BBl 2025 2664
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Parlamentarische Initiative Umsetzung des Berichtes zur Evaluation der medizinischen Begutachtung in der IV Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates

Parlamentarische Initiative Umsetzung des Berichtes zur Evaluation der medizinischen Begutachtung in der IV Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates
vom 27. August 2025
Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) ¹ . Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.
Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.
27. August 2025 Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Barbara Gysi
Übersicht
Inhalt der Vorlage
Die Vorlage hat zum Ziel, das Einigungsverfahren bei den monodisziplinären Gutachten im Bereich der Invalidenversicherung (IV) zu optimieren. Einerseits soll die versicherte Person von Anfang an in die Bezeichnung der mit einem monodisziplinären medizinischen Gutachten der IV beauftragten sachverständigen Person einbezogen und ein Verfahren für einen tatsächlichen Einigungsversuch umgesetzt werden. In diesem Punkt greift die Vorlage eine Praxis auf, die bereits verschiedene IV-Stellen anwenden.
Andererseits sieht die Vorlage bei einer nicht erfolgten einvernehmlichen Einigung vor, dass beide Parteien, d. h. die IV-Stelle und die versicherte Person, je eine sachverständige Person bezeichnen. Die so bezeichneten Sachverständigen erstellen ein gemeinsames Gutachten. Bei divergierenden Einschätzungen der beiden Sachverständigen nimmt der Regionalärztliche Dienst (RAD) zu den strittigen Punkten Stellung und legt seine Schlussfolgerungen zum medizinischen Gutachten vor.
Damit ergänzt die neue Regelung die verschiedenen Massnahmen, die im Rahmen der Weiterentwicklung der IV (WEIV) eingeführt wurden, um die Qualität der Gutachten und des Verfahrens zu gewährleisten und zu verbessern.
Bericht
¹ BBl 2025 2665

1 Entstehungsgeschichte

Am 30. September 2021 reichte Nationalrat Benjamin Roduit die parlamentarische Initiative 21.498 ein, die die Umsetzung des Berichts zur Evaluation der medizinischen Begutachtung in der IV ² verlangt. Die Initiative zielt erstens darauf ab, dass von Anfang an eine tatsächliche Einigung zur Bezeichnung der mit dem monodisziplinären ärztlichen Gutachten beauftragten sachverständigen Person stattfindet. Falls der Einigungsversuch erfolglos bleibt, sieht die Initiative zweitens vor, dass jede Partei eine sachverständige Person für ein gemeinschaftliches Gutachten bestimmt.
Am 10. November 2022 gab die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) der parlamentarischen Initiative mit 19 zu 2 Stimmen Folge. Am 22. Mai 2023 schloss sich die ständerätliche Schwesterkommission diesem Entscheid mit 7 zu 3 Stimmen und 2 Enthaltungen an.
Am 16. August 2024 führte die SGK-N eine Grundsatzdiskussion. Dabei präzisierte und ergänzte sie den vom Initianten vorgeschlagenen Text bezüglich der Einigungspflicht bei der Auswahl der sachverständigen Person sowie bezüglich der Pflicht, allfällige Differenzen zwischen den Sachverständigen transparent darzustellen, damit der Regionalärztliche Dienst (RAD) in Kenntnis der Sachlage zum Gutachten Stellung nehmen kann. Die SGK-N beauftragte die Verwaltung gestützt auf Artikel 112 Absatz 1 ParlG mit der Ausarbeitung des erläuternden Berichts.
Mit 18 zu 7 Stimmen verabschiedete die SGK-N den Vorentwurf am 17. Januar 2025 zusammen mit dem vorliegenden erläuternden Bericht in die Vernehmlassung.
Am 27. August 2025 nahm die SGK-N von den Ergebnissen der Vernehmlassung Kenntnis (siehe Kap. 2.4). Sie verabschiedete ihren Entwurf mit 16 zu 6 Stimmen bei 1 Enthaltung zuhanden des Nationalrates und unterbreitet ihn mit dem vorliegenden Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme.
² Müller, Franziska / Liebrenz, Michael / Schleifer, Roman / Schwenzel Christof / Balthasar, Andreas (2020): Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung, Bericht zuhanden des Generalsekretariats des Eidgenössischen Departement des Innern EDI (GS-EDI), Interface Politikstudien Forschung Beratung, Luzern / Universität Bern, Bern.

2 Ausgangslage

2.1 Aktuelle Rechtslage

Die am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Weiterentwicklung der IV (WEIV) brachte insbesondere mit der Stärkung der Verfahrensrechte der versicherten Personen Verbesserungen beim Einigungsverfahren.
In Artikel 44 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG, SR 830.1 ) wird das Verfahren der direkten Vergabe von Gutachten durch die Versicherungsträger in groben Zügen festgelegt.
Die Regelung zum Einigungsversuch ist in Artikel 7 j der Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV, SR 830.11 ) verankert. Der mündliche oder schriftliche Einigungsversuch kommt in allen Sozialversicherungen zum Tragen, in der IV jedoch nur bei der Vergabe von monodisziplinären Gutachten: Bi- und polydisziplinäre Gutachten werden nach dem Zufallsprinzip zugewiesen, was die Anwendung des Einigungsverfahrens ausschliesst (vgl. Art. 72bis der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV), SR 831.201 ).
In der IV wurden im Jahr 2023 bei 5552 monodisziplinären Gutachten insgesamt 348 Einigungsversuche durchgeführt (6,3 %). In 33 Fällen (0,6 %) konnte keine Einigung erzielt werden. Nach Ablauf des 3. Quartals 2024 zeigen die vorläufigen Zahlen, dass die Anzahl der Fälle, in denen es den Parteien nicht gelungen ist, einvernehmlich eine sachverständige Person zu bezeichnen, im Vergleich zu 2023 stark zurückgegangen ist (0,25 %). In diesen Fällen erlassen die IV-Stellen eine Zwischenverfügung mit Angabe des Namens der oder des bezeichneten Sachverständigen und der Gründe, weshalb die Einwände der versicherten Person zurückgewiesen wurden. Die Zwischenverfügung kann vor dem zuständigen Gericht angefochten werden.

2.2 Regelungsbedarf und Ziele

Mit der WEIV wurden verschiedene Massnahmen im Bereich Begutachtung zur Verbesserung und Sicherung der Gutachtenqualität sowie im Bereich Verfahren eingeführt. Gleichzeitig mit der Umsetzung der WEIV gab das Generalsekretariat des Eidgenössischen Departements des Innern eine Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung in Auftrag. Die Ergebnisse wurden im Oktober 2020 veröffentlicht. Die Empfehlungen im Evaluationsbericht sind in die Arbeiten zur Umsetzung der WEIV eingeflossen bzw. bereits durch Weisungen konkretisiert worden. Aus organisatorischen Gründen und wegen des allgemeinen Sachverständigenmangels konnten jedoch einige Empfehlungen nicht wie vorgeschlagen umgesetzt werden.
Nach Auffassung der SGK-N müssen sämtliche Experten-Empfehlungen umgesetzt werden, die darauf abzielen, das Vertrauen in den Prozess zu stärken und die Akzeptanz der Ergebnisse monodisziplinärer Gutachten zu verbessern. So soll die Wahrscheinlichkeit langwieriger Gerichtsverfahren verringert werden. Laut SGK-N wurde jedoch die 5. Empfehlung des Evaluationsberichts «Optimierung Einigungsverfahren bei den mono-/bidisziplinären Gutachten (Stärkung Einigungsverfahren)» nicht genügend berücksichtigt. Die Empfehlung zielt darauf ab, den Aspekt der Einigung und damit die Mitwirkung der versicherten Personen im Einigungsverfahren zu stärken. Hierbei orientiert sich die Empfehlung am französischen Modell der gemeinsamen Begutachtung ³ . Das Modell der gemeinsamen Begutachtung durch zwei Sachverständige der gleichen Fachdisziplin wird im Bereich Verkehrsunfälle (Unfall- und Haftpflichtrecht) angewendet. Ziel ist es, das Verfahren zu beschleunigen und die Opfer von Strassenverkehrsunfällen rasch zu entschädigen. Dabei versucht der Versicherungsträger, sich mit der versicherten Person auf eine oder mehrere sachverständige Personen zu einigen. Falls keine Einigung zustande kommt, wird ein gemeinsames Gutachten durchgeführt. Der Versicherungsträger und die versicherte Person bestimmen pro Fachdisziplin je eine sachverständige Person; diese erstellen das Gutachten dann gemeinsam.
Die Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass nur mit dem Bemühen um eine tatsächliche Verständigung eine Einigung herbeigeführt werden kann. Vor diesem Hintergrund begrüsst die Kommission das heute von einigen IV-Stellen angewandte Verfahren: So können versicherte Personen nach der Mitteilung des Namens der bezeichneten sachverständigen Person eine andere Spezialistin oder einen anderen Spezialisten vorschlagen, die oder der auf der Liste der Sachverständigen steht, mit denen die IV-Stelle zusammenarbeitet. Die Kommission vertritt die Meinung, dass diese Praxis die Empfehlung 5 des Evaluationsberichts bereits teilweise erfüllt, und beantragt, sie in der ganzen Schweiz einzuführen.
Dagegen hält sie es für unerlässlich, ein neues Verfahren für Fälle vorzusehen, in denen keine Einigung zustande kommt. In solchen Fällen kann nur eine gemeinsame Begutachtung allen Parteien - den versicherten Personen wie auch den IV-Stellen - bei Abklärungen das gleiche Gewicht einräumen.
³ Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung, S. 62/63; Auerbach, Holger / Bollag, Yvonne / Eichler, Klaus / Gyr, Niklaus / Imhof, Daniel / Stöhr, Susanna (2011): MGS Medizinische Gutachtensituation in der Schweiz: «Studie zur Einschätzung der Marktsituation und zur Schaffung von Markttransparenz und Qualitätssicherung», Schlussbericht, 6. Mai 2011, Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie, Winterthur / Academy of Swiss Insurance Medicine, Basel, S. 142 ff.

2.3 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung

Mit Blick auf ein einheitliches Sozialversicherungsverfahren (Art. 1 Bst. b ATSG) stand die Möglichkeit einer solchen Regelung im ATSG statt nur in der IV kurz zur Diskussion.
Da der Evaluationsbericht, der die Stärkung des Einigungsaspekts und das französische Modell empfiehlt, sich nur auf die medizinische Begutachtung in der IV bezieht, zieht es die Kommission vor, die vorliegende Änderung nur im IVG und nicht im ATSG zu verankern.

2.4 Vernehmlassungsverfahren

Die Vernehmlassung wurde vom 30. Januar bis zum 8. Mai 2025 durchgeführt. Die Kommission lud 87 Adressaten ein, zum Vorentwurf und zum erläuternden Bericht Stellung zu nehmen. Insgesamt gingen 71 schriftliche Stellungnahmen ein (davon 20 spontane Stellungnahmen) ⁴ . Zwei Adressaten verzichteten explizit auf eine Stellungnahme.
Grundsätzlich unterstützt die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden die mit dem Vorentwurf vorgeschlagene Änderung insgesamt. Dies gilt für vier politische Parteien (SP, EVP, FDP und GRÜNE Schweiz), den Schweizerischen Gemeindeverband, zwei Verbände der Wirtschaft (Schweizerischer Gewerkschaftsbund und Tavail.Suisse) sowie die Mehrheit der weiteren Organisationen und Teilnehmenden, die eine spontane Stellungnahme einreichten (andere Organisationen der privaten Invalidenhilfe). 24 Kantone, die SVP, der Schweizerische Arbeitgeberverband, die IV-Stellen-Konferenz, die Fédération des entreprises romandes, die SUVA und die Swiss Insurance Medicine lehnen den Vorentwurf klar ab.
Die Befürwortenden unterstreichen, dass mit den vorgeschlagenen Massnahmen die Akzeptanz der Gutachten erhöht und langwierige Rechtsstreitigkeiten und Gerichtsverfahren vermieden werden können. Die Abklärungsverfahren würden dadurch beschleunigt und Kosten gespart. Abgesehen davon verlangen sie Anpassungen am Gesetzesentwurf und Präzisierungen gewisser Punkte im erläuternden Bericht.
Die meisten Teilnehmenden, die gegen die Vorlage sind, halten die vorgeschlagene Änderung angesichts der geringen Anzahl Fälle für unverhältnismässig. Überdies sind sie der Ansicht, dass damit die IV-Verfahren in organisatorischer, administrativer, rechtlicher und technischer Hinsicht verkompliziert werden, ohne einen nennenswerten Vorteil zu generieren. Die Kantone und die IV-Stellen-Konferenz teilen die von der Minderheit der Kommission geäusserten Vorbehalte. Einige Teilnehmende schlagen vor, das Vergabesystem nach dem Zufallsprinzip auf die monodisziplinären Gutachten auszudehnen. Die Swiss Insurance Medicine (SIM) lehnt die Einführung des Modells der gemeinsamen Begutachtung aufgrund ihrer praktischen Kenntnisse in dem Bereich ab und befürwortet die Regelung, dass die versicherte Person drei Sachverständige aus einer gesamtschweizerisch Gutachterliste vorschlägt und die IV-Stelle einen von diesen beauftragt. Die Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) begrüsst den Grundgedanken der Vorlage, geht jedoch nicht auf die Einzelheiten ein und regt an, Massnahmen für mehr Transparenz in diesem Bereich zu treffen.
⁴ Siehe Vernehmlassungsbericht. Parlamentarische Initiative 21.498. Verfügbar unter:
www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > Parl. oder unter:
www.parlament.ch > Suche Curia Vista > 21.498 > Vernehmlassung.

3 Grundzüge der Vorlage

3.1 Beantragte Neuregelung

Die Vorlage hat zum Ziel, dass die versicherte Person von Anfang an in die Bezeichnung der sachverständigen Person, die das monodisziplinäre Gutachten der IV erstellen soll, einbezogen wird und dass ein Verfahren für einen echten Einigungsversuch umgesetzt wird, welches in der Praxis bereits einige IV-Stellen anwenden.
Zudem sieht die Vorlage vor, dass die Parteien (d. h. einerseits die versicherte Person und andererseits die IV-Stelle) jeweils eine Sachverständige oder einen Sachverständigen für ein gemeinsames Gutachten bezeichnen können, falls vorher im Rahmen des Einigungsversuchs keine einvernehmliche Lösung gefunden werden konnte.
Im Anschluss an die Untersuchung der versicherten Person müssen die Sachverständigen ein Gutachten verfassen, welches das Ergebnis ihrer Konsensbeurteilung detailliert festhält. In Fällen, in denen die Sachverständigen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen oder ihre Einschätzungen auseinandergehen, sieht die Vorlage vor, dass die Sachverständigen ihre jeweiligen Stellungnahmen transparent darlegen. Der RAD nimmt anschliessend zu den strittigen Punkten Stellung und legt seine Schlussfolgerungen zum medizinischen Gutachten vor. Wenn im Rahmen einer hochwertigen Begutachtung zwei unterschiedliche, transparent erklärte Stellungnahmen vorliegen, soll nach Ansicht der SGK-N der RAD entscheiden können, auf welche Evaluation er sich stützt.
Indem die IV-internen Ärztinnen und Ärzte in diese Verfahrensetappe miteinbezogen werden, kann die IV-Stelle das Abklärungsverfahren abschliessen und innerhalb relativ kurzer Frist eine materielle Verfügung erlassen.
Durch die Einführung des Mitwirkungsverfahrens fällt die Abklärung von Amtes wegen (Offizialmaxime) weg, die im Sozialversicherungsrecht die Regel ist. Somit braucht es eine gesetzliche Grundlage.

3.2 Minderheit für Nichteintreten

Eine Minderheit (Glarner, Aeschi, de Courten, Graber, Gutjahr, Thalmann-Bieri) beantragt, nicht auf den Entwurf einzutreten. Sie kritisiert, dass das vorgesehene zeitaufwändige Einigungsprozedere die betroffenen IV-Verfahren verzögern würde. Zudem weist sie auf den bereits nach geltendem Recht herrschenden Mangel an qualifizierten Sachverständigen hin, der sich angesichts des steigenden Abklärungsbedarfs in Bezug auf psychische Erkrankungen weiter akzentuieren dürfte. Schliesslich betont die Minderheit, dass das Gutachterwesen in Artikel 44 ATSG erst kürzlich neu geregelt wurde und vor einer erneuten Anpassung zuerst Erfahrungen gesammelt werden müssten.

4 Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

4.1 Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG)

Art. 57 Abs. 4 und 5
Die IV-Stelle und die versicherte Person setzen alles daran, sich auf eine sachverständige Person zu einigen, wenn die IV-Stelle zur Abklärung des Sachverhalts ein monodisziplinäres medizinisches Gutachten einholen muss. Zieht die IV-Stelle eine sachverständige Person bei, so muss sie gemäss Artikel 44 Absatz 2 ATSG deren Namen bekanntgeben. Das heutige Vorgehen einiger IV-Stellen könnte als Modell dienen, um eine sachverständige Person einvernehmlich auszuwählen: Mit der Bekanntgabe der oder des von ihr bezeichneten Sachverständigen gibt die IV-Stelle der versicherten Person die Möglichkeit, jemand anderen aus der Liste der Sachverständigen auszuwählen, mit denen sie zusammenarbeitet. Die versicherte Person muss ihre Auswahl mitteilen oder innerhalb von zehn Tagen gemäss Artikel 44 Absatz 2 ATSG einen Gegenvorschlag unterbreiten. Unterbreitet die versicherte Person einen Gegenvorschlag, muss die oder der vorgeschlagene Sachverständige auch die Anforderungen von Artikel 7 m ATSV erfüllen.
Absatz 4 führt das Modell des gemeinschaftlichen Gutachtens in den Fällen ein, in denen die IV-Stelle und die versicherte Person sich nicht auf eine einzige sachverständige Person einigen können. Das gemeinschaftliche Gutachten macht die Zwischenverfügung über die Auswahl einer einzigen sachverständigen Person überflüssig.
Die IV-Stelle und die versicherte Person bezeichnen in der festgelegten Fachdisziplin je eine sachverständige Person, die sich zur Erstellung eines gemeinsamen Gutachtens verpflichtet. Beide Sachverständige müssen die Anforderungen nach Artikel 7 m ATSV erfüllen.
Gemäss Absatz 4 dritter Satz erstellen die beiden Sachverständigen im Auftrag der IV-Stelle ein gemeinsames Gutachten mit einer Konsensbeurteilung; sie müssen also eine Diskussion führen und einen Bericht verfassen.
Falls sich die Sachverständigen in ihrer Einschätzung bei bestimmten Beurteilungsfragen nicht einigen, sieht Absatz 4 vierter Satz vor, dass die Sachverständigen die entsprechenden Einschätzungen aufführen und ihre Differenzen begründen müssen. Der letzte Satz der neuen Bestimmung beauftragt den RAD, zu den strittigen Punkten Stellung zu nehmen und seine Schlussfolgerungen zum medizinischen Gutachten vorzulegen, so dass die Beurteilung abgeschlossen und innerhalb relativ kurzer Frist eine materielle Verfügung erlassen werden kann. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die Sachverständigen aufgrund ihrer Stellung als unabhängige Sachverständige nicht zu einem Konsens gezwungen werden können.
Für ein einheitliches Verfahren kann der Bundesrat gemäss Absatz 5 die Modalitäten der gemeinsamen Begutachtung auf Verordnungsstufe regeln. Dabei geht es insbesondere darum, den Ablauf der Begutachtung, den Ort der Untersuchung sowie die Struktur des Berichts zu bestimmen.

5 Auswirkungen

5.1 Auswirkungen auf den Bund

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf den Bund.

5.2 Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Vorlage hat weder Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden noch auf urbane Zentren, Agglomerationen oder Berggebiete.

5.3 Auswirkungen auf die Invalidenversicherung

Die finanziellen Auswirkungen dieser Vorlage betreffen nur Fälle, in denen keine Einigung zur Bezeichnung der sachverständigen Person gefunden werden konnte und ein gemeinschaftliches monodisziplinäres Gutachten erstellt werden muss. Laut Statistiken zu den medizinischen Gutachten der IV im Jahr 2023 handelt es sich um rund 30 Fälle. In diesen Situationen kommen die Vergütung der oder des zweiten Sachverständigen sowie die Kosten der Konsensbeurteilung zu den aktuellen Kosten hinzu. Bei gleichbleibender Fallzahl und ausgehend von den durchschnittlichen Kosten eines monodisziplinären Gutachtens würden für die IV Mehrkosten von rund 130 000 Franken pro Jahr anfallen. Dagegen sollten die Kosten der Beschwerden gegen Zwischenverfügungen, mit denen eine einzige sachverständige Person ernannt wird (heutiges System), in gewissem Mass sinken, ohne jedoch die durch die gemeinsamen Gutachten verursachte Kostensteigerung ganz auszugleichen.

5.4 Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die Vorlage betrifft ausschliesslich Personen, die IV-Leistungen beantragt haben und sich einem monodisziplinären Gutachten unterziehen müssen. Gestützt auf die Statistiken zu den medizinischen Gutachten der IV von 2023 würde die Stärkung der Mitwirkungsrechte bei der Vergabe monodisziplinärer Gutachten rund 5500 Personen betreffen. Dagegen würden laut erwähnten Statistiken nur etwa 30 Personen das neue Modell des gemeinschaftlichen Gutachtens nutzen.
Die Änderung wird das Vertrauen in die Begutachtung fördern, die Akzeptanz der Ergebnisse der monodisziplinären Gutachten verbessern und damit die Wahrscheinlichkeit langwieriger Gerichtsverfahren verringern. Allerdings könnte sich das administrative Verfahren in die Länge ziehen, bis das gemeinsame Gutachten vorliegt.

5.5 Auswirkungen auf die Umwelt

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt, die spezifischer Massnahmen bedürfen.

5.6 Andere Auswirkungen

Neben den oben erwähnten Auswirkungen hat die Vorlage keine nennenswerten Auswirkungen insbesondere auf Wirtschaft, Gesellschaft oder Umwelt.

6 Rechtliche Aspekte

6.1 Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich insbesondere auf die Artikel 112 Absatz 1, 113 Absatz 1, 114 Absatz 1, 116 Absatz 1 und 117 Absatz 1 BV, die dem Bund die Kompetenz zur Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherungen geben.

6.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Die EU hat zwecks Erleichterung der Freizügigkeit Regelungen zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit geschaffen. Die Schweiz nimmt an diesem Koordinationssystem teil, seit das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen FZA ⁵ ) am 1. Juni 2002 in Kraft getreten ist (vgl. Anhang II zum Freizügigkeitsabkommen FZA, Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit). Diese Koordinierung wird durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ⁶ des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie durch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ⁷ des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 geregelt. Diese beiden Verordnungen bezwecken einzig die Koordination der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit und stützen sich auf die entsprechenden internationalen Koordinationsgrundsätze, insbesondere die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsparteien mit den eigenen Staatsangehörigen, die Aufrechterhaltung der erworbenen Ansprüche und die Auszahlung von Leistungen im ganzen europäischen Raum.
Das EU-Recht sieht hingegen keine Harmonisierung der einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit vor. Die Mitgliedstaaten können die Einzelheiten ihrer Systeme der sozialen Sicherheit, den persönlichen Geltungsbereich, die Finanzierungsmodalitäten und die Organisation ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unter Beachtung der europarechtlichen Koordinierungsgrundsätze selber festlegen. Dies gilt aufgrund des EFTA-Übereinkommens ⁸ auch in den Beziehungen zwischen der Schweiz und den übrigen EFTA-Staaten.
Kein von der Schweiz ratifiziertes völkerrechtliches Übereinkommen enthält besondere Normen zum Bereich, der Gegenstand des vorliegenden IVG-Änderungsentwurfs ist.
Das im neuen Artikel 57 Absatz 4 IVG vorgesehene Verfahren zur Bestimmung von Sachverständigen bei der Einholung monodisziplinärer medizinischer Gutachten ist somit vereinbar mit den erwähnten Koordinierungsvorschriften und den übrigen internationalen Verpflichtungen der Schweiz.
⁵ SR 0.142.112.681
⁶ SR 0.831.109.268.1
⁷ SR 0.831.109.268.11
⁸ SR 0.632.31

6.3 Erlassform

Nach Artikel 164 Absatz 1 BV sind alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form eines Bundesgesetzes zu erlassen. Die vorliegende Änderung erfolgt demzufolge im normalen Gesetzgebungsverfahren.

6.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse und Vereinbarkeit mit dem Subventionsgesetz

Die Vorlage sieht weder Subventionen noch Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen vor, die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder neue wiederkehrende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen würden. Sie ist deshalb nicht der Ausgabenbremse unterstellt (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV). Da die IV über den IV-Fonds finanziert wird und der Bundesbeitrag von den effektiven Ausgaben der IV entkoppelt ist, findet diese Regelung keine Anwendung.

6.5 Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

Die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen wie auch die Prinzipien der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz werden durch die Vorlage nicht tangiert.

6.6 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Mit der Vorlage soll dem Bundesrat die Kompetenz übertragen werden, die Modalitäten der Umsetzung des gemeinsamen Gutachtens zu regeln (Art. 57 Abs. 5 E-IVG).

6.7 Datenschutz

Die vorgeschlagene Änderung hat keinen Einfluss auf den Datenschutz.
Bundesrecht
Parlamentarische Initiative. Umsetzung des Berichtes zur Evaluation der medizinischen Begutachtung in der IV. Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates
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