarungen zu schaffen. Einerseits erachten sie das heutige System für genügend flexibel und bestreiten deshalb, dass überhaupt ein Handlungsbedarf besteht. Andererseits befürchten sie angesichts des Machtgefälles zwischen den Vertragsparteien, dass sich die stärkere Partei durchsetzen würde, um Arbeitgeberpflichten zu umgehen und Kosten zu sparen. Dies würde den Arbeitnehmerschutz aushöhlen und den Wettbewerb verzerren. Aus Sicht der Befürwortenden hemmt die heutige Praxis die wirtschaftliche Entwicklung. Sie setzen sich dafür ein, dem Willen der Direktbetroffenen besser Rechnung zu tragen und damit die Rechtssicherheit zu erhöhen.

2.3.1 Minderheit Silberschmidt

Von den Teilnehmenden, die die Berücksichtigung von Parteivereinbarungen befürworten, unterstützen 11 den Antrag, diese entsprechend der ursprünglichen Fassung der Initiative gleich zu gewichten wie die übrigen Abgrenzungskriterien.

2.4 Unterstützung bei der Abrechnung von Selbstständigerwerbenden

Die Mehrheit der Kantone und verschiedene Organisationen befürchten, dass der Einbezug Dritter den Bezug der Beiträge der Selbstständigerwerbenden, der heute in einem einfachen und effizienten Verfahren erfolgt, schwerfälliger machen und verteuern würde. Für die Befürwortenden, darunter drei Kantone, kann die Komplexität mit digitalen Instrumenten reduziert werden. Der Bezug der Beiträge könne auf diese Weise verbessert werden, was sich positiv auf die soziale Absicherung der Selbstständigen auswirken würde.

2.5 Würdigung der Ergebnisse der Vernehmlassung

Die SGK-N hält an ihrem Entwurf fest und verweist auf die Unterstützung der Vorlage durch einen Teil der Wirtschaft. Sie schlägt neu jedoch vor, den Minderheitsantrag Silberschmidt aus der Vernehmlassung zu übernehmen. Dieser wird von einer klaren Mehrheit der befürwortenden Stellungnahmen bevorzugt und führt nach Ansicht der Kommissionsmehrheit zu mehr Rechtssicherheit bei der Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit.
Eine Minderheit beantragt, nicht auf die Vorlage einzutreten, Sie verweist auf die mehrheitliche Ablehnung in der Vernehmlassung und die Befürchtung einer Schwächung des sozialen Schutzes. Verschiedene weitere Minderheiten beantragen, den Entwurf anzupassen, respektive dem vormaligen Mehrheitsantrag den Vorzug zu geben. Sie halten an ihren Anträgen aus dem Vernehmlassungsentwurf der Kommission fest.

3 Grundzüge der Vorlage

3.1 Die beantragte Neuregelung

Die SGK-N schlägt vor, Artikel 12 ATSG um einen Absatz 3 zu ergänzen und damit die Unterscheidung zwischen Selbstständigerwerbenden und Arbeitnehmenden zum einen auf das Mass der organisatorischen Unterordnung und das unternehmerische Risiko und zum anderen auf allfällige Parteivereinbarungen abzustützen.
Aktuell gibt die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichts die Kriterien zur Bestimmung des Beitragsstatus vor. Diese Frage soll neu für alle Zweige der Sozialversicherung im ATSG geregelt werden. Damit soll die Transparenz verbessert und die einheitliche Umsetzung erleichtert werden.
Mit dieser Änderung werden bei der Beurteilung des Status durch die Ausgleichskassen, neben den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen auch Parteivereinbarungen berücksichtigt.
Zudem schlägt die Kommission vor, Artikel 12 ATSG um einen vierten Absatz ergänzen, damit der Bundesrat in der Verordnung die Statusabgrenzungskriterien definieren kann. Gemäss Einschätzung der Kommission herrscht heute eine gewisse Rechtsunsicherheit, weil die Kriterien nicht im Gesetz definiert werden und somit der Auslegung der Durchführungsstellen unterliegen. Bei Annahme der Vorlage werden die Ausgleichskassen zusätzlich von Fall zu Fall über die Berücksichtigung der Parteivereinbarungen und deren Gültigkeit zu entscheiden haben, was sich in gewissen Situationen als schwierig erweisen könnte. Die drei Abgrenzungskriterien sind deshalb auf Verordnungsstufe präziser zu formulieren, damit die Rechtsunsicherheit verringert und Gerichtsverfahren, die zu Entscheidungen der Vollzugsbehörden, welche nicht dem Willen der Vertragsparteien entsprechen, führen, vermieden werden können.
Die Kommission schlägt ausserdem vor, dass die Selbstständigerwerbenden bei ihren Vorkehrungen im Zusammenhang mit ihrer Beitragspflicht unterstützt werden können. So könnten z. B. die Anmeldung bei der Ausgleichskasse und die Bezahlung von Akontobeiträgen auf freiwilliger Basis durch Vermittler erfolgen. Es könnte namentlich den Internetplattformen erlaubt werden, vom Betrag, den sie ihren selbstständigen Auftragnehmern ausrichten, einen Anteil in Abzug zu bringen und diesen in deren Namen als Anzahlung an die definitiven Beiträge an die Ausgleichskasse zu überweisen. Mit solchen Unterstützungsmassnahmen soll der Beitragsbezug für interessierte Selbstständigerwerbende weiter erleichtert und auch deren sozialer Schutz verbessert werden, indem Beitragslücken vermieden werden.

3.2 Minderheitsanträge

Eine Minderheit Meyer Mattea beantragt nicht auf den Entwurf einzutreten. Sie sieht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf und befürchtet mehr Bürokratie sowie ein hohes Missbrauchspotential, um arbeitsrechtliche Regelungen und sozialversicherungsrechtliche Pflichten zu umgehen. Dies würde auf Kosten der Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden gehen, die sich ans Gesetz halten. Sie verweist zudem auf die grossmehrheitliche Ablehnung des Entwurfs durch die Vernehmlassungsteilnehmenden.
Eine Minderheit Rechsteiner Thomas spricht sich für die Mehrheitsvariante des Vernehmlassungsverfahrens aus, wonach Parteivereinbarungen nur in Grenzfällen berücksichtigt werden sollen. Damit werde mehr Rechtssicherheit geschaffen.
Eine Minderheit Weichelt beantragt, Artikel 12 Absatz 4 ATSG zu streichen. Eine vollständige Definition der neuen Kriterien aus Absatz 3 durch den Bundesrat sei schwierig umsetzbar, der Bundesrat könne die neuen Bestimmungen auch ohne diesen Absatz wo nötig präzisieren.
Eine weitere Minderheit Meyer Mattea lehnt zudem den neuen Artikel 14 Absatz 4bis AHVG ab. Sie erachtet die heutige Regelung als ausreichend und befürchtet Mehraufwand seitens der zuständigen Behörden.

4 Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

4.1 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)

Art. 12 Abs. 3 und 4
Künftig sollen neben den aktuellen in der Praxis angewendeten und von der Rechtsprechung festgelegten Statusabgrenzungskriterien auch allfällige Parteivereinbarungen berücksichtigt werden.
Die vorgeschlagene Gesetzesbestimmung verwendet den Wortlaut « Unterscheidung zwischen Selbstständigerwerbenden und Arbeitnehmerinnen sowie Arbeitnehmern ». Das könnte die Annahme nahelegen, dass bei der Unterscheidung nun die Person und nicht mehr das erzielte Erwerbseinkommen im Vordergrund steht. Da die Änderung jedoch in Absatz 3 von Artikel 12 ATSG verankert ist, muss sie folglich im Lichte der anderen Absätze dieses Artikels gelesen werden, die sich auf das «Erwerbseinkommen» beziehen.
Die Vorlage spricht von der « organisatorischen Unterordnung ». Das Bundesgericht verwendet in seiner langjährigen Praxis den Begriff « in betriebswirtschaftlicher bzw. arbeitsorganisatorischer Hinsicht abhängig ». In der Rechtslehre ist auch von « Sub ordinationsverhältnis » die Rede. Da es keine einheitliche Terminologie zu diesem Kriterium gibt, drängt sich eine Umformulierung der vorgeschlagenen Bestimmung nicht auf.
In einem neuen Absatz 4 soll präzisiert werden, dass die Kriterien der organisatorischen Unterordnung, des Unternehmerrisikos und der Parteivereinbarung vom Bundesrat in der Verordnung geregelt werden.

4.2 Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)

Art. 14, Abs. 4bis
Der Bundesrat soll Dritten ermöglichen können, dass sie Selbstständigerwerbende bei der Beitragszahlung an die Sozialversicherungen unterstützen. So könnte z. B. vorgesehen werden, dass Internetplattformen oder andere Vermittlungsdienstleister ihre selbstständigerwerbenden Auftragnehmer bei den Sozialversicherungen anmelden oder in deren Namen den Ausgleichskassen die Sozialversicherungsbeiträge entrichten.
Dieser Artikel soll so formuliert werden, dass diese Möglichkeit fakultativ ist.
Um bei der Umsetzung flexibel zu sein, ist dieser Artikel offen zu formulieren, so dass auf Verordnungsebene praxisnahe Lösungen vorgesehen werden können. Die Anmeldung der Selbstständigerwerbenden bei der Ausgleichskasse oder die Zahlstellfunktion werden als Beispiele genannt; der Bundesrat kann gegebenenfalls aber auch andere Massnahmen bestimmen.

5 Auswirkungen

5.1 Auswirkungen auf den Bund

Die Vorlage hat keine direkten Auswirkungen auf den Bund.

5.2 Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Vorlage hat keine direkten Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.

5.3 Auswirkungen auf die Wirtschaft

Mit der neuen Regelung kann der Status der Betroffenen als Selbstständigerwerbende beziehungsweise Arbeitnehmende rascher bestätigt und die Unternehmensgründung vereinfacht werden. Die Kommission erhofft sich positive Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort, da diese Anpassung mit dem Ziel erfolgt, den Direktbetroffenen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen und gleichzeitig die soziale Absicherung von selbständigen Dienstleistungserbringern zu verbessern.

5.4 Auswirkungen auf die Sozialversicherungen

Die Vorlage betrifft den Kernbereich des Sozialversicherungssystems, da die Abgrenzung des Beitragsstatus der Versicherten von entscheidender Bedeutung ist.
Der Parteiwille ist subjektiv. Damit für den Entscheid über den Beitragsstatus auf Vereinbarungen zwischen den Parteien abgestellt werden kann, müssen diese gültig sein und insbesondere auf einer freien Willensäusserung beider Parteien beruhen. Die Ausgleichskassen können die Gültigkeit solcher privatrechtlicher Vereinbarungen nicht systematisch prüfen. Es besteht deshalb das Risiko, dass bei Eintritt eines Versicherungsfalls die Gültigkeit der Vereinbarungen in Frage gestellt wird. Dies hätte aufwändige Rechtsstreitigkeiten zur Folge. Hierbei ist festzuhalten, dass bereits heute aufgrund der aktuellen Rechtsunsicherheit zahlreiche Rechtsstreitigkeiten entstehen. In Summe dürften die vorgeschlagenen Anpassungen die Anzahl von Rechtsstreitigkeiten reduzieren.
Die Vereinfachung beim Beitragsbezug ist für die Ausgleichskassen vorteilhaft. Sie können beim Anschluss der Selbstständigerwerbenden von der Unterstützung durch professionelle Dritte profitieren. Der Beitragsbezug kann dadurch verbessert werden.
Dieser Mechanismus muss jedoch ins aktuelle System des Beitragsbezugs bei den Selbstständigerwerbenden integriert werden. Die zwischen den beiden Systemen erforderliche Koordination wird für die Durchführungsorgane zu administrativen Mehrkosten führen.

5.5 Auswirkungen auf die Umwelt

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.

5.6 Andere Auswirkungen

Die Vorlage hat keine anderen Auswirkungen.

6 Rechtliche Aspekte

6.1 Verfassungsmässigkeit

Die vorgeschlagenen Änderungen stützen sich insbesondere auf die Artikel 112 Absatz 1, 113 Absatz 1, 114 Absatz 1, 116 Absatz 1 und 117 Absatz 1 BV, die dem Bund die Kompetenz zur Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherungen geben.

6.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Der Gegenstand dieser Vorlage ist in keiner internationalen Verpflichtung geregelt. Am 23. Oktober 2024 ist aber die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit verabschiedet worden, deren Auswirkungen für die Schweiz noch nicht absehbar sind.

6.3 Erlassform

Nach Artikel 164 Absatz 1 BV sind alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form eines Bundesgesetzes zu erlassen. Die vorliegenden Änderungen erfolgen demzufolge im normalen Gesetzgebungsverfahren.

6.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse und Vereinbarkeit mit dem Subventionsgesetz

Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen beschlossen, die einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken nach sich ziehen. Die Vorlage ist somit nicht der Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.

6.5 Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

Die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen wie auch die Prinzipien der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz werden durch die Vorlage nicht tangiert.

6.6 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Vorlage enthält keine neue Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen.

6.7 Datenschutz

Die vorgeschlagene Änderung hat keinen Einfluss auf den Datenschutz.
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Parlamentarische Initiative. «Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen». Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates
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