BBl 2025 1430
CH - Bundesblatt

Botschaft zur Gewährleistung der Verfassung des Kantons Appenzell Innerrhoden

Botschaft zur Gewährleistung der Verfassung des Kantons Appenzell Innerrhoden
vom 16. April 2025
Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf zu einem einfachen Bundesbeschluss über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Appenzell Innerrhoden ¹ .
Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
16. April 2025 Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi
Botschaft
¹ BBl 2025 1431

1 Neue Kantonsverfassung

Die Stimmberechtigten des Kantons Appenzell Innerrhoden haben an der Landsgemeinde vom 28. April 2024 eine neue Kantonsverfassung angenommen. Mit Schreiben vom 22. Mai 2024 ersucht der Ratschreiber im Auftrag von Landammann und Standeskommission um die Gewährleistung des Bundes.

2 Wesentliche Neuerungen

Die neue Verfassung des Kantons Appenzell Innerrhoden vom 28. April 2024 (KV-AI) weist insbesondere folgende Neuerungen auf:
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Amtszwang: Bisher besteht ein Amtszwang auch für Kommissionen, die von Behörden eingesetzt werden. Nach Artikel 8 Absatz 1 KV-AI besteht ein Amtszwang nur noch für Behörden des Kantons, eines Bezirks oder einer Gemeinde, deren Wahl durch die Stimmberechtigten erfolgt. Nach Artikel 8 Absatz 2 KV-AI ist vom Amtszwang befreit, wer dem Amtszwang unterliegende Ämter insgesamt mindestens vier Jahre ausgeübt hat (bisher: bis zu acht Jahre). Neu wird ausdrücklich befreit, wer ein Amt aus wichtigen Gründen nicht ausüben kann.
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Notrecht: Die bisherige Kantonsverfassung enthält keine Notrechtsregelungen. Neu werden in Artikel 25 KV-AI entsprechende Regelungen aufgenommen. Danach kann die Standeskommission zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zur Gewährleistung der öffentlichen Gesundheit sowie zur Abwehr von Notständen und nicht wiedergutzumachenden Schäden ohne weitere gesetzliche Grundlage das Notwendige regeln oder Massnahmen ergreifen. Notregelungen sind ohne Verzug dem Grossen Rat zur Genehmigung vorzulegen.
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Finanzkompetenzen des Grossen Rates und der Landsgemeinde: Nach Artikel 39 Absätze 2 und 3 KV-AI beschliesst der Grosse Rat abschliessend über einmalige freie Ausgaben von 500 000 bis zu einer Million Franken und über während mindestens vier Jahren wiederkehrende freie Ausgaben von je 125 000 bis zu 250 000 Franken. Bisher besteht keine abschliessende Ausgabenkompetenz des Grossen Rates. Dem fakultativen Referendum unterstellt sind neu einmalige freie Ausgaben zwischen einer und zwei Millionen Franken (bisher: zwischen 500 000 und einer Million Franken) und wiederkehrende freie Ausgaben zwischen 250 000 und 500 000 Franken (bisher: zwischen 125 000 und 250 000 Franken). Nach Artikel 30 KV-AI beschliesst die Landsgemeinde neu über einmalige freie Ausgaben von über zwei Millionen Franken (bisher: über einer Million Franken) und über während mindestens vier Jahren wiederkehrende freie Ausgaben von je über 500 000 Franken (bisher: je über 250 000 Franken).

3 Voraussetzungen für die Gewährleistung

Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) ² gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Steht eine kantonale Verfassungsbestimmung im Einklang mit dem Bundesrecht, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt sie diese Voraussetzung nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.
² SR 101

4 Bundesrechtskonformität

Es liegt in der Souveränität der Kantone nach Artikel 3 BV, sich eine Verfassung zu geben. Nach Artikel 51 BV sind die Kantone dazu auch verpflichtet; ausserdem muss die Verfassung die dort genannten Anforderungen erfüllen.
Im Folgenden wird auf einzelne Bestimmungen der KV-AI kurz eingegangen:
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Amtszwang: Wie in Ziffer 2 ausgeführt, besteht nach Artikel 8 KV-AI ein Amtszwang. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung können Bürgerinnen und Bürger verpflichtet werden, ein Amt zu übernehmen, in das sie gewählt werden können. ³
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Stimmrecht: Nach Artikel 9 Absatz 1 KV-AI sind für Abstimmungen im Kanton, in einem Bezirk oder einer Gemeinde alle in der jeweiligen Körperschaft wohnhaften Schweizerinnen und Schweizer stimmberechtigt, die das 18. Altersjahr vollendet haben und im Stimmregister eingetragen sind. Die Bestimmung ist mit den Artikeln 8 Absatz 3, 34 und 39 BV vereinbar.
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Initiativrecht: Nach Artikel 11 Absatz 1 KV-AI kann jede stimmberechtigte Person mit einer Initiative die Änderung der Kantonsverfassung beantragen. Die Anforderung nach Artikel 51 Absatz 1 zweiter Satz BV, wonach die Kantonsverfassung revidiert werden muss können, wenn es die Mehrheit der Stimmberechtigten verlangt, ist damit erfüllt.
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Notrecht: Es liegt in der Souveränität der Kantone nach Artikel 3 BV, in ihrem Zuständigkeitsbereich das Notrecht zu regeln. Die Notrechtsregelungen nach Artikel 25 KV-AI sind bundesrechtskonform. ⁴
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Finanzkompetenzen des Grossen Rates und der Landsgemeinde: Nach Artikel 39 Absatz 1 BV regeln die Kantone die Ausübung der politischen Rechte in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten. Die Regelungen der Finanzkompetenzen nach Artikel 30 und 39 KV-AI betreffen die politischen Rechte in kantonalen Angelegenheiten und fallen in die Organisationsautonomie des Kantons (Art. 47 Abs. 2 BV). Sie sind bundesrechtskonform.
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Mehrheitswahlverfahren: Nach Artikel 35 Absätze 1 und 3 KV-AI werden die Mitglieder des Grossen Rates im Mehrheitswahlverfahren in den Bezirken gewählt. Durch Gesetz können in den Bezirken Unterwahlkreise gebildet werden. Der Kanton Appenzell Innerrhoden wählt als einziger Kanton das Kantonsparlament im reinen Mehrheitswahlverfahren. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich die von Artikel 34 BV gewährleistete Erfolgswertgleichheit dadurch zwar nicht verwirklichen, was jedoch noch nicht bedeutet, dass ein solches Wahlverfahren mit der Bundesverfassung unvereinbar wäre. ⁵ Je nach den konkreten Umständen können die Vorteile des Mehrheitswahlverfahrens grösser sein als die mit seiner Anwendung verbundenen Nachteile. ⁶ Nach der vom Bundesgericht angerufenen Auffassung der Staatspolitischen Kommission des Ständerats kann dies z. B. der Fall sein, wenn die zahlenmässig beschränkte Bevölkerung eines kleineren Gebiets mit ausgeprägter eigener Identität Anspruch auf einen eigenen Wahlkreis erhebt. ⁷ Artikel 35 KV-AI ist bundesrechtskonform.
Die übrigen Bestimmungen der KV-AI geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Die Verfassung des Kantons Appenzell Innerrhoden vom 28. April 2024 erweist sich als bundesrechtskonform; ihr ist somit die Gewährleistung zu erteilen.
Nach den Artikeln 51 Absatz 2 und 172 Absatz 2 BV ist die Bundesversammlung für die Gewährleistung der Kantonsverfassungen zuständig. Die Gewährleistung erfolgt mit einfachem Bundesbeschluss, da weder die BV noch ein Gesetz das Referendum vorsehen (vgl. Art. 141 Abs. 1 Bst. c i. V. m. Art. 163 Abs. 2 BV).
³ BGE 95 I 223 E. 4a. Vgl. auch Pierre Tschannen in: Bernhard Waldmann/Eva Maria Belser/Astrid Epiney (Hrsg.), Bundesverfassung, Basler Komm., 1. Aufl. 2015, Art. 34 Rz. 3.
⁴ Vgl. eine ähnliche Regelung in Art. 90 Abs. 3 der Verfassung des Kantons Uri vom 28. Oktober 1984 ( SR 131.214 ), der die Bundesversammlung am 21. Sept. 2021 die Gewährleistung erteilt hat ( BBl 2021 2340 ).
⁵ BGE 140 I 394 E. 7.3 f. und 10.2
⁶ ebd.
⁷ ebd.
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