Parlamentarische Initiative Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotaufnahme Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats vom 10. April 2025 Stellungnahme des Bundesrates
Parlamentarische Initiative Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotaufnahme Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats vom 10. April 2025 Stellungnahme des Bundesrates
vom 20. August 2025
Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren
Zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats vom 10. April 2025 ¹ betreffend die parlamentarische Initiative 17.480 «Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotaufnahme» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.
Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 20. August 2025 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Stellungnahme
¹ BBl 2025 1705
1 Ausgangslage
Am 27. September 2017 hat Nationalrat Thomas Weibel die parlamentarische Initiative 17.480 «Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotfallaufnahme» (pa. Iv.) eingereicht. Sie verlangt, dass die gesetzlichen Grundlagen so angepasst werden, dass Patienten und Patientinnen, welche die Notaufnahme eines Spitals aufsuchen, vor Ort eine Gebühr von beispielsweise 50 Franken bezahlen müssen. Diese Gebühr soll nicht an die Franchise oder Kostenbeteiligung anrechenbar sein. Von dieser Regelung ausgenommen wären Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren sowie Patienten und Patientinnen mit ärztlicher Zuweisung oder einer nachfolgenden stationären Behandlung. Die pa. Iv. wird damit begründet, dass die Zahl der Konsultationen der Spitalnotaufnahme in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat und dies zu einer Überlastung der Notfallorganisation führt. Die Gebühr soll eine abschreckende Wirkung haben, so dass die «Bagatellfälle» von der Spitalnotaufnahme ferngehalten und einer angemesseneren und kostengünstigeren Versorgung zugeführt werden.
Am 6. Juli 2018 stimmte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats (SGK-N) der pa. Iv. mit 17 zu 7 Stimmen zu. An ihrer Sitzung vom 15. April 2019 lehnte die Schwesterkommission des Ständerats (SGK-S) die pa. Iv mit 7 zu 5 Stimmen. ab. Daher wurde die pa. Iv. erneut von der SGK-N geprüft, die ihrem Rat am 15. November 2019 mit 16 zu 6 Stimmen beantragte, der pa. Iv. Folge zu geben. Am 3. Dezember 2019 beschloss der Nationalrat mit 108 zu 85 Stimmen bei 1 Enthaltung, der pa. Iv. Folge zu geben.
Danach wurde die pa. Iv. der SGK-S zur erneuten Prüfung vorgelegt. Am 14. April 2021 beantragte die SGK-S mit 6 zu 0 Stimmen bei 5 Enthaltungen, dem Beschluss des Nationalrats nicht zuzustimmen. Am 16. Juni 2021 beschloss der Ständerat mit 17 zu 15 Stimmen bei 2 Enthaltungen, die pa. Iv. weiterzuverfolgen.
An ihrer Sitzung vom 19. Mai 2022 hörte die SGK-N Vertreter und Vertreterinnen von Spitälern, Ärzteschaft, Krankenversicherern, Patienten und Patientinnen sowie Konsumenten und Konsumentinnen an. Aufgrund dieser Anhörung kam die SGK-N zum Schluss, dass die vorgeschlagene Gebühr weniger Nutzen hätte als erwartet, eine erhebliche Arbeitslast mit sich brächte und eine Quelle der Unsicherheit darstelle. Deshalb beantragte sie mit 12 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung, die pa. Iv. abzuschreiben. Am 30. September 2022 ging die pa. Iv. daher noch einmal zurück an den Nationalrat, der mit 114 zu 71 Stimmen bei 6 Enthaltungen den Antrag auf Abschreibung ablehnte.
Am 3. Februar 2023 nahm die Kommission die Beratung der pa. Iv. wieder auf, um die Leitlinien zu ihrer Umsetzung festzulegen. Sie beauftragte die Ausarbeitung zweier Varianten: Die erste sollte die Einführung einer nationalen Gebühr von 50 Franken vorsehen, die zweite eine Erhöhung des Selbstbehaltes um 50 Franken für jede Konsultation der Spitalnotaufnahme. Am 31. August 2023 prüfte die SGK-N die beiden Vorentwurfsvarianten. Aufgrund zahlreicher verfassungsrechtlicher und umsetzungstechnischer Schwierigkeiten wurde die erste Variante verworfen und die zweite Variante weiterverfolgt. Die Verwaltung wurde damit beauftragt, das Einsparpotenzial der zweiten Variante zu prüfen sowie weitere statistische Informationen zur Inanspruchnahme der Spitalnotaufnahme aufzuzeigen.
Am 17. November 2023 legten Sachverständige des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) der SGK-N die Schlussfolgerungen ihrer Analysen dar. ² Am 11. April 2024 wurden der SGK-N wiederum zwei Vorentwurfsvarianten vorgelegt: Die erste sah vor, den maximalen jährlichen Selbstbehalt bei jeder ungerechtfertigten Inanspruchnahme der Spitalnotaufnahme um 50 Franken zu erhöhen. In der zweiten Variante wurde die Kostenbeteiligung als Zuschlag in der Höhe von 50 Franken auf den Selbstbehalt ausgestaltet. Der Zuschlag käme schon zum Tragen, bevor die versicherte Person die Obergrenze des jährlichen Selbstbehalts erreicht hat. Die Mehrheit der Kommission unterstützte die erste Variante. Mit 13 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung nahm sie den entsprechenden Vorentwurf in der Gesamtabstimmung an.
An ihrer Sitzung vom 15. August 2024 bereinigte die SGK-N den erläuternden Bericht im Hinblick auf das Vernehmlassungsverfahren. Die Vernehmlassung wurde vom 27. September 2024 bis zum 10. Januar 2025 durchgeführt. ³
Nach der Analyse der Vernehmlassungsergebnisse passte die SGK-N an ihrer Sitzung vom 10. April 2025 den Entwurf an. Insbesondere wurde die bisherige Minderheit 1 zur Mehrheitsvariante. Die SGK-N beschloss, den Gesetzesentwurf mit dem Bericht ihrem Rat zu unterbreiten und den Bundesrat zur Stellungnahme einzuladen.
Der dem Bundesrat vorgelegte Entwurf sieht vor, dass ein Zuschlag auf den Selbstbehalt zulasten der versicherten Person in der Höhe von höchstens 50 Franken geschuldet ist, wenn diese eine Spitalnotaufnahme ohne schriftliche Überweisung von einem Arzt oder einer Ärztin, einem Apotheker oder einer Apothekerin, von einem Zentrum für Telemedizin oder einer kantonalen Notfallnummer aufsucht. Von dieser Regelung ausgenommen sind Schwangere, Kinder und Personen, die von Transport- oder Rettungsunternehmen in die Spitalnotaufnahme eingeliefert werden. Die Regelung gilt für Personen, die der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) unterstellt sind. Der Entscheid über die Einführung eines solchen Zuschlags auf den Selbstbehalt wird den einzelnen Kantonen überlassen.
² Tatsächliches Einsparpotential und Statistiken - Bericht des BAG vom 7. Nov. 2023: Abrufbar unter
www.p
a
rlam
e
nt.ch
> 17.480 > Öffentliche Kommissionsunterlagen.
³ Die Vernehmlassungsunterlagen sind abrufbar unter:
ww
w
.fe
d
lex
.
admin.ch
> Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2024 > Parl. > 2024/84.
2 Stellungnahme des Bundesrates
2.1 Allgemeine Würdigung
Der Bundesrat befürwortet grundsätzlich das Ziel der Vorlage, die Spitalnotaufnahme zu entlasten, damit diese ihre Hauptaufgabe, nämlich die schnelle und effektive Behandlung schwerer Fälle, gut erfüllen kann. Er versteht das Anliegen, einen finanziellen Anreiz zu schaffen, um die Spitalnotaufnahme zu entlasten, und begrüsst das Bestreben, hierzu eine Lösung zu finden. Der Bundesrat ist jedoch - wie die grosse Mehrheit der betroffenen Stakeholder - der Meinung, dass die Ziele mit dieser Vorlage nicht erreicht werden können.
Eine Lenkung setzt voraus, dass Patienten und Patientinnen eine Wahl beziehungsweise eine Alternative zur Spitalnotaufnahme haben. Insbesondere zu Randzeiten und an Wochenenden ist die Spitalnotaufnahme oftmals der einzige Zugang zu medizinischer Versorgung. Vor allem in ländlichen Gebieten ist es schwierig, einen Hausarzt oder eine Hausärztin mit freien Kapazitäten zu finden (vgl. Ip. Buffat 25.3229).
Insgesamt befürchtet der Bundesrat, dass die Vorlage zu Mehrkosten führen wird, zum einen aufgrund des erhöhten Verwaltungsaufwands für Diagnose und schriftliche Überweisungen und der voraussichtlich geringen Lenkungswirkung, zum anderen aufgrund der grossen Komplexität der Vorlage und der damit verbundenen Prüfung der zahlreichen Ausnahmen.
2.2 Mehr Verwaltungsaufwand
Der Bundesrat ist - wie viele der Vernehmlassungsteilnehmenden - der Meinung, dass die Vorlage bei der Umsetzung, Kontrolle und Kommunikation der neuen Regelung mehr Verwaltungsaufwand für die Kantone, Krankenversicherer und Leistungserbringer verursacht sowie den Aufwand für die Versicherten erhöht.
Die Kantone, die einen Zuschlag einführen, müssten ihre kantonale Gesetzgebung anpassen, die Umsetzung beaufsichtigen, Informationskampagnen für die Bevölkerung umsetzen und haftpflichtrechtliche Fragen klären. Auch die Kantone, die keinen Zuschlag einführen, wären betroffen, denn die Ärzte und Ärztinnen, die Zentren für Telemedizin, die Apotheker und Apothekerinnen sowie die kantonalen Notfallnummern müssten ebenfalls in der Lage sein, schriftliche Überweisungen auszustellen und Haftungsfragen prüfen.
Bei den Leistungserbringern entstünde zusätzlicher Verwaltungsaufwand für die Ausstellung und die Kontrolle der schriftlichen Überweisungen. Sämtliche in der Schweiz tätigen Apotheker und Apothekerinnen, Ärzte und Ärztinnen sowie Zentren für Telemedizin müssten die Voraussetzungen schaffen, um eine schriftliche Überweisung in die Spitalnotaufnahme ausstellen zu können, auch dann, wenn eine in einem Kanton mit Zuschlag wohnhafte Person von einer Stelle in einem Kanton ohne Zuschlag in die Spitalnotaufnahme überwiesen werden soll. Es ist dem Bundesrat ein grosses Anliegen, die administrative Belastung der Leistungserbringer auf ein vertretbares Mass zu beschränken, damit diese ihre teilweise bereits knappen personellen Ressourcen für die Leistungserbringung einsetzen können.
Die Krankenversicherer müssten unterscheiden, ob sich eine versicherte Person mit oder ohne Überweisung in der Spitalnotaufnahme behandeln lässt. Auch müssten sie prüfen, ob es sich um eine Ausnahme handelt. Sobald die Franchise ausgeschöpft ist, hat der Versicherer den Zuschlag bei der Rechnungsstellung zu erheben. Aufgrund der gesteigerten Komplexität dürfte sich die Rechnungskontrolle für die Versicherer erschweren. Ausserdem entstehen Implementierungskosten, sobald sich ein Kanton für die Einführung des Zuschlags entscheidet. Die Zahl der Kundenanfragen und -beschwerden dürfte zunehmen, was mehr Aufwand in der Kundenbetreuung mit sich bringt.
Mit der Vorlage würde ausserdem das bereits heute für die Versicherten teilweise schwer nachvollziehbare System der Kostenbeteiligung weiter an Komplexität zunehmen.
2.3 Fragliche Wirksamkeit
In Fällen, in denen eine versicherte Person in den Spitalnotfall überwiesen wird, müsste die OKP einerseits, wie bis anhin die Kosten der Behandlung in der Spitalnotaufnahme tragen. Andererseits müsste sie neu auch die Kosten für die Konsultation und schriftliche Überweisung durch Ärzte und Ärztinnen tragen. Damit fallen für die OKP-Mehrkosten an.
Sobald eine versicherte Person die Franchise ausschöpft, hätte sie diesen Zuschlag im Rahmen der Kostenbeteiligung zu bezahlen. Die Höhe des bereits bezahlten Selbstbehaltes spielt dabei keine Rolle. Nur wenige Versicherte wären vom Zuschlag betroffen. Von sämtlichen Versicherten, die die Notaufnahme aufsuchen, sind Kinder und Schwangere abzuziehen sowie Erwachsene, die mit einem Transport- und Rettungsunternehmen in die Notaufnahme gebracht werden. Von diesen Personen könnten nur diejenigen vom Zuschlag betroffen sein, die die Franchise bereits ausgeschöpft haben. Über sämtliche Franchisen betrachtet schöpften im Jahr 2022 rund 54 Prozent aller erwachsenen Versicherten ihre Franchise aus. ⁴ Lediglich bei diesen Versicherten könnte die gewünschte Lenkungswirkung erzielt werden. Unter diesen Personenkreis fallen insbesondere auch Schwerkranke und chronisch Kranke mit hohen krankheitsbedingten Gesundheitskosten, auf welche die Vorlage nicht abzielt. Weiter sind diverse Ausnahmen vorgesehen, und die Patienten und Patientinnen haben die Möglichkeit, sich vom Zuschlag zu befreien, indem sie vorgängig eine Überweisung einholen. Insgesamt würde der Zuschlag nur für einen kleinen Prozentsatz der Versicherten fällig (insbesondere Personen, die das System nicht kennen, oder solche, die sich keine Überweisung beschaffen konnten) und hätte damit eine geringe Wirksamkeit.
Weiter birgt die Vorlage die Gefahr, dass Arztpraxen stärker belastet werden, da ihnen als überweisungsbefugte Stelle eine weitere Aufgabe zugeteilt würde. Arztpraxen sollten nach Meinung des Bundesrates nicht mit zusätzlichen administrativen Prozessen belastet werden.
Zusammenfassend ist der Bundesrat wie die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden der Ansicht, der Aufwand, den Kantone, Leistungserbringer und Versicherer für die Einführung und die Umsetzung der Vorlage betreiben müssten, wäre gemessen an der vermutlich bescheidenen Lenkungswirkung unverhältnismässig gross.
⁴ Quelle: Erhebungsformular Individualdaten 2022.
2.4 Schwierige operative Umsetzung
Auch während der Vernehmlassung wurden zahlreiche Umsetzungsfragen gestellt. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung bestehen vor allem darin, dass viele Details noch unklar sind, klare Regeln fehlen und die bestehenden Strukturen sowie der Rechtsrahmen noch nicht auf die geplanten Änderungen vorbereitet sind. Im Folgenden wird exemplarisch auf einige Umsetzungsfragen eingegangen.
Bemerkungen zur Umsetzung sowie Vergütung durch die OKP
Das Bundesgesetz vom 18. März 1994 ⁵ über die Krankenversicherung (KVG) sieht aktuell nicht vor, dass Apotheker oder Apothekerinnen Leistungen der Diagnose und Behandlung erbringen, wie beispielsweise die Entscheidung, ob ein Patient oder eine Patientin in die Spitalnotaufnahme überwiesen wird. Die Kosten für Überweisungen von einem Apotheker oder einer Apothekerin können demnach nicht von der OKP übernommen werden. Somit müssten die Patienten und Patientinnen die Überweisung selbst bezahlen. Es ist zu erwarten, dass die Apothekerschaft fordern wird, dass die Kosten der Überweisung von der OKP übernommen werden.
Der im Gesetzesentwurf genannte Ausdruck «Zentrum für Telemedizin» existiert im KVG bisher nicht. Es gibt keinen solchen Leistungserbringer nach Artikel 35 Absatz 2 KVG. Gemäss dem Bericht der SGK-N werden unter Zentren für Telemedizin grundsätzlich ärztlich geleitete Institutionen verstanden. Artikel 35 Absatz 2 Buchstabe n KVG sieht als Leistungserbringer Einrichtungen vor, die der ambulanten Krankenpflege durch Ärzte und Ärztinnen dienen (Art. 35 Abs. 2 Bst. n KVG). Die Kompetenz zur Diagnosestellung und Überweisung liegt in jedem Fall bei einer ärztlichen Fachperson. Damit eine Leistung von der OKP übernommen wird, muss sie von einem anerkannten Leistungserbringer erbracht werden. Somit kann nur der Arzt oder die Ärztin (Art. 35 Abs. 2 Bst. a KVG) oder die ärztlich geleitete Einrichtung, in welcher der Arzt oder die Ärztin tätig ist (Art. 35 Abs. 2 Bst. n KVG), auf Kosten der OKP eine Diagnose stellen und die schriftliche Überweisung anordnen.
Die Gesundheitsversorgung samt medizinischer Notfallversorgung ist kantonal organsiert. In den verschiedenen Kantonen bestehen somit sehr unterschiedliche Angebote an medizinischen Notfallnummern (teilweise kostenpflichtig, teilweise mehrere Anbieter). Zudem besteht die Gefahr, dass solche kantonalen Notfallnummern zusätzlich belastet werden. Die kantonalen Notrufnummern sind keine im KVG vorgesehenen Leistungserbringer und werden grundsätzlich nicht über die OKP finanziert. Bei kantonalen Notfallnummern ist davon auszugehen, dass eine nichtärztliche Fachperson die Ersttriage vornimmt. Die Überweisung der Anrufenden muss von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommen werden. Der Begriff müsste daher so definiert werden, dass die Zuständigkeiten klar sind. Analog zu den Ausführungen im Bericht der SGK-N bezüglich Apotheker und Apothekerinnen ist auch bei den kantonalen Notfallnummern darauf hinzuweisen, dass die Kompetenz zur Diagnosestellung und Überweisung in jedem Fall bei einer ärztlichen Fachperson liegt.
Bei den Transport- und Rettungsunternehmen ist aus Sicht des KVG zwischen Transport und Rettung zu unterscheiden. Bei einer Rettung wird eine Person aus einer Gesundheit und Leben akut bedrohenden Situation befreit und notfallmässig der nächstgelegenen, geeigneten medizinischen Behandlung zugeführt. Es handelt sich somit um eine Notfallsituation. Wenn für die Fahrt zu einer Behandlung aus medizinischen Gründen ein spezielles Transportmittel nötig ist (z. B. Ambulanz) oder der Gesundheitszustand der Patienten und Patientinnen einen Transport mit einem öffentlichen oder privaten Transportmittel nicht erlaubt, handelt es sich um einen Transport. Ein Transport setzt daher eine medizinische Indikation voraus, jedoch handelt es sich um keine Notfallsituation. Entsprechend unterscheidet das KVG zwischen Transport- oder Rettungsunternehmen. Wenn nur Notfälle abgedeckt werden sollen, sollte der Ausdruck «Transportunternehmen» gestrichen werden.
Betreffend Leistungen in der Schwangerschaft, welche von der Kostenbeteiligung grundsätzlich befreit sind, wurde am 21. März 2025 der neue Artikel 64 Absatz 7 KVG ⁶ verabschiedet, wonach «für Leistungen nach den Artikeln 25, 25 a , 27, 28 und 30, die ab Beginn der durch Ärzte und Ärztinnen oder Hebammen bestimmten Schwangerschaft, während der Niederkunft und bis acht Wochen nach der Niederkunft oder dem Ende der Schwangerschaft erbracht werden, der Versicherer keine Kostenbeteiligung erheben darf» (Art. 64 Abs. 7 Bst. b KVG). Daraus folgt, dass die Ausnahmeregelung im von der SGK-N vorgeschlagenen Gesetzeswortlaut in Artikel 64 Absatz 2bis Buchstabe b KVG grundsätzlich obsolet wird.
Haftpflichtrechtliche Fragen
Nach der Umsetzung der Vorlage könnte es wesentlich mehr haftpflichtrechtliche Fragestellungen geben. Patienten und Patientinnen, die Komplikationen erleiden, weil sie aufgrund der Einschätzung eines Arztes oder einer Ärztin, eines Arztes oder einer Ärztin eines Zentrums für Telemedizin, einer kantonalen Notfallnummer oder einem Apotheker oder einer Apothekerin die Spitalnotaufnahme nicht aufgesucht haben, könnten rechtliche Schritte unternehmen.
Dies könnte dazu führen, dass die überweisungsberechtigten Personen aus Furcht vor haftungsrechtlichen Konsequenzen eher Überweisungen ausstellen, und damit die gewünschte Lenkungswirkung nicht eintritt.
⁵ SR 832.10
⁶ BBl 2025 1108 ; noch nicht in Kraft, Ablauf der Referendumsfrist am 10. Juli 2025.
2.5 Systemfremde Kompetenzdelegation an die Kantone
Die Inanspruchnahme der Spitalnotaufnahme ist kantonal sehr unterschiedlich und hängt davon ab, wie die Kantone ihre Notfallversorgung organisieren. ⁷ Der Bundesrat kann das Anliegen einzelner Kantone, den Kantonen einen Handlungsspielraum in Bezug auf die Einführung des Zuschlags zu gewähren, nachvollziehen. Dennoch ist aus seiner Sicht eine kantonsweise Einführung des Zuschlags auf den Selbstbehalt aus grundsätzlichen Überlegungen abzulehnen. Denn eine kantonsweise Einführung eines Zuschlags auf den Selbstbehalt wäre systemfremd.
Trifft jeder Kanton eigene Regelungen (z. B. bezüglich Höhe des Zuschlags), so müssten unterschiedliche Verwaltungsprozesse entwickelt und umgesetzt werden, was einen erheblichen Vollzugsaufwand bei den Kantonen und den Krankenversicherern zur Folge hätte. Der Bundesrat befürchtet, dass dies zu ineffizienten Parallelstrukturen und höheren Kosten führen könnte, was dem eigentlichen Zweck - die Entlastung der Notaufnahmen - entgegensteht.
Insbesondere auch für die Krankenversicherer hätte die unterschiedliche Umsetzung in den Kantonen administrativen Mehraufwand zur Folge. So müssten diese im Einzelfall prüfen, ob die Person in einem Kanton wohnhaft ist, in dem ein Zuschlag geschuldet wird. Auch ist mit Rückfragen von Versicherten zu rechnen, welche die unterschiedlichen Regelungen in den Kantonen nicht kennen und daher die Versicherer wegen Verdacht auf fehlerhafte Abrechnung kontaktieren. Dieser zusätzliche Kommunikationsaufwand würde zusätzlichen Verwaltungsaufwand generieren.
Durch die kantonsweise Einführung wären Patienten und Patientinnen, Leistungserbringer und Versicherer schweizweit mit unterschiedlichen Regelungen konfrontiert. Dies würde das Krankenversicherungssystem insbesondere für die Versicherten verkomplizieren und intransparenter machen. Auch im Vollzug käme es zu Unsicherheiten und Schwierigkeiten, dies insbesondere bei ausserkantonaler Konsultation der Spitalnotaufnahme. Kantonale Bestimmungen über den Zuschlag würden sich auf alle im Kanton wohnhaften Versicherten auswirken - unabhängig davon, in welchem Kanton sie eine Spitalnotaufnahme aufsuchen. In der Konsequenz müssten die Krankenversicherer schweizweit unterscheiden zwischen Patienten und Patientinnen, die in einem Kanton mit Zuschlag versichert sind, und jenen, die in einem Kanton ohne Zuschlag versichert sind. Dies hätte einen erheblichen administrativen Mehraufwand zur Folge und könnte - fehlende kantonsübergreifende Koordination vorausgesetzt - für die Versicherten in manchen Fällen zu schwer nachvollziehbaren Konstellationen führen.
⁷ Vgl. Haldimann, L. & Merçay, C. (2024). Ambulante Konsultationen in Notfallstationen (Obsan Bulletin 10/2024). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
2.6 Minderheiten I-V
Der Bundesrat lehnt die Minderheiten I-V im Grundsatz aus den gleichen Gründen ab, aus denen er auch den Entwurf der Kommission ablehnt.
Eine weitere Ausdehnung der Ausnahmen, wie sie bei den Minderheiten II und V vorgesehen ist, würde die Lenkungswirkung weiter verschlechtern. Ausserdem erachtet der Bundesrat die Ausnahme «psychiatrischer Notfall» als zu vage definiert. In der Praxis dürfte es schwierig zu beurteilen sein, ob es sich um einen «psychiatrischen Notfall» handelt. Die vorgesehene Formulierung des psychiatrischen Notfalls kann zu Rechtsunsicherheit führen. Namentlich ist unklar, ob die Diagnose «psychiatrischer Notfall» vorgängig oder erst während der Konsultation der Spitalnotaufnahme erfolgen muss.
Weiter ist bei den Minderheiten II und V unklar, was mit Personen, die sich in einem Pflegeheim aufhalten oder Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen, gemeint ist. Fraglich ist, ob wirklich alle Personen, die sich in einem Pflegeheim aufhalten, von dieser Ausnahme erfasst sein sollen, oder nur jene, die ständig oder vorübergehend in einem Pflegeheim wohnen.
2.7 Fazit
Der Bundesrat ist der Ansicht, dass ein guter und niederschwelliger Zugang der Bevölkerung zu Angeboten der medizinischen Grundversorgung sowie eine verstärkte Information und Sensibilisierung der Bevölkerung die Anzahl von leichten Fällen in der Spitalnotaufnahme reduzieren kann. Wie die grosse Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden ist der Bundesrat der Meinung, der vorgeschlagene Weg trage nicht dazu bei, die Anzahl von leichten Fällen in der Spitalnotaufnahme zu reduzieren. Hingegen ist zu befürchten, dass das Gesundheitssystem unnötig verkompliziert wird. Die Umsetzung der Massnahme wäre administrativ aufwendig und mit Herausforderungen im Vollzug verbunden. Es bestehen insgesamt grosse Zweifel, dass mit der vorgeschlagenen Regelung die Ziele erreicht werden können.
3 Antrag des Bundesrates
Der Bundesrat beantragt, nicht auf die Vorlage einzutreten, und unterstützt daher den Antrag der Minderheit (Hess Lorenz, Crottaz, Durrer, Gysi Barbara, Meyer Mattea, Piller Carrard, Prelicz-Huber, Roduit, Rumy, Weichelt, Wyss).
Bundesrecht
Parlamentarische Initiative. Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotaufnahme. Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats vom 10. April 2025. Stellungnahme des Bundesrates
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