BBl 2025 652
CH - Bundesblatt

Standesinitiative Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher Bericht vom 7. Oktober 2024 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates Stellungnahme des Bundesrates

Standesinitiative Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher Bericht vom 7. Oktober 2024 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates Stellungnahme des Bundesrates
vom 12. Februar 2025
Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Zum Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 7. Oktober 2024 ¹ betreffend die Standesinitiative 19.300 «Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
12. Februar 2025 Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi
Stellungnahme
¹ BBl 2024 3027

1 Ausgangslage

1.1 Entstehungsgeschichte

Am 7. Januar 2019 reichte der Kanton St. Gallen die Initiative 19.300 mit folgendem Wortlaut ein:
«Der Kantonsrat lädt die Bundesversammlung ein, das Schweizerische Strafgesetzbuch dahingehend zu ändern, dass die Verjährungsfrist für lebenslange Strafen von 30 Jahren auf unverjährbar angehoben wird.»
Am 10. März 2020 beschloss der Ständerat auf Antrag der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-S, Stimmverhältnis: 7/4/2) mit 20 zu 18 Stimmen, der Initiative keine Folge zu geben. Der Nationalrat entschied am 1. Juni 2021 auf Antrag der Minderheit seiner vorberatenden Kommission (RK-N, Stimmverhältnis: 13/8) mit 90 zu 89 Stimmen bei 10 Enthaltungen, der Initiative Folge zu geben. Am 16. Dezember 2021 folgte der Ständerat dem Antrag der Minderheit der RK-S (Stimmverhältnis: 8/5) und gab der Initiative mit 21 zu 20 Stimmen ebenfalls Folge.
Das Anliegen der Standesinitiative blieb auch bei den nachfolgenden Arbeiten der RK-S umstritten: Die Kommission nahm den Vorentwurf an ihrer Sitzung vom 12. Oktober 2023 mit 5 zu 0 Stimmen bei 6 Enthaltungen an. Trotz der zahlreichen ablehnenden Stellungnahmen, die in der darauffolgenden Vernehmlassung insbesondere von den Kantonen, der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) und von Strafverfolgungsbehörden eingegangen waren, beschloss die RK-S in ihrer Sitzung vom 7. Oktober 2024 mit 5 zu 4 Stimmen, ihrem Rat den Vorentwurf unverändert als Entwurf zu unterbreiten. Die Minderheit beantragt, nicht auf die Vorlage einzutreten.

1.2 Vorschlag der Kommission

Die RK-S hat für die Umsetzung der Standesinitiative die Unverjährbarkeit auf Mord gemäss Artikel 112 des Strafgesetzbuches (StGB) ² und Artikel 116 des Militärstrafgesetzes vom 13. Juni 1927 ³ (MStG) beschränkt. ⁴ Bei allen anderen Delikten des StGB und des MStG mit einer angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe und im Jugendstrafgesetz vom 20. Juni 2003 ⁵ (JStG) hält die Kommission an der heute geltenden Verjährungsfrist fest.
Schliesslich schlägt die RK-S eine Regelung zur Rückwirkung vor. ⁶
² SR 311.0
³ SR 321.0
⁴ Siehe Art. 101 Abs. 1 Bst. f E-StGB und Art. 59 Abs. 1 E-MStG.
⁵ SR 311.1
⁶ Siehe Art. 101 Abs. 3 vierter Satz E-StGB und Art. 59 Abs. 3 vierter Satz E-MStG.

2 Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat hat dem Parlament im Jahr 2016 die mit der Standesinitiative 19.300 inhaltlich identische Motion 16.3059 Heer (Änderung der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch) zur Ablehnung beantragt. Der Nationalrat ist diesem Antrag am 20. September 2017 mit grossem Mehr gefolgt. Die rechtlichen Grundlagen für die damalige Stellungnahme des Bundesrates haben in der Zwischenzeit nicht geändert. Hingegen hat in der politischen Debatte die Akzentverschiebung auf die Priorisierung von Opferinteressen im Strafrecht weiter zugenommen. Dies ist für das schweizerische Strafrechtssystem eine grosse Herausforderung, weil eine Bestrafung nach seiner ursprünglichen und heute noch geltenden Konzeption im staatlichen Interesse liegen muss. ⁷
Der Bundesrat hält die Beschränkungen und Regelungsverzichte, die die RK-S für die Umsetzung der Standesinitiative 19.300 beschlossen hat, gleichzeitig für sinnvoll.
Allerdings ist nicht ganz nachvollziehbar, weshalb die Kommission auf den Vorschlag einer grossen Anzahl der Vernehmlassungsteilnehmer nicht näher eingeht. Diese verlangten, die Verjährungsfristen bei schweren Delikten generell und insbesondere die grosse Differenz zwischen der Verjährungsfrist für die Strafverfolgung von Mord und vorsätzlicher Tötung (Art. 97 Abs. 1 Bst. a und b StGB) auf ihre Legitimität hin zu prüfen. Die grosse Mehrheit der Teilnehmer, die diesen Vorschlag einbrachten, lehnen zudem die Einführung der Unverjährbarkeit von Mord ab. Der Bundesrat versteht das Anliegen dieses Vorschlages. Er kann sich aber nicht näher dazu äussern, weil er noch nie Anlass hatte, diese Frage vertieft zu prüfen. Es gilt jedenfalls zu bedenken, dass die Grenzen zwischen Totschlag (Art. 113 StGB), vorsätzlicher Tötung (Art. 111 StGB) und Mord (Art. 112 StGB) fliessend sind. Wenn bei nicht trennscharf unterscheidbaren Deliktskomplexen die Frage der Verjährung für ein einzelnes Delikt auf inhaltlich nicht mehr kohärente Weise geregelt wird, scheinen praktische und rechtliche Schwierigkeiten unausweichlich.
Neben praktischen und rechtssoziologischen Argumenten ⁸ lassen auch die folgenden Beispiele die Einführung der Unverjährbarkeit von Mord im schweizerischen Strafrecht als fragwürdig erscheinen.
Die von deutschen Medien als historisch bezeichnete (und bislang nicht rechtskräftige) Verurteilung eines ehemaligen Stasi-Offiziers wegen Mordes in Berlin im Jahr 1974 ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert und erscheint als grosse Ausnahme: Zunächst wurde die Verurteilung im Jahr 2024 nicht aufgrund des technologischen Fortschritts möglich, sondern aufgrund von Akten, die im Jahr 2016 in Stasi-Archiven gefunden worden waren. Diese belegten eine lückenlose Befehlskette und die Identität des Täters. Zudem konnte eine ganze Gruppe von Schülerinnen und Schülern die Tat bezeugen. Anzumerken ist, dass das Mordmerkmal der Heimtücke beim Täter hier nicht ganz klar war. Wäre es verneint worden, wäre die beschuldigte Person freigesprochen worden. ⁹
Als Beispiel für ein Verfahren, das aufgrund des technologischen Fortschritts nach Jahrzehnten wiederaufgenommen worden ist, kann weiter ein Fall aus Aschaffenburg (D) angeführt werden: Die neuen technologischen Möglichkeiten reichten für eine Verurteilung jedoch nicht aus, weil Zweifel an der Täterschaft blieben. 1⁰

2.1 Zwecke des Strafrechts und Funktion von Verjährungsfristen

Das Rechtsinstitut der Verjährung bringt zum Ausdruck, dass das Strafbedürfnis infolge Zeitablaufs an Bedeutung verliert und die Strafverfolgung somit als zunehmend inadäquat bzw. unverhältnismässig erscheint: Die begrenzten Ressourcen der Strafverfolgung sollen grundsätzlich effektiv eingesetzt werden. Auch die spezial- und die generalpräventive Wirkung der Strafvollstreckung erscheint viele Jahre nach dem Delikt zunehmend schwächer. Die Bedeutung der durch die Straftat verursachten Störung des Rechtsfriedens nimmt mit zunehmendem Zeitablauf jedenfalls ab, und das Vergeltungsbedürfnis der Allgemeinheit kann je nachdem sogar ganz erlöschen. 1¹
In den Debatten wurde unter anderem argumentiert, der Staat sei den Angehörigen eine Antwort schuldig - egal, wie viel Zeit vergangen sei. ¹2 Das muss relativiert werden: Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches soll nicht nur Opferinteressen befriedigen, sondern erfüllt vor allem auch einen gesellschaftlichen, d. h. generalpräventiven Zweck.
Bei der Fiktion des Rechtsfriedens geht es im Übrigen nicht um ein «Recht auf Vergessen». Diese Figur ist bekannt aus dem Persönlichkeitsrecht bzw. dem Datenschutz. ¹3 Im Strafrecht ist es am ehesten als Gebot zur verhältnismässigen Ausgestaltung der Aufbewahrungsfristen im Schweizerischen Strafregister (VOSTRA) zu verstehen. ¹4 Im Zusammenhang mit der Verjährung ist es jedoch fernliegend, ein «Recht auf Vergessen» anzunehmen. Deren Zweck ist nicht im Wohl des Täters oder der Täterin zu suchen. Die Vorteile für den Täter oder die Täterin sind vielmehr nur eine mittelbare Folge davon, dass nach vielen Jahren aus den vorstehend genannten Gründen auf die Strafverfolgung und -vollstreckung verzichtet wird, obwohl ein Delikt verübt worden ist.
Zurbrügg Matthias,
in
:
Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar StGB (BSK StGB)
,
Basel
2019
, Vor Art. 97-101 N 42 ff.
¹2 Siehe dazu Bundesgesetz über die Unverjährbarkeit von Mord (Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes). Umsetzung Standesinitiative 19.300; Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher, Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 7. Oktober 2024, Ziff. 1.2.
¹3 Dazu BGE 111 II 209 und www.edoeb.admin.ch > Datenschutz > Internet & Technologie > Recht auf Vergessen im Internet, abrufbar unter: www.edoeb.admin.ch/ edoeb/de/home/datenschutz/internet_technologie/suchmaschinen.html.
¹4 Dazu Botschaft des Bundesrates zum Strafregistergesetz vom 20. Juni 2014, BBl 2014 5713 S. 5770.

2.2 Keine überzogenen Erwartungen wecken

Der Wunsch nach Gewissheit (und gegebenenfalls Vergeltung) für die Angehörigen ist verständlich. Es fragt sich aber, ob mit der Aufhebung der Verjährungsfrist diesbezüglich nicht falsche Hoffnungen geweckt werden.
Auch wenn sich neue Ermittlungsansätze ergeben, wird eine verdächtige Person nicht zwingend auch als Täter oder Täterin überführt werden können: Nur weil eine am Tatort sichergestellte DNA-Spur einer Person zugeordnet werden kann, heisst das noch nicht, dass damit auch der Täter oder die Täterin ermittelt ist. Dazu braucht es in der Regel noch weitere Beweise.
Und selbst wenn eine Person nach mehr als 30 Jahren als Täter oder Täterin eines Tötungsdeliktes überführt wird, ist noch nicht sicher, dass sie dann auch wegen Mordes nach Artikel 112 StGB verurteilt werden kann. Wenn es nicht gelingt, ein Mordmerkmal gemäss dieser Bestimmung nachzuweisen (so etwa der besonders verwerfliche Zweck oder Beweggrund), muss der Täter oder die Täterin freigesprochen werden, weil die vorsätzliche Tötung gemäss Artikel 111 StGB dann schon lange verjährt wäre (Art. 97 Abs. 1 Bst. b StGB).
Die grossen Erwartungen von Angehörigen könnten damit enttäuscht werden, wenn ein Strafverfahren nach Jahren immer noch nicht mit einem Sachurteil abgeschlossen werden kann, weil die Beweislage nicht ausreichend ist.
Der Nutzen der Unverjährbarkeit ist somit unsicher. Am Ende bleibt möglicherweise nur eine symbolhafte Vorschrift, die ihren Zweck nur selten erreicht und die Erwartungen von Angehörigen und der Gesellschaft enttäuscht. Das kann das Vertrauen in das Funktionieren der Rechtspflege mindestens so untergraben wie ein wegen Ablaufs der Verjährungsfrist ungesühntes Verbrechen.

2.3 Technologischer Fortschritt

Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass der technologische Fortschritt es heute ermöglicht, Tötungsdelikte rascher aufzuklären. Dazu zählen nicht nur DNA-Analysen, sondern auch die neuen Mittel der (rückwirkenden) Kommunikationsüberwachung. Ein Beispiel dafür ist der Vierfachmord von Rupperswil im Jahr 2015. ¹5 Unter diesem Blickwinkel drängt sich die Abschaffung der Verjährungsfrist für Mord ebenfalls nicht auf.
¹5 Siehe dazu de.wikipedia.org > Vierfachmord von Rupperswil > Ermittlungen, abrufbar unter: de.wikipedia.org/wiki/Vierfachmord_von_Rupperswil#Ermittlungen (zuletzt besucht am 23. Januar 2025).

2.4 Schlussfolgerungen

Mit den Ergebnissen des Vernehmlassungsverfahrens und den vorstehend dargelegten Überlegungen sprechen nach Ansicht des Bundesrats gewichtige Gründe gegen die vorgelegte Reform. Er erachtet es jedoch als politisch opportun, die Fragestellungen vertieft zu prüfen. Insbesondere sollte die Frist zur Verfolgungsverjährung nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe b StGB im Sinne der Eingaben im Vernehmlassungsverfahren eingehend geprüft werden.
⁷ Dazu
Wohlers Wolfgang
, Die Strafe als vergeltendes Übel, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (ZStrR) 2024, S. 393 ff., 403 und 408.
⁸ Dazu eingehend Ziff. 2.1-2.3.
⁹ Siehe www.lto.de > Nachrichten > Zehn Jahre Haft für ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, abrufbar unter: www.lto.de/recht/nachrichten/n/lg-berlin-i-mord-1974-urteil-ex-stasi-mitarbeiter; www.zdf.de > Nachrichten > Politik > Deutschland > Zehn Jahre Haft in Prozess um Stasi-Mord, abrufbar unter: www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/zehn-jahre-haft-stasi-mord-1974-100.html; www.faz.net > Gesellschaft > Menschen > Ein Schuldspruch nach mehr als 50 Jahren, abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/stasimord-von-1974-zehn-jahre-haft-in-prozess-in-berlin-110045422.html (alle zuletzt besucht am 16. Oktober 2024).
1⁰ Siehe www.sueddeutsche.de > Bayern > Mordprozess in Aschaffenburg: Angeklagter kommt frei, abrufbar unter: www.sueddeutsche.de/bayern/aschaffenburg-mord-prozess-angeklagter-frei-1.4788741 (zuletzt besucht am 16. Oktober 2024).

3 Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat hat den Entwurf der RK-S zur Kenntnis genommen. Sollte auf den Entwurf eingetreten werden, beantragt der Bundesrat, die Frist zur Verfolgungsverjährung nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe b StGB im Sinne der Eingaben im Vernehmlassungsverfahren zu prüfen.
Bundesrecht
Standesinitiative. Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher. Bericht vom 7. Oktober 2024 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates. Stellungnahme des Bundesrates
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