Botschaft zur Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» und zum indirekten Gegenvorschlag (Änderung des Kernenergiegesetzes)
Botschaft zur Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» und zum indirekten Gegenvorschlag (Änderung des Kernenergiegesetzes)
vom 13. August 2025
Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen. Gleichzeitig unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, als indirekten Gegenvorschlag eine Änderung des Kernenergiegesetzes.
Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 13. August 2025 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Übersicht
Die eidgenössische Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» fordert, dass die Stromversorgung jederzeit sichergestellt sein muss und dass der Bund dafür die Verantwortlichkeiten festlegt. Der Bundesrat anerkennt das Anliegen der Initiantinnen und Initianten, alle umwelt- und klimaschonenden Arten der Stromproduktion zuzulassen. Trotzdem lehnt er die Initiative ab, weil er einerseits die bestehende Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen nicht antasten möchte. Anderseits kann die Zulassung aller umwelt- und klimaschonenden Produktionsarten auch mit einer Gesetzesänderung erreicht werden. Deshalb unterbreitet der Bundesrat einen indirekten Gegenvorschlag.
Inhalt der Initiative
Am 16. Februar 2024 wurde bei der Bundeskanzlei die eidgenössische Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» eingereicht. Die Initiative verlangt mit einer Anpassung von Artikel 89 der Bundesverfassung, dass die Stromversorgung jederzeit sichergestellt sein muss und dass der Bund dafür die Verantwortlichkeiten festlegt (Absatz 6). Zudem soll die Stromproduktion umwelt- und klimaschonend erfolgen, wobei alle klimaschonenden Arten der Stromerzeugung zulässig sein sollen (Absatz 7).
Vorzüge und Mängel der Initiative
Die Gewährleistung der Stromversorgungssicherheit in der Schweiz ist ein wichtiges Anliegen. Mit der Vorgabe für eine klima- und umweltschonende Stromproduktion legt die Initiative den Fokus auf aktuelle Herausforderungen. Mit dieser Vorgabe möchte sie verhindern, dass in der Schweiz langfristig Strom mit fossilen Energieträgern (namentlich aus fossilen Gaskraftwerken) produziert wird, weil damit mehr klimaschädigende CO
2
-Emissionen anfallen und die Netto-Null Strategie des Bundesrats gefährdet wird. Stattdessen fordert die Initiative implizit die Aufhebung des Neubauverbots für Kernkraftwerke als klimaschonende Alternative zur fossilen Stromproduktion.
Insbesondere mit der Einführung des Netto-Null-Ziels für CO
2
-Emissionen bis 2050, der veränderten geopolitischen Situation infolge der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine sowie einem inskünftig höheren Strombedarf aufgrund des Bevölkerungswachstums und der Dekarbonisierung ist es berechtigt, den aktuellen Produktionsmix im Strombereich mit Blick auf die Versorgungssicherheit zu überprüfen und technologieoffen auszugestalten. Dies schliesst auch die Stromproduktion aus der Kernenergie mit ein. Angesichts der aktuellen langwierigen Bewilligungsverfahren bei Projekten für Solar-, Wasser- und Windkraftwerke ist der rechtzeitige Ausbau der Stromproduktion mit erneuerbaren Energien langfristig nicht gesichert. Während kurz und mittelfristig (das heisst in den nächsten 10 bis 20 Jahren) wenig Alternativen zu diesem Ausbau bestehen, ist in der langen Frist gerechtfertigt, eine technologieoffenen Stromproduktion mit Einbezug der Kernenergie zu ermöglichen. Dies setzt voraus, dass das Kernenergiegesetz entsprechend revidiert wird.
Dennoch erachtet der Bundesrat die Volksinitiative nicht als den richtigen Weg zur Gewährleistung der langfristigen Stromversorgungssicherheit. Insbesondere ist für die Aufhebung des Neubauverbots für Kernkraftwerke keine Verfassungsänderung nötig; eine Anpassung des Kernenergiegesetzes reicht hierfür aus.
Anträge des Bundesrats
Der Bundesrat beantragt den eidgenössischen Räten, Volk und Ständen zu empfehlen, die Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» abzulehnen. Er stellt der Initiative einen indirekten Gegenvorschlag zur Aufhebung des Neubauverbots für Kernkraftwerke gegenüber. Dazu sollen die entsprechenden Bestimmungen im Kernenergiegesetz aufgehoben werden.
Botschaft
1 Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative
1.1 Wortlaut der Initiative
Die Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» hat den folgenden Wortlaut:
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:
Art. 89 Abs. 6 und 7
⁶ Die Stromversorgung muss jederzeit sichergestellt sein. Der Bund legt dafür die Verantwortlichkeiten fest.
⁷ Die Stromproduktion hat umwelt- und klimaschonend zu erfolgen. Alle klimaschonenden Arten der Stromerzeugung sind zulässig.
1.2 Zustandekommen und Behandlungsfristen
Die eidgenössische Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» wurde am 16. August 2022 von der Bundeskanzlei vorgeprüft ¹ und am 16. Februar 2024 mit 126 707 Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Mit Verfügung vom 19. März 2024 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit insgesamt 125 830 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist. ²
Die Initiative hat die Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu einen indirekten Gegenvorschlag. Nach Artikel 97 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 ³ (ParlG) hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 16. August 2025 die Beschlussentwürfe und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 16. August 2026 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen. ⁴
¹ BBl 2022 2037
² BBl 2024 652
³ SR 171.10
⁴ Gemäss Artikel 105 ParlG kann das Parlament diese Frist jedoch um 12 Monate verlängern.
1.3 Gültigkeit
Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 BV:
a.
Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.
b.
Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.
c.
Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.
2 Ausgangslage für die Entstehung der Initiative
2.1 Situation in der Schweiz nach Ansicht des Initiativkomitees
Gemäss Ausführungen des Initiativkomitees ⁵ ist die Schweiz bald nicht mehr in der Lage, die Stromversorgung jederzeit sicherzustellen. Die umwelt- und klimafreundliche Kombination von Wasserkraft und Kernkraft werde, so das Komitee, ohne Not aufgegeben. Dabei könne der forcierte Ausbau der erneuerbaren Energien die drohende Stromlücke nicht kompensieren und schade oft Natur und Landschaft. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und des Ziels der Klimaneutralität mache es zudem keinen Sinn, dass in der Schweiz klimaschädigende fossile Gaskraftwerke gebaut würden. Vielmehr sollten Technologie-Verbote - namentlich das Neubauverbot für Kernkraftwerke (KKW) - zugunsten einer sicheren, umwelt- und klimaschonenden, bezahlbaren und eigenständigen Stromversorgung aufgehoben werden. Damit könne eine kostspielige und gefährliche Strommangellage verhindert werden. Das Initiativkomitee nimmt dabei Bezug auf die «Nationale Risikoanalyse von Katastrophen und Notlagen» ⁶ des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (BABS). Das BABS schätzt die Vermögensschäden und Bewältigungskosten bei diesem mithin als grösstes Gefährdungsrisiko für die Schweiz identifizierten Ereignis auf rund 10 Milliarden Franken. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit würde um ca. 90 Milliarden Franken reduziert.
Vor diesem Hintergrund fordert die Initiative einerseits, dass das Neubauverbot für KKW zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit aufzuheben sei: Der vorgeschlagene Artikel 89 Absatz 7 BV gibt vor, dass die Stromproduktion umwelt- und klimaschonend sowie technologieneutral zu erfolgen hat. Damit ist auch Strom aus Kernenergie gemeint, die zuverlässig Bandenergie liefert und mit der CO
2
-arm Strom produziert werden kann ⁷ . Für die Kernenergie gilt als einzige Produktionsart seit 2018 ein «Technologieverbot» in dem Sinne, dass keine neuen Kraftwerke bewilligt werden dürfen. In der Dokumentation zur Initiative sprechen sich die Initiantinnen und Initianten für die Aufhebung des Neubauverbots für Kernkraftwerke aus. ⁸
Andererseits soll der Bund die Verantwortlichkeiten für eine jederzeit sichergestellte Stromversorgung festlegen (Art. 89 Abs. 6 BV).
⁵ Argumentarium des Initiativkomitees, abrufbar unter:
www.blackout-stoppen.ch
>
Worum es geht > Versorgungssicherheit
.
⁶
www.babs.admin.ch > Weitere Aufgabenfelder > Gefährdungen und Risiken
> Nationale Risikoanalyse
⁷ Siehe z.B.:
blackout-stoppen.ch
>
News > Medienmitteilung 28. August 2024
.
⁸ Medienmitteilung vom 28. August 2024 «Gegenvorschlag zur Blackout-Initiative», abrufbar unter
www.blackout-stoppen.ch
>
News
2.2 Geltende Aufgabenteilung in der Energiepolitik
Gemäss der Bundesverfassung sind die Kompetenzen im Bereich der Energiepolitik zwischen Bund und Kantonen aufgeteilt. So verfügt der Bund über die Kompetenz, die Grundsätze über die Nutzung einheimischer und erneuerbarer Energien sowie über den sparsamen und rationellen Energieverbrauch zu erlassen (Art. 89 Abs. 2 BV). Er erlässt zudem Vorschriften über den Energieverbrauch von Anlagen, Fahrzeugen und Geräten und er fördert die Entwicklung von Energietechniken, insbesondere in den Bereichen des Energiesparens sowie der erneuerbaren Energien (Art. 89 Abs. 3 BV). Für den Bereich der Stromproduktion sind jedoch - mit Ausnahme der Kernenergie (Art. 90 BV) und der Grenzwasserkraftwerke - die Kantone zuständig. Ihnen und den Gemeinden gehören denn auch die meisten Stromversorgungsunternehmen. Die Kantone und die Gemeinden bewilligen die Wasserkraftwerke sowie Solar-, Wind- und Geothermie-Anlagen. Ausserdem erteilen die Kantone - oder je nach kantonalem Recht die Gemeinden - die Wasserrechtskonzessionen.
Die Sicherstellung der Energieversorgung ist gemäss Artikel 6 Absatz 2 des Energiegesetzes vom 30. September 2016 ⁹ (EnG) Aufgabe der Wirtschaft. Aufgabe von Bund und Kantonen ist es, die geeigneten Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Artikel 6 Absatz 2 EnG konkretisiert somit die verfassungsrechtlich vorgesehene Zuständigkeitsordnung.
Das Initiativkomitee argumentiert in einer Medienmitteilung anlässlich der Eröffnung der Vernehmlassung zum indirekten Gegenentwurf, es genüge nicht, das Bewilligungsverbot in Artikel 12 a des Kernenergiegesetzes vom 21. März 2003 1⁰ (KEG) zu streichen. 1¹ Vielmehr müsse der Bund regeln, wer für die sichere Stromversorgung zuständig sei. Denn, so das Komitee, die letzten Jahre hätten gezeigt, dass in der Schweiz niemand die Verantwortung für eine sichere Stromversorgung übernehme. ¹2
Der Bundesrat ist der Überzeugung, dass er in der Krisensituation im Winter 2022/2023 seine Verantwortung wahrgenommen und alle notwendigen Massnahmen getroffen hat, um eine Energiemangellage zu verhindern. Die von ihm nach dem Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine im Frühjahr und im Sommer 2022 beschlossenen Massnahmen haben einen wichtigen Beitrag zur Energieversorgungssicherheit im Winter 2022/2023 geleistet. Mit der Wasserkraftreserve konnte eine Energiereserve für die kritische Zeit am Ende des Winters gebildet werden. Dank der Bereitstellung der Reservekraftwerke in Birr, Cornaux und Monthey sowie der Notstromgruppen hätte bei Bedarf zusätzliche Energie ins System gebracht werden können. Die Erhöhung der Kapazitäten im Übertragungsnetz, der Rettungsschirm für systemkritische Stromunternehmen und die temporäre Reduktion der Restwassermenge haben die Winterversorgung zusätzlich gestärkt. Auch die Verbrauchsreduktionen haben einen Beitrag geleistet.
Bei einer Strommangellage sind die Zuständigkeiten, wie schon erwähnt, klar geregelt. In diesem Kontext hat der Bund die Rahmenbedingungen für eine sichere Stromversorgung so gestaltet, dass die Energiewirtschaft die Energieversorgung jederzeit gewährleisten kann. Für den Fall einer schweren Mangellage hat er gestützt auf Artikel 102 BV Massnahmen getroffen, die eine sichere Stromversorgung selbst dann gewährleisten würden, wenn die Energiewirtschaft nicht in der Lage wäre, die Stromversorgung aus eigener Kraft sicherzustellen.
Darüber hinaus hat der Bundesrat die Situation im Winter 2022/2023 zum Anlass genommen, um gesetzliche Grundlagen auszuarbeiten, die den Aufbau einer Stromreserve mit Reservekraftwerken ermöglichen (Vorlage «Stromreserve»). Er hat die entsprechende Botschaft zur Änderung des Stromversorgungsgesetzes ¹3 am 1. März 2024 an das Parlament überwiesen. Die Bundesversammlung hat diese Vorlage in der Sommersession 2025 verabschiedet.
⁹ SR 730.0
1⁰ SR 732.1
1¹ Vgl. Medienmitteilung vom 20. Dezember 2024 auf der Internetseite
www.blackout
-stoppen.ch
>
News
¹2 Siehe hierzu z.B.:
www.blackout-stoppen.ch
>
News
>
Medienmitteilung
28. August 2024
.
¹3 BBl 2024 710
2.3 Kernenergie in der Schweiz
Heute sind in der Schweiz noch vier KKW an drei Standorten am Netz (Beznau 1 und 2, Gösgen und Leibstadt). Ursprünglich gingen zwischen 1969 und 1984 fünf KKW an vier Standorten in Betrieb. Das KKW Mühleberg wurde 2019 endgültig ausser Betrieb genommen. Die verbleibenden KKW sind seit über 40 Jahren in Betrieb, womit sie im sogenannten Langzeitbetrieb stehen. Sie verfügen allesamt über eine unbefristete Betriebsbewilligung und können betrieben werden, solange sie sicher sind. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) überprüft als unabhängige Aufsichtsbehörde laufend, ob die Sicherheit gewährleistet ist.
Im Jahr 2011 beschloss der Bundesrat, aus der Kernenergie auszusteigen. Dies als Folge des Reaktorunglücks im japanischen Fukushima. Das Parlament folgte dem Entscheid: In der Wintersession 2011 überwies es verschiedene Motionen ¹4 für den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie und beauftragte den Bundesrat mit der Ausarbeitung einer umfassenden Energiestrategie. Diese sollte eine vom Ausland möglichst unabhängige Stromversorgung ohne Kernenergie sicherstellen. Der Bundesrat liess darauf die Energiestrategie 2050 erarbeiten, die den Richtungsentscheid enthielt, dass keine neuen KKW mehr gebaut werden dürfen. ¹5 Stattdessen sollte die Stromversorgung inskünftig durch verstärkte Energieeffizienz, den Ausbau der erneuerbaren Energien einschliesslich der Grosswasserkraft, zusätzliche Stromproduktion mit fossilen Energieträgern (Wärme-Kraft-Koppelung und Gaskombikraftwerke) und Importe sichergestellt werden. Im September 2012 eröffnete der Bundesrat das Vernehmlassungsverfahren zur Energiestrategie 2050. Ein Jahr später wurde die Botschaft zum ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050 ¹6 an das Parlament überwiesen und am 30. September 2016 vom Parlament verabschiedet. In der Folge wurde das Referendum gegen das Massnahmenpaket ergriffen; am 21. Mai 2017 nahm das Volk die Vorlage an. ¹7 Das EnG trat am 1. Januar 2018 in Kraft.
Die bestehenden KKW leisten nach wie vor einen wesentlichen Beitrag zur Stromproduktion in der Schweiz (2023: rund 23 Terawattstunden [TWh], was rund 32 % der Landeserzeugung ¹8 entspricht). Vor diesem Hintergrund ist der Langzeitbetrieb dieser Anlagen für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit von grosser Bedeutung. Das Bundesamt für Energie (BFE) steht in ständigem Austausch mit den Betreibern, um deren Planungsannahmen für den verbleibenden Betrieb der KKW zu kennen. Diese Erkenntnisse fliessen in die Aktualisierung der Energieperspektiven ein und helfen, die Stromversorgungssicherheit in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu beurteilen. Das BFE hat 2024 eine Aktennotiz zum Langzeitbetrieb der Kernkraftwerke ¹9 veröffentlicht. Demnach kann derzeit jeweils von einer geplanten Betriebsdauer von mindestens 60 Jahren ausgegangen werden. Die Axpo will das KKW Beznau bis 2033 betreiben und plant, dafür 350 Millionen Franken zu investieren. Der Block 2 des Kernkraftwerks soll bis 2032 und der Block 1 bis 2033 am Netz bleiben. Danach wird das KKW Beznau ausser Betrieb genommen und stillgelegt. 2⁰ Die Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt werden in den Jahren 2039 und 2044 die Schwelle von 60 Betriebsjahren erreichen. Die Betreiber prüfen derzeit einen Betrieb über 60 Jahre hinaus. Technisch wäre dies nach ihren Aussagen machbar, jedoch gibt es Unsicherheiten, insbesondere hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit.
¹4 Motion der Grünen Fraktion vom 18. März 2011 (11.3257 «Aus der Atomenergie aussteigen»), Motion der Fraktion BD vom 14. April 2011 (11.3426 «Keine neuen Rahmenbewilligungen für den Bau von Atomkraftwerken»), Motion Schmidt vom 14. April 2011 (11.3436 «Schrittweiser Ausstieg aus der Atomenergie»).
¹5 Vgl.
www.news.admin.ch > Medienmitteilung vom 25. Mai 2011
¹6 BBl 2013 7561
¹7 BBl 2017 4865
¹8 Vgl.
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Energiestatistiken > Elektrizitätsstatistik
¹9 Aktennotiz des BFE vom 9. Juli 2024 zum Langzeitbetrieb von Kernkraftwerken abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Kernenergie > Aufgaben des BFE
.
2⁰ Medienmitteilung der Axpo vom 5. Dezember 2024, abrufbar unter:
www.axpo.com/ch > newsroom
.
2.4 Entwicklungen in der schweizerischen Energiepolitik seit 2017
2.4.1 Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien
Bundesrat und Parlament haben verschiedene Massnahmen zur Beschleunigung des Ausbaus der Stromproduktion mit erneuerbaren Energien eingeleitet. Mit den am 1. Januar 2025 in Kraft getretenen Änderungen des Stromversorgungsgesetzes vom 23. März 2007 (StromVG) und des EnG soll der Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien bis 2050 verstärkt und beschleunigt werden. So wurden im EnG neue Ziele beim Zubau der erneuerbaren Energien bis 2035 respektive 2050 definiert und Massnahmen zur Stärkung der Energieeffizienz beschlossen. Auch werden die bisherigen Fördermassnahmen verlängert und marktnäher ausgestaltet. Schliesslich wurde auch das Raumplanungsgesetz vom 22. Juni 1979 2¹ angepasst, um bauliche Erleichterungen für Bauten und Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien einzuführen. 2²
Zur Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien werden zurzeit im Parlament Änderungen des EnG ²3 beraten, mit denen eine Verfahrensverkürzung für die Planung und den Bau grosser Kraftwerke für erneuerbare Energien erreicht werden soll, um den Ausbau der Produktion rasch voranzutreiben (sogenannter «Beschleunigungserlass»). Zudem hat das Parlament im Rahmen der Beratungen des indirekten Gegenvorschlags zur Volksinitiative «Für ein gesundes Klima (Gletscher-Initiative)» ²4 eine Änderung des EnG beschlossen («Dringliche Massnahmen zur kurzfristigen Bereitstellung einer sicheren Stromversorgung im Winter» ²5 ) beschlossen. Mit diesem sogenannten «Solarexpress» sollen die Bewilligung von Photovoltaik-Grossanlagen befristet erleichtert und deren Erstellung durch den Bund gefördert werden. Die Änderungen gelten befristet bis 31. Dezember 2025. Schliesslich sind die Änderungen des EnG sowie des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 ²6 zur Beschleunigung der Bewilligungsverfahren für Windenergieanlagen am 1. Februar 2024 in Kraft getreten (vgl. die Vorlage «Bundesgesetz über die Beschleunigung der Bewilligungsverfahren für Windenergieanlagen» ²7 ). Diese neuen Vorschriften sehen verfahrenstechnische Erleichterungen für Windkraftanlagen im nationalen Interesse vor, die über einen rechtskräftigen Nutzungsplan verfügen.
Aktueller Stand der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien
²8
Die Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen (ohne Wasserkraft) steigt seit dem Jahr 2000 stetig an. Gemäss dem Monitoring-Bericht 2024 ²9 des Bundesamts für Energie betrug die Produktion im Jahr 2023 rund 6800 Gigawattstunden (GWh), was 10,2 Prozent der gesamten Netto-Elektrizitätsproduktion entspricht. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 lag die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien bei 1400 GWh. Seit 2011 ist die erneuerbare Stromproduktion (ohne Wasserkraft) jährlich im Durchschnitt um 415 GWh gestiegen (Monitoring-Bericht 2024 des BFE), wobei der Zubau von Solarstrom im Jahr 2023 knapp 800 GWh betrug und seither weiter gestiegen ist. Um den im neuen Artikel 2 Absatz 1 EnG für 2035 vorgesehenen Zielwert von 35 TWh zu erreichen, müsste die jährliche Produktion im Durchschnitt um 2350 GWh zunehmen. Wenn der Solarstromzubau 2023 als Referenz herangezogen wird, muss dieser folglich verdreifacht werden, um den Zielwert 2035 zu erreichen. Zwischen 2035 und 2050 müssten noch 10 TWh zugebaut werden, was einem jährlichen durchschnittlichen Zubau von 0,66 TWh entspricht. Die Aufteilung nach Technologien zeigt, dass der Ausbau nicht bei allen erneuerbaren Stromproduktionsarten im gleichen Tempo erfolgt: Seit 2010 hat die Photovoltaik absolut gesehen am stärksten zugelegt. Sie trägt heute rund 68 Prozent zur Stromproduktion aus neuen erneuerbaren Energien bei. Deutlich geringer fiel das Wachstum bei den anderen Technologien aus: Die Stromproduktion aus Kehrichtverbrennungsanlagen und erneuerbaren Abfällen (Anteil 2023: 15,4 %), aus Feuerungen mit Holz und Holzanteilen (Anteil 2023: 7,9 %), aus Biogas (Anteil 2023: 6,1 %) und aus Windkraft (Anteil 2023: 2,5 %). Bei der Wasserkraft lag die mittlere Nettoproduktionserwartung im Jahr 2023 bei 36,7 TWh, 2011 betrug sie rund 35,5 TWh. Sie hat seit 2012 im Durchschnitt um 95 GWh pro Jahr zugenommen.
Mit dem neuen Artikel 2 Absatz 2 EnG ist für die Wasserkraft bis 2050 ein Zielwert von 39,2 TWh vorgesehen. Um den anvisierten Zielwert zu erreichen, müsste die erwartete mittlere Nettoproduktion jährlich im Durchschnitt um 99 GWh zunehmen. Mit den im Beschleunigungserlass vorgesehenen Gesetzesänderungen sollen die Verfahren für die Planung und den Bau grosser Kraftwerke verkürzt werden, um den Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien rasch voranzutreiben. Die Zielwerte bleiben dennoch herausfordernd. Auch zeigt sich, dass einzelne der 16 Wasserkraftprojekte, die in Artikel 9 a Absatz 3 i. V. m. Anhang 2 StromVG 3⁰ aufgelistet sind, aus technischen Gründen möglicherweise nicht wie vorgesehen umgesetzt werden können bzw. redimensioniert werden müssen. Hinzu kommt: Wenn bestehende Wasserkraftwerke ihre Konzessionen erneuern müssen - und solche Konzessionserneuerungen stehen in den kommenden Jahren in grösserer Zahl an -, müssen diese zum Schutz der Gewässer angemessene Restwassermengen im Gewässer belassen. Dies führt dazu, dass diese Kraftwerke künftig weniger Wasser nutzen können und dadurch deren Energieproduktion im Vergleich zu heute reduziert wird.
Kosten für den Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien sowie Netzausbaukosten
In der Schweiz wird die erneuerbare Stromproduktion im EnG seit 2008 über den Netzzuschlagsfonds (vgl. Art. 37 EnG) gefördert. Dessen Ausgaben zeigen gemäss der Staatsrechnung 3¹ , dass von 2008 bis 2025 rund 14 Milliarden Franken für die Förderung der erneuerbaren Stromproduktion ausgegeben wurden bzw. werden.
Die Netzausbaukosten werden primär verursacht durch den Erhalt und die Erneuerung der bestehenden Netze sowie den verbrauchsinduzierten Ausbau (Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, Wohnfläche, Wärmepumpen, Elektromobilität). Gemäss einer Studie des BFE entstehen gegenüber dem Basisszenario (Verteilnetzkosten von 45 Mia. CHF bis 2050) im Szenario mit verstärktem Ausbau der Solaranlagen zusätzliche Kosten von 30 Milliarden Franken. 3² . Allerdings ist auch die Weitentwicklung des Übertragungsnetzes aufwändig mit Kosten in derselben Grössenordnung. Grundsätzlich ist der Teil der Kosten für den Netzausbau, welcher alleine wegen dem Zubau der erneuerbaren Energien nötig wurde oder wird, schwierig zu beziffern.
Hürden beim Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien
Der neue Artikel 9 a StromVG sieht einen Zubau von Kraftwerken für die Stromproduktion im Winter aus Speicherwasserkraft, Windenergie und alpinen Solaranlagen vor. Die Förderung und die Finanzierung dieses Zubaus ist im EnG geregelt. Sie erfolgt befristet bis 2035 über den Netzzuschlagsfonds, der von den Stromkonsumenten jährlich mit rund 1,3 Milliarden Franken alimentiert wird. Die Energiestrategie sieht vor, dass der Strombedarf - je nach Szenario von 68 bis 81 TWh im Jahr 2050 - primär mittels Produktion aus Wasserkraft und Photovoltaik gedeckt wird. Die Photovoltaik auf Dächern und Fassaden wächst seit einigen Jahren rasch, während aus der technologischen Entwicklung weitere Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen hervorgehen werden. Allerdings wird der Zubau im Bereich der Wasser-, Wind- und Solarkraft durch Einsprachen, technische Schwierigkeiten, Fragen der Wirtschaftlichkeit und negative Volksentscheide erschwert, wie beispielsweise beim Trift-Projekt der Kraftwerke Oberhasli oder beim Windpark Montagne de Buttes. Daneben erschwert die von verschiedenen Kantonen in Zusammenhang mit den Konzessionserneuerungen verfolgte Heimfallstrategie die Situation für die Wasserkraft.
Es ist deshalb nicht gesichert, dass der Stromverbrauch im Winterhalbjahr bis 2050 nur durch Wasserkraft und die erneuerbaren Energien gedeckt werden kann. Zudem ist unklar, wie 2050 mit Stromüberschüssen im Sommer (und folglich Preisen, die gegen Null tendieren oder sogar negativ werden können) und grösseren Engpässen im Winter 3³ , beispielsweise bei langanhaltenden ungünstigen Wetterverhältnissen für die Produktion von erneuerbarer Energie im In- und Ausland, umgegangen werden soll. Wenn die Bandenergie aus den derzeit noch laufenden KKW dereinst wegfällt und je höher - ohne KKW-Ersatz - der Photovoltaik-Anteil an der Stromproduktion ist, desto anspruchsvoller wird das Spitzenlast-Management im Sommer und mittags. Im Winter lässt das neue Stromgesetz weiterhin Importe aus den Nachbarländern zu, was aber eine ausreichende, zuverlässige Produktion im Ausland mit tragbaren Preisen sowie die erforderlichen Netzkapazitäten voraussetzt. Inwiefern mit der saisonalen Speicherung von Strom (z.B. in Form von synthetischen Brennstoffen) die Winterstromversorgung unterstützt werden kann, lässt sich heute nicht zuverlässig voraussagen.
2¹ SR 700
2² BBl 2023 2301
²3 BBl 2023 1602
²4 BBl 2021 1973
²5 AS 2022 543
²6 SR 173.110
²7 AS 2023 804
²8 Vgl.
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Statistik und Geodaten > Energiestatistiken
²9 Energiestrategie 2050, Monitoring-Bericht 2024, abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Statistik > Monitoring Energie 2050
.
3⁰ SR 734.7
3¹ Die Staatsrechnungen 2024 und der letzten Jahre sind abrufbar unter:
www.efv.admin.ch
> Finanzberichte. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Ausgaben des Netzzuschlagsfonds gemäss Staatsrechnung für die Förderung von Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien anfallen. Die Ausgaben für wettbewerbliche Ausschreibungen, Rückerstattung des Netzzuschlags für stromintensive Unternehmen und Gewässersanierung wurden aus diesem Grund hier abgezogen.
3² Studie des BFE über die «Auswirkungen der Elektrifizierung und des starken Ausbaus der erneuerbaren Energien auf die Schweizer Stromverteilnetze», abrufbar unter:
news.admin.ch > Medienmitteilung des Bundesrates vom 30. November 2022.
3³ Modellierung der Erzeugungs- und Systemkapazität (System Adequacy) in der Schweiz im Bereich Strom, abrufbar unter:
www.news.admin.ch > Medienmitteilungen des Bundesrates > Medienmitteilung vom 21. Dezember 2022
.
2.4.2 Veränderte energie- und geopolitische Rahmenbedingungen
Seit dem Beschluss der Energiestrategie 2050 haben sich die energiepolitischen Rahmenbedingungen für fossile Energiequellen grundlegend verändert. Als Konsequenz zum Netto-Null-Emissionsziel ³4 , das der Bundesrat im August 2019 beschlossen hat, nachdem das Klimaübereinkommen von Paris vom 12. Dezember 2015 ³5 für die Schweiz am 5. November 2017 in Kraft getreten ist, müssen im Schweizer Energiesystem bis 2050 sämtliche fossilen Energieträger durch erneuerbare Alternativen ersetzt werden (Defossilisierung des Energiesystems). Am 18. Juni 2023 haben die Schweizer Stimmberechtigten ausserdem das Bundesgesetz vom 30. September 2022 ³6 über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit (KlG) als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für ein gesundes Klima (Gletscher-Initiative)» ³7 angenommen. Demgemäss soll die Schweiz bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden. Um dieses Ziel zu erreichen, stehen unter anderem im KlG verschiedene Massnahmen zur Verfügung: So wird der Ersatz von Öl-, Gas- und Elektroheizungen mit klimaschonenden Heizungen mit zwei Milliarden Franken unterstützt. Betriebe in Industrie und Gewerbe, die innovative Technologien zur klimaschonenden Produktion einsetzen, können zudem Fördermittel in der Höhe von 1,2 Milliarden Franken in Anspruch nehmen. ³8
Klimaneutralität und Abkehr von fossilen Energien
Die Defossilierung des Energiesystems kann nur gelingen, wenn die Sektoren Strom, Wärme und Mobilität gekoppelt werden und die fossilen Brenn- und Treibstoffe entweder direkt durch Stromanwendungen oder mit synthetischen Stoffen ersetzt werden, die hauptsächlich mit erneuerbarem Strom erzeugt werden. Aufgrund dieser Entwicklungen ist der Ausbau der Stromproduktion aus neuen Gaskraftwerken, die mit fossilem Brennstoff betrieben werden, nur dann eine Option, wenn das dabei entstehende CO
2
direkt vor Ort abgeschieden wird. ³9 Dies ist jedoch sehr kostenintensiv. Fossil-thermische Grosskraftwerke (z.B. Gaskraftwerke) sind per Gesetz im Emissionshandelssystem integriert und müssten deshalb zusätzliche Emissionszertifikate auf dem Markt beschaffen, was einen finanziellen Mehraufwand verursacht. Solche Gaskraftwerke könnten alternativ auch mit erneuerbaren Gasen betrieben werden. Erneuerbare Brennstoffe sind jedoch nicht in genügenden Mengen vorhanden, um damit Gaskraftwerke zu betreiben, und es ist nicht absehbar, dass in den kommenden Jahren eine genügende Menge beschafft werden kann. Fossile Brennstoffe kommen nur für den Betrieb von Reservekraftwerken infrage.
Steigender Strombedarf durch das Bevölkerungswachstum und die Elektrifizierung des Wärme- und Mobilitätssektors
Die Bevölkerung der Schweiz nimmt kontinuierlich zu. Zwischen 2000 und 2023 ist sie um knapp 24 Prozent gestiegen. Obwohl zwischen 2000 und 2023 der Pro-Kopf-Verbrauch von Strom in der Schweiz um 13,5 Prozent gesunken ist, stieg der absolute Mehrverbrauch (Endverbrauch) um 7,1 Prozent. 4⁰ Zwar vermochten die Steigerung der Energieeffizienz durch technischen Fortschritt und politische Massnahmen den Stromverbrauch trotz Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum zu stabilisieren. Mit der zunehmenden Elektrifizierung der Mobilität und der Wärme (Raumwärme), die für die Dekarbonisierung des Energiesystems zur Erreichung des Netto-Null-Ziels notwendig ist, wird der Stromverbrauch weiter ansteigen. Auch der steigende Strombedarf durch den Einsatz künstlicher Intelligenz ist dabei zu erwähnen. So zeigen die Energieperspektiven des BFE 4¹ in den nächsten Jahren eine Trendwende, und der landesweite Strombedarf steigt je nach Szenario in der Schweiz von heute rund 60 TWh kontinuierlich auf schätzungsweise 68 bis 81 TWh im Jahr 2050 an. Der Gesetzgeber hat deshalb für das Jahr 2050 einen Zielwert für den Pro-Kopf-Stromverbrauch eingeführt.
Geopolitische Lage
Seit dem schrittweisen Ausstieg der Schweiz aus der Kernenergie hat sich die geopolitische Situation grundlegend verändert. So offenbart die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine die energiepolitische Verwundbarkeit und Abhängigkeit Europas und löste 2022 auch in der Schweiz die Gefahr einer Energiemangellage aus. Dies widerspricht den Annahmen der Energiestrategie 2050, die davon ausging, dass in Europa immer genügend Energie vorhanden sein würde. Insbesondere mit dem Krieg gegen die Ukraine wuchs das Bewusstsein, dass eine gesicherte Energie- und Stromversorgung für die Schweiz keine Selbstverständlichkeit mehr ist und dass eine ausreichende inländische Stromproduktion für unser Land einen strategischen Mehrwert darstellt, indem in einer unsicheren Weltlage eine höhere Unabhängigkeit von Stromimporten und von der Verfügbarkeit von ausländischen Kraftwerksanlagen ermöglicht wird. 4² Auch ein Stromabkommen mit der EU 4³ - sofern es dereinst in Kraft treten kann - könnte zu einem solchen Mehrwert beitragen, indem es die Einbettung der Schweiz in den europäischen Strommarkt regeln und damit die Versorgungssicherheit stärken würde. In Bezug auf die Kernenergie hat auch in anderen europäischen Ländern jüngst ein Umdenken stattgefunden: Neben Frankreich, Finnland und Grossbritannien wollen weitere Staaten wie die Niederlande, Polen, Schweden und die Slowakei wieder in die Kernkraft investieren. 4⁴
³4 Medienmitteilung des Bundesrates vom 28. August 2019, abrufbar unter:
www.news.admin.ch > Medienmitteilungen des Bundesrates
.
³5 SR 0.814.012
³6 SR 814.310
³7 BBl 2023 782
³8 Vgl. Art. 6 KlG
³9 Im Unterschied dazu operieren die aktuell vorgesehenen Reservekraftwerke nicht am Markt und werden nur als Reserve eingesetzt (mit erneuerbaren Brennstoffen).
4⁰ Energiestrategie 2050, Monitoring-Bericht 2024, abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Statistik > Monitoring Energie 2050
.
4¹ Energieperspektiven 2050+, abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Politik
> Energie
perspektiven 2050+
.
4² Im Weiteren hat der Blackout vom 28. April 2025 auf der iberischen Halbinsel, dessen Ursachen noch analysiert werden, die Bedeutung einer sicheren Stromversorgung jüngst vor Augen geführt.
4³ Der Bundesrat hat am 13. Juni 2025 die Vernehmlassung zum Paket CH-EU eröffnet, darunter auch das Stromabkommen (vgl.
www.fedlex.admin.ch > Laufende Vernehmlassungen
).
4⁴ Siehe das Technologiemonitoring im Auftrag des BFE: Technology Monitoring of Nuclear Energy, abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch/bfe > Versorgung > Kernenergie > Aufgaben des BFE
.
2.4.3 Weitere Projekte im Bereich der Energiepolitik
Am 1. Oktober 2022 ist das als dringlich erklärte und bis Ende 2026 befristete Bundesgesetz vom 30. September 2022 ⁴5 über subsidiäre Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft (FiREG) in Kraft getreten. Die Bestimmungen dieses Gesetzes sollen sicherstellen, dass die Stromversorgung in der Schweiz auch dann funktioniert, wenn es durch weitere starke Preisaufschläge im internationalen Stromhandel zu einer Kettenreaktion in der Strombranche kommt, die einen Systemkollaps zur Folge haben. Das FiREG sollte ab 2027 durch unbefristete gesetzliche Massnahmen abgelöst werden. ⁴6 In der Frühlingssession 2025 hat das Parlament eine dieser Massnahmen, nämlich die Regeln über die Aufsicht und Transparenz in den Energiegrosshandelsmärkten ⁴7 , verabschiedet. Gleichzeitig hat das Parlament das Abkommen zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien über Solidaritätsmassnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung vom 19. März 2024 ⁴8 genehmigt. ⁴9 Mit dem Abkommen soll künftig die Gasversorgung im Winter auch in Krisenzeiten sichergestellt werden. 5⁰ Zur Bereitstellung zusätzlicher Energie bei Bedarf soll ausserdem auf gesetzlicher Ebene eine Stromreserve errichtet werden (siehe Ziffer 2.1).
Mit dem Umbau des Energiesystems stellen sich neue Anforderungen an die Netze. Am 23. November 2022 hat der Bundesrat den Szenariorahmen für die Stromnetzplanung 2030/2040 genehmigt. 5¹ Zudem hat der Bundesrat eine Vorlage zur weiteren Beschleunigung der Verfahren im Bereich der Stromnetze erarbeitet. 5² Neben den Stromnetzen werden in Zukunft auch andere Netze, beispielsweise Wasserstoff-, CO
2
- oder Wärmenetze, an Bedeutung gewinnen. Auch hier ist der Bund bereits daran, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu erarbeiten.
⁴5 SR 734.91
⁴6 Vorgesehen sind hierfür drei Massnahmenpakete: Das Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz in den Energiegrosshandelsmärkten (BATE; BBl 2023 2864 ) sowie eine Änderung des Stromversorgungsgesetzes in Bezug auf Anforderungen an systemrelevante Unternehmen und zum «Business Continuity Management» (derzeit in Prüfung). Weiter hat der Bundesrat bezüglich einer möglichen Verlängerung des FiREG vom 14. Mai bis 14. Juli 2025 eine Vernehmlassung durchgeführt ( BBl 2025 1538 ).
⁴7 Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz in den Energiegrosshandelsmärkten vom 21. März 2025, BBl 2025 1102
⁴8 BBl 2024 2322
⁴9 BBl 2025 1116
5⁰ BBl 2024 2318
5¹ Medienmitteilung des Bundesrates, abrufbar unter:
www.admin.ch > Medienmitteilung vom 23. November 2022
.
5² Vgl. Botschaft zur Änderung des Elektrizitätsgesetzes (Beschleunigung beim Aus- und Umbau der Stromnetze; BBl 2025 1832 )
2.4.4 Energieperspektiven des Bundes
Das BFE hat im Jahr 2020 die Grundlagen der Energiestrategie mit den Energieper-spektiven 2050+ überprüfen lassen. 5³ Die Ergebnisse sind ins Bundesgesetz vom 29. September 2023 5⁴ über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien eingeflossen. Energieperspektiven können die Zukunft nicht vorhersagen. Sie basieren auf Szenarien, die zukünftige Situationen beschreiben, wie beispielsweise eine Energieversorgung unter Berücksichtigung des Netto-Null-Ziels im Jahr 2050. Und sie zeigen plausible Wege auf, die zu diesem Ziel führen könnten. Was bei der Aktualisierung der Energieperspektiven 2050+ nicht berücksichtigt werden konnte, ist der Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine sowie die damit verbundenen Auswirkungen auf die unmittelbare und langfristige Energieversorgungssicherheit in Europa und in der Schweiz. Das Netto-Null-Ziel verlangt eine Defossilisierung des Schweizer Energiesystems bis 2050. Das heisst, Strom wird zum zentralen Energieträger, der im Wärme- und im Mobilitätsbereich die fossilen Energieträger ablösen muss. Hinzu kommt, dass die Schweiz auch im Jahr 2050 noch auf Energieimporte angewiesen sein wird, was in den Energieperspektiven 2050+ bestätigt wurde, wobei zu berücksichtigen ist, dass gemäss Artikel 2 Absatz 3 EnG die Stromimporte im Winterhalbjahr auf 5 TWh durch Richtwert beschränkt sind.
Im BFE laufen gegenwärtig die Vorarbeiten zur Erstellung neuer Energieperspektiven mit verschiedenen Szenarien bis 2060, die auch den Einsatz der Kerntechnologie bei der Stromerzeugung vorsehen. Damit soll das Szenario beschrieben werden, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht wie notwendig voranschreiten wird. Die neuen Perspektiven werden voraussichtlich im Jahr 2027 publiziert.
5³ Vgl
www.bfe.admin.ch > Politik > Energieperspektiven-2050+
5⁴ AS 2024 679
2.5 Fazit zur Ausgangslage
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Anliegen der Initiative in eine von energiepolitischen Umwälzungen geprägte Zeit fallen. In den letzten knapp 15 Jahren hat die Schweiz ihr lange bestehendes, bewährtes energiepolitisches Produktionsmodell aus Wasser- und Kernkraft angepasst. Nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima beschloss die Schweiz den Ausstieg aus der Kernenergie und fasste den Entschluss zu einer neuen Energiestrategie. Ein wesentlicher Bestandteil daraus ist der Ausbau der Energieproduktion aus erneuerbaren Energien, der mithilfe verschiedener Gesetzesanpassungen (beispielsweise dem Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien 5⁵ und dem «Beschleunigungserlass») vorangetrieben werden soll. Mit dem Beschluss zum Netto-Null-Ziel 2050 soll zudem inskünftig auf fossile Energiequellen verzichtet werden, soweit deren Emissionen nicht kompensiert werden können. Die Defossilisierung des Energiesystems, in dem Strom zum wichtigsten Energieträger wird (Elektrifizierung des Wärme- und des Mobilitätssektors), und das Bevölkerungswachstum führen in Zukunft zu einem höheren Strombedarf. Die konkrete Gefahr einer Energiemangellage im Winter 2022/23 sowie die unsichere Weltlage machten die energiepolitische Verwundbarkeit Europas und der Schweiz besonders deutlich.
Die Entwicklungen an den Energiemärkten mit teilweise grossen Preissteigerungen in den letzten Jahren dürften mittelfristig die Anreize für den notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energieerzeugung und einen sparsamen Energieverbrauch weiter verstärken. Der Handlungsbedarf zur Erreichung der Energie- und der Klimaziele bis 2050 bleibt dennoch hoch: Wichtig für die Erreichung des Netto-Null Ziels bleibt eine umfassende Nutzung der Effizienzpotenziale bei Gebäuden, Prozessen, Anlagen, Geräten und im Verkehr sowie eine starke Beschleunigung beim Ausbau der erneuerbaren Energien einschliesslich der Wasserkraft.
5⁵ AS 2024 679
3 Ziele und Inhalt der Initiative
3.1 Ziele der Initiative
Mit der Initiative soll Artikel 89 der BV erweitert werden: Die Stromversorgung soll jederzeit sichergestellt sein und der Bund soll dafür die Verantwortlichkeiten festlegen (Absatz 6). Ein weiterer Absatz gibt vor, dass die Stromproduktion umwelt- und klimaschonend zu erfolgen hat, wobei alle klimaschonenden Arten der Stromerzeugung zulässig sind (Absatz 7).
3.2 Inhalt der vorgeschlagenen Regelung
Der neue Absatz 6, der Artikel 89 BV angefügt werden soll, sieht vor, dass die Stromversorgung jederzeit sichergestellt sein muss. Im zweiten Satz wird der Bund beauftragt, dafür die Verantwortlichkeiten festzulegen. Dabei ist unklar, was die Regelungsabsicht ist (vgl. das nachfolgende Kapitel).
Nebst den in Kapitel 2 erwähnten Argumenten bringt das Initiativkomitee vor, dass weder der Ausbau von erneuerbaren Energien noch allfällige Gaskraftwerke zur Versorgungssicherheit führten. Die Schweiz sei auf inländische Stromquellen angewiesen, damit sie insbesondere auch im Winter über genügend Strom verfüge. Deshalb brauche sie statt Technologieverboten eine sichere, umwelt- und klimaschonende, bezahlbare und eigenständige Stromversorgung. Die Initiantinnen und Initianten stellen sich auf den Standpunkt, dass die Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen allein nicht ausreichend sei, um die Versorgungssicherheit jederzeit zu gewährleisten. Zudem sei auf klima- und umweltschädigende fossile Quellen für die Stromproduktion sei zu verzichten. Die Schweiz müsse ausserdem ihre Stromversorgung eigenhändig sicherstellen können und Technologieverbote aufheben. ⁵6 Mit Technologieverboten meint das Initiativkomitee in erster Linie das Neubauverbot für KKW, das 2017 durch das Volk beschlossen wurde. Das Initiativkomitee hat zum Ziel, dass das KKW-Neubauverbot aufgehoben wird, auch wenn dies der Initiativtext nicht explizit erwähnt. Die Kernenergie ist nach den Ausführungen des Initiativkomitees CO
2
-arm und produziert auch im Winter, in der Nacht und bei ungünstigem Wetter zuverlässig Strom.
Nach dem geltenden Recht (Artikel 12 a KEG) darf für die Erstellung von Kernkraftwerken keine Rahmenbewilligung erteilt werden. Mit dem neuen Absatz 7 von Artikel 89 BV sollen künftig alle klimaschonenden Arten der Stromerzeugung zulässig sein. Ein Neubauverbot für KKW widerspricht nach Ansicht des Bundesrats dieser Vorgabe. Deshalb geht der Bundesrat davon aus, dass das Neubauverbot im KEG aufgehoben werden muss, wenn die Volksinitiative in der Volksabstimmung angenommen wird. Weil das Verbot im KEG und nicht in der Bundesverfassung festgehalten ist, kann es mit einer Volksinitiative nicht direkt aufgehoben werden. Falls das Parlament (oder das Volk) dem Gegenvorschlag nicht zustimmen würde, die Volksinitiative hingegen von der Stimmbevölkerung angenommen würde, so müsste das Parlament die Initiative voraussichtlich gleichwohl mit einer Anpassung des KEG (Streichung Art. 12 a ) umsetzen.
⁵6 Vgl.
www.blackout-stoppen.ch > Argumente
3.3 Erläuterung und Auslegung des Initiativtextes
In Bezug auf die Forderung der Initiative in Artikel 89 Absatz 7 BV scheint die Auslegung klar: Es müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, um das Neubauverbot für Kernkraftwerke aufzuheben (vgl. Ziffer 3.2).
Unklar ist jedoch, welche Bedeutung dem neuen Absatz 6 zukommt. Insbesondere ist der Auftrag an den Bund, die «Verantwortlichkeiten» für eine sichere Stromversorgung festzulegen, nicht klar.
Vorliegend stellt sich die Frage, ob dem Bund mit Absatz 6 zweiter Satz die Kompetenz eingeräumt werden soll, die heute geltende Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen im Energiebereich (Artikel 89 Absätze 1-5, 90 und 91 Absatz 1 BV) zu ändern. Die diesbezüglichen Erläuterungen des Initiativkomitees sind vage gehalten und es sind keine ausdrücklichen Forderungen nach einer Änderung der bestehenden verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten von Bund und Kantonen ersichtlich. Es ist nicht auszuschliessen, dass nach dem Willen des Initiativkomitees mit Absatz 6 zweiter Satz eine Delegationsnorm geschaffen werden soll, die dem Gesetzgeber die Kompetenz einräumt, zur Sicherstellung der Stromversorgung auch die verfassungsmässigen Zuständigkeiten anzupassen. Denn nur wer in einer bestimmten Sache über Kompetenzen verfügt, kann die entsprechende Verantwortung übernehmen. Verfassungsrechtlich ist jedoch eine Delegation der Festlegung der Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen an den Bundesgesetzgeber unzulässig (vgl. Art. 3 BV). Sie kann nur vom Verfassungsgeber vorgenommen werden. Absatz 6 Satz 2 ist somit nicht umsetzbar, soweit damit eine Änderung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung im Energiebereich angestrebt wird.
4 Würdigung der Initiative
4.1 Würdigung der Anliegen der Initiative
Es ist eine zentrale Aufgabe des Staates, die geeigneten Rahmenbedingungen für die Sicherstellung einer funktionierenden Energieversorgung zu schaffen, sodass die Bedürfnisse von Wirtschaft und Bevölkerung abgedeckt werden können. Namentlich mit dem Krieg gegen die Ukraine ist das Bewusstsein gewachsen, dass eine gesicherte Energie- und Stromversorgung für die Schweiz keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Eine gesicherte Energie- und Stromversorgung ist jedoch sowohl im wirtschaftlichen als auch im privaten Bereich unerlässlich, womit eine ausreichende inländische Stromproduktion für unser Land einen zentralen strategischen Mehrwert darstellt (vgl. Ziff. 2.4.2 « Geopolitische Lage» ). Die Bundesverfassung regelt die energiepolitischen Zuständigkeiten in den Artikeln 89 bis 91. Nach Artikel 89 Absatz 1 BV sollen sich der Bund und die Kantone im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten für eine ausreichende, breit gefächerte, sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung einsetzen. Artikel 89 Absatz 1 BV schafft keine Kompetenzen für den Bund, vielmehr handelt es sich um eine Norm mit programmatischem Charakter.
Trotzdem ist es legitim, die Frage zu stellen, ob die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Produktionsmix von Strom noch zeitgemäss sind oder ob sie überprüft werden müssen. Um die Energie- bzw. Stromversorgung sicherzustellen, ist es angebracht, die bestehenden Produktionsmittel und -verfügbarkeiten der aktuellen (und sich im Verlaufe der Zeit wandelnden) Lage anzupassen (vgl. dazu die Ausführungen in Ziffer 2). Die Initiantinnen und Initianten lancieren aus Sicht des Bundesrates zu Recht eine Debatte betreffend die Frage, mit welchem Produktionsmix die Stromversorgung in der Schweiz langfristig sichergestellt werden soll und ob Technologieverbote noch gerechtfertigt sind. Die Bereitstellung von zusätzlichen Stromproduktionskapazitäten erfordert ein Denken in längeren Zeithorizonten, da komplexe Prozesse durchlaufen werden müssen. Dazu gehören unter anderem die Überprüfung und allenfalls notwendigen Anpassung der rechtlichen Bestimmungen, die Planungen der Betreiber, die behördlichen Bewilligungsverfahren und schliesslich die Phase der Umsetzung. Daher ist es berechtigt, die entsprechenden Fragen, namentlich mit welchen Energieträgern die Stromversorgung langfristig sichergestellt werden kann, frühzeitig aufzuwerfen.
4.2 Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme
Bei der Annahme der Initiative würden zwei neue Bestimmungen in der Bundesverfassung in Kraft treten. Zum einen würde der Bund verpflichtet, die «Verantwortlichkeiten» so festzulegen, dass die Stromversorgung jederzeit sichergestellt wird. Zum anderen würden alle klimaschonenden Arten der Stromerzeugung für zulässig erklärt.
Wie oben in Ziffer 3.3 festgehalten, hätte die Inkraftsetzung von Artikel 89 Absatz 6 BV keine Änderungen der verfassungsmässigen Zuständigkeiten zur Folge. Mit anderen Worten entstünden keine neuen (Regelungs-)Zuständigkeiten des Bundes. Der Bundesrat geht deshalb davon aus, dass die Annahme dieser Bestimmung keine Änderungen in der Aufgabenverteilung zur Folge haben würde.
Die Auswirkungen einer Annahme von Artikel 89 Absatz 7 BV erscheinen hingegen weniger klar. Nach dem Sinn und Zweck der Initiative müsste - wie oben dargelegt - auch der Bau und Betrieb von neuen Kernkraftwerken wieder zulässig sein. Das Verbot von Artikel 12 a KEG wäre jedoch nach wie vor in Kraft. Damit entstünde ein Widerspruch zwischen der Bundesverfassung und dem Kernenergiegesetz. Es ist fraglich, ob mit der neuen Verfassungsbestimmung die Erstellung von neuen Kernkraftwerken tatsächlich wieder erlaubt wäre bzw. ob Artikel 89 Absatz 7 BV unmittelbar anwendbar wäre (und damit dem älteren, widersprechenden Gesetzesrecht vorgehen würde). Es ist davon auszugehen, dass diese Frage die Gerichte beschäftigen würde, falls sich der Projektant eines neuen KKW auf die Verfassungsbestimmung stützte. Im Sinne der Rechtssicherheit müsste vorgängig das Verbot neuer Rahmenbewilligungen im KEG aufgehoben werden. Im Ergebnis wäre die Umsetzung auf Gesetzesebene so zu gestalten, wie es der indirekte Gegenvorschlag vorsieht. Für die Auswirkungen der Umsetzung kann auf Ziffer 6.4 verwiesen werden.
4.3 Vorzüge und Mängel der Initiative
Der Ausbau der erneuerbaren Energien bleibt über die kurze und mittlere Frist der zentrale Lösungsansatz in Bezug auf die Gewährleistung der Stromversorgungssicherheit. Auch mit der Aufhebung des Neubauverbots für KKW würde es vermutlich mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis ein neues Kraftwerk in Betrieb genommen werden könnte. Dennoch ist das Anliegen der Initiantinnen und Initianten berechtigt, mit einer technologieoffenen und klimafreundlichen inländischen Stromproduktion eine langfristig drohende Stromlücke im Winterhalbjahr zu vermeiden. Wohl hat das Schweizer Volk am 9. Juni 2024 das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien angenommen, mit dem der Ausbau der erneuerbaren Stromproduktion bis 2050 verstärkt und beschleunigt werden soll. Beim Ausbau stellen wirtschaftliche, politische und technische Aspekte jedoch ein Hemmnis dar. Insbesondere der geplante Zubau bei der Grosswasserkraft ist offen, da bei bedeutenden Vorhaben mit Einsprachen und somit mit Verzögerungen zu rechnen ist. Gleiches gilt für die Windenergie. ⁵7 Auch die Bewilligungsverfahren zum Bau grosser alpiner Solaranlagen gestalten sich als herausfordernd, denn die Mehrheitsfähigkeit auf kommunaler Ebene ist nicht überall gegeben.
Wenn die Aufhebung des Neubauverbots für Kernkraftwerke mithin ein wesentliches Ziel der Initiantinnen und Initianten darstellt, stellt sich die Frage, ob die Initiative zur Zielerreichung der richtige Weg ist. Weil das Verbot im KEG verankert ist, kann es nicht unmittelbar auf dem Weg einer Volksinitiative aufgehoben werden. Daher stellt sich der Bundesrat auf den Standpunkt, dass das Anliegen des Initiativkomitees zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit mittels einer umwelt- und klimaschonenden sowie technologieoffenen Stromproduktion über eine Revision des Kernenergiegesetzes - und nicht über eine Revision der Bundesverfassung - erfüllt werden sollte.
Mit der Aufnahme von Artikel 89 Absatz 6 BV muss die Stromversorgung jederzeit sichergestellt werden, was keine materielle Ergänzung der Bundesverfassung darstellt. Bereits Artikel 89 Absatz 1 enthält als Zielvorgabe die Sicherstellung der Energieversorgung. Weiter verlangt die Initiative, dass der Bund die «Verantwortlichkeiten» für die Sicherstellung der Stromversorgung definieren soll. Sie bleibt bei ihren Ausführungen jedoch vage, so dass nicht klar ist, was damit konkret gemeint ist. In jedem Fall wäre eine Umsetzung dieser Bestimmung aufgrund der Komplexität der Energieversorgung herausfordernd. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass insgesamt neue Unklarheiten in der föderalistischen Zuständigkeitsordnung geschaffen und zudem Zuständigkeitskonflikte mit den Kantonen drohen würden.
⁵7 Beispiele: Trift-Projekt der Kraftwerke Oberhasli oder Windpark Montagne de Buttes.
4.4 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz
Die internationalen Verpflichtungen der Schweiz stehen der Initiative nicht entgegen.
5 Schlussfolgerungen
5.1 Ablehnung der Volksinitiative
Die Forderung der Initiative in Artikel 89 Absatz 6 BV kann mit dem vorliegenden Initiativtext nicht umgesetzt werden. Die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen und die Zuweisung von Kompetenzen an den Bund muss auf Stufe der Verfassung selbst festgelegt werden (Enumerationsprinzip, vgl. Ziff. 3.3). Davon abgesehen ist der Bundesrat der Meinung, dass eine Neuordnung der Kompetenzen im Bereich der Energiepolitik nicht zielführend ist. Die geforderte Entflechtung wäre möglicherweise als Auftrag an den Gesetzgeber zu verstehen, einen Entwurf für eine entsprechende Anpassung der Bundesverfassung zu erstellen. Die Umsetzung eines solchen Auftrags wäre aufgrund der Komplexität der Energieversorgung herausfordernd. Die Kantone blieben auch bei einer einstweiligen Neuaufteilung der Kompetenzen wichtige Akteure in der Schweizer Energieversorgung, da sie mit ihren Wasservorkommen, über deren Nutzung sie selber entscheiden (Art. 76 Abs. 4 BV), eine zentrale Stütze der Schweizer Energieversorgung sind. Womöglich hätte die Änderung der Zuständigkeiten auch eine Anpassung von Besitzstrukturen zur Folge. Heute liegt rund 90 Prozent des Kapitals der Energiewirtschaft in den Händen der Kantone.
Das möglicherweise konkurrierende Verhältnis zwischen der geforderten Entflechtung in der Energiepolitik und der Hoheit der Kantone über die Wasservorkommen würde zu langwierigen komplexen Diskussionen führen. Der Mehrwert einer solchen Zuständigkeitsdebatte für die Versorgungssicherheit scheint jedoch bescheiden. Dementsprechend ist der Bundesrat der Ansicht, dass der Fokus in den kommenden Jahren auf die Sicherung einer ausreichenden inländischen Stromversorgung - namentlich im Winterhalbjahr - zu legen ist.
In Bezug auf die Forderung der Initiative in Artikel 89 Absatz 7 BV stellt der Bundesrat fest, dass sich die Rahmenbedingungen für die Energieversorgung seit dem Volksentscheid zum schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie im Jahr 2017 grundlegend geändert haben (vgl. dazu die Ausführungen unter Ziff. 2.4.2). Diese veränderte Ausgangslage, insbesondere in Bezug auf die langfristige Stromversorgungssicherheit, macht es notwendig, den Ausstieg aus der Kernenergie in Frage zu stellen. Der geltende Artikel 89 Absatz 1 BV gibt mit Blick auf die Versorgungssicherheit eine breite Fächerung der Energieproduktion vor. Insofern erachtet der Bundesrat das in Absatz 7 formulierte Anliegen der Initiantinnen und Initianten als gerechtfertigt. Die Initiative bietet aus Sicht des Bundesrates jedoch nicht den richtigen Weg, um das Neubauverbot für KKW aufzuheben. Diese würde in erster Linie zu Rechtsunsicherheiten führen (vgl. Ziff. 4.2). Das Parlament kann die entsprechende Regelung im KEG auch ohne neue Verfassungsbestimmung aufheben.
Der Bundesrat schlägt aus diesen Gründen die Ablehnung der Initiative vor.
5.2 Indirekter Gegenvorschlag
5.2.1 Gründe für eine Aufhebung des Neubauverbots für KKW
Der Bundesrat schlägt einen indirekten Gegenvorschlag zur Aufhebung des Neubauverbots für Kernkraftwerke vor.
Die Technologieoffenheit im Bereich der Stromproduktion würde es ermöglichen, langfristig zusätzliche Optionen zur Sicherstellung der Energieversorgung zu erhalten. Der Bundesrat kommt damit auf seinen Entscheid zum Atomausstieg von 2011 zurück, da sich seither die Rahmenbedingungen stark verändert haben. Die geopolitische Lage hat sich insbesondere mit der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine verschärft. Die drohende Mangellage in der Energieversorgung im Winter 2022/23 machte die energiepolitische Verwundbarkeit Europas und der Schweiz deutlich. Gleichzeitig benötigt die Schweiz in Zukunft infolge des hohen Bevölkerungswachstums und der beschleunigten Defossilisierung des Energiesystems mehr Strom. Mit der Verpflichtung zum Netto-Null-Ziel bis 2050 und darüber hinaus ist es nicht mehr möglich, den Zusatzbedarf an Strom mit fossilen Gaskraftwerken abzudecken, da deren Emissionen aufwändig kompensiert oder knapp verfügbare erneuerbare Gase verwendet werden müssten.
Für den Bundesrat weiterhin erste Priorität hat der Ausbau der erneuerbaren Energien, da dieser vergleichsweise rasch bewerkstelligt werden kann. Trotz den eingeleiteten Massnahmen zur Verfahrensbeschleunigung (siehe Ziffer 2.3.1) können Verzögerungen bei der Umsetzung von Projekten für Wasser-, Wind- und Solarkraftwerke (Einsprachen, technische und wirtschaftliche Herausforderungen, ablehnende Volksentscheide) nicht vermieden werden. Es bestehen folglich berechtigte Zweifel, ob der steigende Strombedarf mit erneuerbaren Energien allein gedeckt werden kann.
Zusätzlich stellt die Ausserbetriebnahme der heute bestehenden KKW und der Ersatz dieser Stromproduktion eine zentrale Herausforderung für die langfristige Sicherung der Stromversorgung dar.
Vor diesem Hintergrund erscheint es dem Bundesrat angebracht, die künftige Energieproduktion in der Schweiz technologieoffen zu gestalten und bei Bedarf langfristig eine Stromproduktion durch die CO
2
-arme Kernenergie zu ermöglichen.
Neben der Unsicherheit darüber, wie sich die Energieproduktion künftig entwickeln wird, ist auch offen, welche Fortschritte die Kernenergieforschung in den kommenden Jahren erzielt. Auf diese Unsicherheiten sollte der Staat aus Sicht des Bundesrates mit einer offenen Haltung reagieren, um mögliche Entwicklungen nicht von vornherein auszuschliessen. Dazu gehört eine Technologieoffenheit, die auch die Kernenergie einschliesst. Der Bundesrat ist der Meinung, dass die Rahmenbedingungen der Energieversorgung so ausgestaltet werden sollten, dass neue technologische Entwicklungen bei der Energieproduktion zur Anwendung kommen können.
Der Bundesrat ist der Meinung, dass sich erneuerbare Energien und die Kernenergie nicht gegenseitig ausschliessen. Vielmehr könnten neue Kernkraftwerke langfristig die Stromversorgungssicherheit stärken, dies als Ergänzung zum fortschreitenden Ausbau der erneuerbaren Energien. Der Zubau mit erneuerbaren Energien bleibt sehr wichtig und soll konsequent weiterverfolgt werden. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben aber gezeigt, dass viele Projekte sehr lange dauern und durch zahlreiche Beschwerden bekämpft werden. Längerfristig könnte die Stromversorgungssicherheit ergänzend mit neuen KKW gestärkt werden. Der Bundesrat geht nicht davon aus, dass der Gegenvorschlag das Investitionsklima und die Planungssicherheit für den Ausbau erneuerbarer Energien beeinträchtigt.
5.2.2 Weitere relevante Aspekte rund um die Kernenergie
Der Bundesrat hat bei seinem Entscheid zur Ausgestaltung des indirekten Gegenvorschlags auch weitere relevante Aspekte rund um die Kernenergie berücksichtigt. Dies betrifft insbesondere die Kosten der Kernenergie, den Umgang mit radioaktiven Abfällen, Fragen bezüglich der Kernbrennstoffe, die internationale Einbettung der Kernenergie sowie den technologischen Stand.
Kosten der Kernenergie
Schätzungen auf der Grundlage des aktuellen Monitoringberichts zur Kerntechnologie ⁵8 des Paul Scherrer Instituts (PSI) beziffern die Stromgestehungskosten neuer Kernkraftwerke auf 7-12 Rp/kWh. Solange die Bauzeit unter 8 Jahren bleibt, sind Gestehungskosten von 7 Rappen erreichbar. ⁵9 Gemäss den Autorinnen und Autoren des Berichts liegt dies im Bereich der aktuellen und künftigen Gestehungskosten für erneuerbare Energiequellen und bestehende Wasserkraftwerke in der Schweiz. Je nach Reaktortyp sind für einen Block mit einer Leistung von 1 GW mit reinen Baukosten zwischen 4 und 7 Milliarden Franken zu rechnen. Darin sind jedoch die Kosten für die Abfallentsorgung wie die Endlagerung der Abfälle noch nicht enthalten. Aktuell liegen die Gestehungskosten bei den vier Schweizer Kernkraftwerken bei 4-5,5 Rp./kWh. Ein Langzeitbetrieb von 60 Jahren würde die Stromgestehungskosten dieser Anlagen um bis zu einem Rappen erhöhen. 6⁰ Jüngste Beispiele aus dem Ausland zeigen, dass die Kosten auch viel höher liegen können: So kostete der Bau der Reaktoren (Europäischen Druckwasserreaktoren [EPR], 3. Generation; Leistung 1600 Megawatt [MW]) in Olkiluoto (Finnland) und Flamanville (Frankreich) rund 11 und 13,2 Milliarden Euro. Sie wurden zudem mit erheblichen Verzögerungen in Betrieb genommen. Generell lässt sich festhalten, dass in Bezug auf mögliche Investitionskosten neuer Kernkraftwerke in der Schweiz Unsicherheiten bestehen. Allerdings ist auch der Ausbau der erneuerbaren Stromproduktion mit hohen Kosten auch für den Staat verbunden (vgl. Ausführungen in Ziff. 2.4.1).
In der erwähnten Studie des PSI wird darauf hingewiesen, dass das Konzept der Stromgestehungskosten in einem zunehmend komplexen Energiesystem mit einem immer stärkeren Anteil fluktuierender erneuerbarer Energien von begrenztem Wert ist. 6¹ Deshalb sollten nicht nur die Stromgestehungskosten der Produktionstechnolo-gien betrachtet werden, sondern es müssen auch die gesamten Systemkosten (Ausgleichskosten, Kosten für den Netzausbau, Backup-Kosten) berücksichtigt werden. Hier sehen die Autorinnen und Autoren die Kernenergie im Vorteil, weil diese wertvolle Bandenergie liefert. Auch halten sie fest, dass die Herausforderung der hohen Kapitalkosten grosser Kernkraftwerke mit der Technologie der kleinen modularen Reaktoren ( small modular reactors , SMR) entschärft und durch Mikroreaktoren weitgehend eliminiert wird. Weitere Faktoren, die sich positiv auf die Baukosten neuer Kernkraftwerke auswirken, sind gemäss der Autorenschaft die Fertigstellung relevanter Teile vor dem Baubeginn, das Vorhandensein einer gut etablierten Lieferkette sowie der Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften und ein stabiler regulatorischer Rahmen. Vergleicht man die Jahresenergie (12 TWh/Jahr) eines EPR mit jener von alpinen Solaranlagen, bräuchte es gemäss der Studie des PSI beispielsweise rund 780 Alpinsolarprojekte wie jenes von Gondo, um die Jahresenergie eines EPR zu realisieren. 6² Die Kosten für die alpinen Solaranlagen würden rund 29 Milliarden Franken betragen. 6³ Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Stromproduktion in einem KKW planbar und zuverlässig ist, während die Stromproduktion mit Solarenergie nicht rund um die Uhr möglich ist und vom Wetter abhängt. Laut der obgenannten PSI-Studie schneidet die Kernenergie zudem beim Landverbrauch in den Ökobilanzen besser ab als die Solarenergie. 6⁴ Zum Vergleich: Der Landverbrauch eines EPR liegt unterhalb von 2 km². Alpin-Solaranlagen mit einer vergleichbaren Leistung würden einen ungefähren Flächenbedarf von 130 km² ausweisen. 6⁵ Der Landverbrauch des Referenz-Kernkraftwerks ist demnach rund 65 Mal tiefer als bei Alpinsolar-Anlagen.
Die durchschnittliche Bauzeit (ohne vorgelagerte Verfahren zur Bewilligung von Kernkraftwerken) der 38 weltweit in Betrieb befindlichen Reaktoren der neuen Ge-neration III/III+ beträgt 7,7 Jahre, der Median liegt bei 8 Jahren. Im Vergleich dazu beträgt die durchschnittliche Bauzeit für die 413 Reaktoren der Generation II und III insgesamt 7,5 Jahre, der Medianwert beträgt 6,3 Jahre. Gemäss dem PSI-Bericht ist es technisch machbar, ein schlüsselfertiges System in weniger als 6 Jahren Bauzeit bereitzustellen, wenn eine funktionierende Lieferkette für die Schlüsselkomponenten vorhanden ist. In einer Studie 6⁶ aus dem Jahr 2008 wurde die Bauzeit für ein neues Kernkraftwerk in der Schweiz auf 5 Jahre geschätzt (ohne vorgelagerte Verfahren). Jedoch ist es bei einem möglichen Neubauprojekt für ein Kernkraftwerk in der Schweiz auch möglich, dass die Realisierungszeit bis zu zwei Jahrzehnte dauert. Die Aufhebung des Neubauverbots für KKW hat den Vorteil, dass eine technologieneutrale «Rückversicherung» für die Stromproduktion im Sinne einer Option zum Bau neuer KKW vorhanden sein wird, sollte die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien zur Deckung der Stromversorgung nicht ausreichen.
Umgang mit radioaktiven Abfällen
In der Schweiz müssen die Betreiber der KKW die Kosten für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle vollumfänglich selber tragen (Art. 31 KEG). Die Finanzierung der Kosten zur Stilllegung und zur Entsorgung von radioaktiven Abfällen werden durch Beiträge der Betreiber in den Stilllegungsfonds und den Entsorgungsfonds (STENFO) sichergestellt (Art. 77 Abs. 3 KEG). Diese Fonds haben zum Ziel, die Kosten für die Stilllegung von KKW und die Entsorgung der radioaktiven Abfälle lückenlos zu decken (Art. 77 Abs. 1 und 2 KEG). Per Ende 2023 beliefen sich die Fondsbestände im Stilllegungsfonds auf 2749 Millionen Franken und im Entsorgungsfonds auf 5972 Millionen Franken. ⁶7 Die Fonds sind selbständig, das heisst von den Betreibern unabhängig, und sie stehen unter der Aufsicht des Bundesrats (Art. 81 Abs. 1 KEG). Alle fünf Jahre werden die voraussichtlichen Stilllegungs- und Entsorgungskosten neu berechnet und bei Bedarf angepasst (Art. 4 der Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung vom 7. Dezember 2007 ⁶8 ). Seit September 2022 ist bekannt, dass die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) das geologische Tiefenlager im Gebiet Nördlich Lägern plant (Gemeinde Stadel, Kanton Zürich). Das entsprechende Rahmenbewilligungsgesuch reichte sie im November 2024 ein. Mit der Rahmenbewilligung wird der Bundesrat u. a. den Standort und die maximale Lagerkapazität festlegen. Die Nagra rechnet in ihrem Gesuch grundsätzlich mit einem Szenario, bei dem die bestehenden Kernkraftwerke 60 Jahre in Betrieb sind. Weil die KKW aber so lange betrieben werden dürfen, wie sie sicher sind, kommen im Gesuch noch Kapazitätsreserven hinzu. Hingegen sind keine neuen Kernkraftwerke in diesen Reserven eingerechnet. ⁶9 Für die Tiefenlagerung von Abfällen allfälliger neuer KKW müsste ein neues Rahmenbewilligungsverfahren durchgeführt werden. Dazu könnte das bestehende Tiefenlagerprojekt erweitert und damit auch die Rahmenbewilligung betreffend die maximale Lagerkapazität angepasst werden. Im Untergrund des vorgesehenen Standortgebiets Nördlich Lägern wäre grundsätzlich genügend Platz vorhanden, um ein grösseres Abfallvolumen aufzunehmen.
Internationale Einbettung der Kernenergie
Weltweit nutzen 32 Länder die Kernenergie, 13 weitere Länder befinden sich in einem fortgeschrittenen Planungs- oder Baustadium zur Aufnahme von Kernenergie in ihren Strommix und 17 weitere Länder befinden sich in der Entscheidungsphase. Vier Länder sehen einen Ausstieg aus der Kernenergie vor, Deutschland hat die Stromerzeugung aus Kernenergie im Jahr 2023 eingestellt. Spanien plant einen Ausstieg bis 2035, während Belgien trotz seinem Ausstiegsentscheid die Lebensdauer von zwei seiner sieben Kernreaktoren verlängert hat. Insgesamt sind im März 2024 weltweit 415 Kernkraftwerke mit einer installierten Leistung von insgesamt rund 373 Gigawatt elektrisch (GWe) in Betrieb. Darüber hinaus befinden sich 57 Kernkraftwerke im Bau, die eine zusätzliche Kapazität von rund 59 GWe bereitstellen. In Europa sind 167 Kernkraftwerke mit einer Leistung von 148 GWe in Betrieb und 9 KKW mit einer Leistung von 10,1 GWe im Bau. Die Länder mit den meisten in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken sind China, Frankreich, Russland und die USA. Im Jahr 2023 haben 16 europäische Länder die Europäische Nuklear-Allianz bestehend aus Frankreich, Belgien, Bulgarien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn, den Niederlanden, Polen, Rumänien, Slowenien, der Slowakei, Estland, Schweden, Italien und dem Vereinigten Königreich gegründet. Ziel der Allianz ist es, den Aufbau einer integrierten europäischen Kernenergieindustrie zu planen. Die Länder haben sich dazu verpflichten, bis 2050 einen Anteil von 150 GWe Kernenergie am EU-Strommix zu erreichen, was einer Steigerung von 50 Prozent im Vergleich zum heutigen Anteil der Kernenergie am Strommix bedeuten würde. Schon heute stellt die Stromerzeugung mithilfe der Kernenergie in der Europäischen Union mit rund 21,9 Prozent den grössten Anteil am Strommix. Zudem hat die Erklärung zur Kernenergie der 28. UNO-Klimakonferenz, die im Dezember 2023 von 22 Ländern, darunter die USA, Kanada, Frankreich, Japan, Südkorea, die Niederlande, Schweden und das Vereinigte Königreich, abgegeben wurde, das Ziel, die Kernenergieproduktion bis 2050 zu verdreifachen. 7⁰ Die schwedische Regierung möchte bis im Jahr 2045 bis zu zehn neue Reaktoren errichten. Dazu hat das schwedische Parlament unter anderem Gesetzesänderungen gebilligt, die den Bau neuer Reaktoren an anderen als den bestehenden Standorten erlauben. Zudem wurde auch die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor in allen Bereichen der Kernenergie gestärkt. Internationale Erfahrungen beim Neubau von Kernkraftwerken zeigen zudem, dass eine funktionierende Lieferkette, ausgebildete Arbeitskräfte und schlanke Bewilligungsverfahren unverzichtbar sind, um die Bauzeit und die Kosten zu beschränken. Ansonsten drohen grosse Verzögerungen und die Kosten können stark ansteigen, wie dies im Vereinigten Königreich (Hinkley Point, voraussichtlich 2029 fertiggestellt, Kosten bei rund 50 Mrd. Euro) oder in Frankreich (Flamanville, 12 Jahre Verspätung) der Fall war.
Verfügbarkeit von Uranbrennstoff
Damit Uran als Kernbrennstoff in Kraftwerken eingesetzt werden kann, muss es in einem mehrstufigen Prozess zu Brennstäben und Brennelementen verarbeitet wer-den. Natürliche Uranreserven sind eine weit verbreitete Ressource und auf allen Kontinenten vorhanden. Die uranfördernden Länder mit den grössten Vorkommen sind Australien, Kanada, Kasachstan, Namibia, Niger, Südafrika und Russland. 7¹ Weitere Länder mit signifikanten Uran-Vorkommen sind Brasilien, China, die Ukraine, die Mongolei, die USA und Usbekistan. Brennstoff mit schwacher Anreicherung, der in Leichtwasserreaktoren wie den hiesigen Kernkraftwerken verwendet wird, wird weltweit in mehreren Anreicherungsanlagen hergestellt. Gemäss den Expertinnen und Experten des PSI werden keine langfristigen Risiken für die Versorgungssicherheit der Schweiz mit Kernbrennstoff erwartet. 7² Die Schweizer Kernkraftwerke beziehen ihren Kernbrennstoff auf dem Weltmarkt, teilweise aus Russland und teilweise aus westlichen Ländern wie Kanada, Australien oder den USA. Mit Blick auf die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts geht das PSI zudem davon aus, dass ein erhöhter Bedarf an Kernenergie zu verstärkten Explorationsaktivitäten und damit zu erhöhten Uranreserven führen wird. Darüber hinaus wird sich die Reaktortechnologie mit einem geschlossenen Brennstoffkreislauf weiter entwickeln, so dass andere Brennstoffe mit grösserem Energiepotenzial als Uran-235 verwendet werden können.
Technologischer Stand im Bereich der Kernenergie
Das Bundesamt für Energie lässt auf Grundlage von Artikel 74 a KEG regelmässig ein Technologiemonitoring zur Kernenergie durchführen. Der aktuelle Bericht 7³ dazu wurde im Herbst 2024 publiziert. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf diesen Bericht, der von Experten des PSI, der ETH Zürich sowie der EPF Lausanne erstellt worden ist.
Status der Leichtwasserreaktoren der Generation III/III+: Reaktoren der Generation III/III+ sind eine neue Generation von Kernkraftwerken, die auf der gleichen Leichtwasserreaktortechnologie (LWR) wie die derzeit in Betrieb befindlichen Anlagen basieren, sich jedoch durch deutlich verbesserte Sicherheitsmerkmale auszeichnen, die in ihren Konstruktionsmerkmalen die Lehren aus den drei grössten Reaktorunfällen der Geschichte berücksichtigen. 7⁴ Stand Dezember 2023 sind 38 grosse LWR-Einheiten der Generation III/III+ in Betrieb, und von den 60 derzeit im Bau befindlichen Reaktoren sind 51 grosse LWR der Generation III/III+. Weitere Einheiten wurden bestellt oder Ausschreibungen sind im Gange (z. B. drei Einheiten in Polen, zwei Einheiten in Grossbritannien, eine in der Tschechischen Republik), und mehrere weitere sind geplant.
Status kleiner modularer Reaktoren SMR: SMR sind moderne Reaktoren mit einer Nennleistung von bis zu 300 Megawatt elektrisch (MWe) pro Einheit. Sie sind für den Bau in Fabriken und den Transport zum Einsatzort konzipiert. Normalerweise werden sie unterirdisch installiert. Die Kernenergieagentur der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD-Kernenergie-Agentur) geht davon aus, dass SMR bis 2035 bis zu 9 Prozent der gesamten neuen Kernkraftwerkskapazität ausmachen werden. 7⁵ Derzeit sind 10 SMR in Russland und China in Betrieb, und mehrere befinden sich derzeit im Bau oder warten auf die Genehmigung (USA, Kanada).
Stand der Mikroreaktortechnologie: In den letzten sieben Jahren hat sich ein Trend zu sogenannten Mikroreaktoren herausgebildet, die elektrische Leistungen im Bereich von bis zu etwa 10 MWe erzeugen sollen. Mehrere davon werden in den USA entwickelt. Dabei handelt es sich um Reaktoren, die vollständig fabrikgefertigt sind, in einen ISO-Container passen, um von der Fabrik zum Einsatzort transportiert werden zu können und 5-10 Jahre oder länger ohne Erneuerung des Brennstoffs funktionieren. Sie können unabhängig, als Teil des Stromnetzes oder innerhalb eines Mikronetzes betrieben werden. Solche Kraftwerke sollen in abgelegenen Gebieten (z. B. an Bergbaustandorten) eingesetzt werden oder energieintensive Industrien (z. B. Wasserentsalzung, Wasserstoffproduktion) mit Strom und Wärme versorgen. Sie sind aber auch für Industrien interessant, die ein gewisses Mass an Unabhängigkeit vom Stromnetz im Sinne der Versorgungssicherheit benötigen. Die Kühlung erfolgt über Gas (Helium), flüssiges Metall, geschmolzenes Salz oder (Natrium-)Wärmerohre.
Status von Generation-IV- Leichtwasserreaktoren und Nicht-Leichtwasserreaktoren: Nicht-wassergekühlte Reaktoren werden mit dem Ziel entwickelt, die Effizienz ent-weder durch eine Erhöhung der thermodynamischen Effizienz oder durch eine verbesserte Brennstoffnutzung und eine weitere Reduzierung der Menge an hoch-radioaktivem Abfall zu steigern und so den Kreislauf für Kernbrennstoff zu schliessen.
Stand der Fusionstechnologie: Die Kernfusion birgt zwar ein enormes Potenzial als zukünftige Energiequelle, befindet sich jedoch noch in der Forschungsphase, und eine funktionierende Demonstrationsanlage zur Stromerzeugung muss noch erprobt werden. Aus diesem Grund ist die Fusion derzeit noch weit von kommerziellen Anwendungen entfernt. Es wird nicht erwartet, dass die Technologie in Energieszenarien im Zeitraum bis 2050 eine Rolle spielen wird.
Situation bezüglich der Fachkräfte im Kernenergiebereich in der Schweiz: Projekte für neue KKW in der Schweiz sind zurzeit keine vorhanden. Auch ist davon auszugehen, dass gegenwärtig die nötigen Fachkräfte in der Schweiz fehlen, die für die Konzeption, den Bau und den Betrieb neuer KKW erforderlich wären. Umso wichtiger wäre die Aufhebung des Neubauverbots für KKW als Signal an den Fachkräftenachwuchs. Gemäss Einschätzungen des ENSI und der Betreiber besteht eine der Herausforderungen darin, in der Schweiz über genügend Fachpersonal zu verfügen und dieses hier zu halten. Dies betrifft insbesondere die Forschung und den Betrieb der bestehenden Kernanlagen. 7⁶ Denn viele junge Fachkräfte möchten nicht in einem Land arbeiten, das eine Technologie mittels Verboten von neuen Rahmenbewilligungen langfristig nicht mehr ermöglicht. Die Ressortforschung, u.a. auch mit spezifischen Programmen für die Kernenergiesicherheit (vgl. insb. Art. 83 und 86 KEG sowie Art. 77 der Kernenergieverordnung vom 10. Dezember 2004 7⁷ ), erlaubt es zwar seit Jahren, Forscher zu motivieren, in diesem Feld zu arbeiten. Es zeigt sich allerdings, dass die stark beschränkten Stellen in der Forschung langfristig nicht genügen, um der Wirtschaft die nötigen Fachkräfte zur Verfügung zu stellen. Die Verfügbarkeit von Fachkräften ist auch für die Sicherstellung des Langzeitbetriebs von KKW zentral.
⁵8 Technology Monitoring of Nuclear Energy 2024, PSI, ETHZ, EPFL, abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Kernenergie > Aufgaben des BFE
.
⁵9 Vgl. Technology Monitoring of Nuclear Energy 2024, PSI, ETHZ, EPFL, Seite 13, abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Kernenergie > Aufgaben des BFE
.
6⁰ Vgl. Langzeitbetrieb von Kernkraftwerken 2024, BFE, abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Kernenergie > Aufgaben des BFE
.
6¹ Vgl. Zusammenfassung der Studie, S. 13
6² Bei der Berechnung der Stromproduktion des Gondosolarprojekts wurde in der Studie des PSI eine Referenzgrösse von 15 GWh/Jahr angenommen. Stand Juni 2025 wird von einer leicht höheren Stromproduktion ausgegangen (18 GWh/Jahr) (vgl.
Zahlen und Fakten zum Projekt Gondosolar
, abrufbar unter:
www.gondosolar.ch
> Das Projekt). Entsprechend würde sich die Zahl von 780 Alpinsolarprojekten auf 667 reduzieren.
6³ Die Kosten für das Projekt Gondosolar werden von den Betreibern auf 42 Millionen Franken veranschlagt (vgl.
www.gondosolar.ch > News > Medienmitteilung vom 7. Februar 2022
).
6⁴ Vgl. Technology Monitoring of Nuclear Energy 2024, PSI, ETHZ, EPFL, Figur 8.9 (S. 238), abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Kernenergie > Aufgaben des BFE
.
6⁵ Die Projektanten von Gondo-Solar gehen von einem Flächenbedarf von 0.17 km² aus (abrufbar unter:
www.gondosolar.ch/das-projekt
).
6⁶ Kosten neuer Kernkraftwerke, 2008, Prognos AG, abrufbar unter:
pubdb.bfe.admin.ch > download.
⁶7 STENFO, Jahresbericht 2023, Ziff. 2.8.1, abrufbar unter:
www.stenfo.ch
.
⁶8 SR 732.17
⁶9 Vgl.
nagra.ch > ein-zweites-tiefenlager-ist-fuer-die-nagra-kein-thema
7⁰ Vgl. Artikel des US-amerikanischen Energieministeriums, abrufbar unter:
www.energy.gov > articles > Artikel vom 1. Dezember 2023
.
7¹ Vgl.
Uranium Exploration Planning, Management and Practice, 2024
, IAEA
. Siehe auch die kartographische Darstellung der Uranium Vorkommnisse auf
World Distribution of Uranium Deposits, Third Edition | IAEA
.
7² Vgl. Technology Monitoring of Nuclear Energy 2024, PSI, ETHZ, EPFL, verfügbar unter:
www.bfe.admin.ch > Vers
orgung > Statistik > Monitoring Energiestrategie 2050
.
7³ Technology Monitoring of Nuclear Energy 2024, PSI, ETHZ, EPFL, verfügbar unter
www.bfe.admin.ch > Vers
orgung > Statistik > Monitoring Energiestrategie 2050
.
7⁴ Vgl. International Atomic Energy Agency, «
Safety of nuclear power plants: design, IAEA Safety Standards Series No.SSR-2/1
», 2016.
7⁵ Vgl. Nuclear Energy Agency, «
Small Modular Reactors: nuclear energy market potential for near-term deploy-ment», NEA No. 7213, OECD, 2016
.
7⁶ Vgl. Kapitel 6.4 der Aktennotiz zum Langzeitbetrieb von Kernkraftwerken, BFE 2024, abrufbar unter:
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Kernenergie > Aufgaben des BFE
.
7⁷ SR 732.11
6 Indirekter Gegenvorschlag
6.1 Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren
Zum indirekten Gegenvorschlag wurde vom 20. Dezember 2024 bis zum 3. April 2025 eine Vernehmlassung durchgeführt.
Eine Mehrheit der Kantone sowie die Konferenz Kantonaler Energiedirektoren (EnDK) lehnen den indirekten Gegenvorschlag ab. Umgekehrt unterstützen die Kantone Aargau, Graubünden, Nidwalden, St. Gallen, Tessin, Uri, Zug und Zürich den Gegenvorschlag, allerdings mehrheitlich unter der Bedingung, dass die Rahmenbedingungen (namentlich die Finanzierung und die Bewilligungsverfahren) definiert und dass der Bestand der erneuerbaren Energien (insbesondere der Wasserkraft) gesichert werden. Die meisten Kantone stellen sich hinter die ablehnende Stellungnahme der EnDK. Diese verlangt, dass eine strategische und fachliche Auslegeordnung zu einer eventuellen Aufhebung des Rahmenbewilligungsverbots für Kernkraftwerke vorgenommen und die Rahmenbedingungen für allfällige neue Kernkraftwerke definiert werden, bevor ein derart richtungsweisender Entscheid in der Energiepolitik gefällt werden kann.
Von den in der Bundesversammlung vertretenen Parteien unterstützen die FDP, die EDU und die SVP die Vorlage, während die restlichen Parteien (Die Mitte, die GLP, die SP, die Grüne, die EVP) diese ablehnen.
Die Organisationen der Wirtschaft unterstützen den Gegenvorschlag grossmehrheitlich, während die Umweltorganisationen ihn ablehnen. Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen und die drei grossen Energieversorger BKW, Alpiq und Axpo begrüssen den Gegenvorschlag.
Zusätzlich zu den erwähnten Kritikpunkten der EnDK wurden v.a. folgende Gegenargumente vorgebracht: Mit dem indirekten Gegenvorschlag sollen die regulatorischen Rahmenbedingungen für die Planung und den Bau allfälliger neuer Kernkraftwerke entweder explizit bestätigt oder neu definiert werden. Kritisiert werden im Weiteren die zu erwartenden hohen Kosten für den Bau neuer Kernkraftwerke und die damit verbundene unklare Finanzierung, der Umgang mit den Abfällen und der Endlagerung, die Sicherheitsaspekte, die lange Erstellungsdauer für neue KKW sowie eine Konkurrenzsituation zu den erneuerbaren Energien und damit verbunden die Befürchtung, dass der rasche Ausbau der erneuerbaren Energien unnötig behindert wird. Auf Seite der Befürwortenden überwiegen die folgenden Argumente: die Schaffung von Technologieoffenheit, der Erhalt von Optionen in der Energieversorgung für die Zukunft, die Produktion von Bandenergie, die Sicherstellung des grossen zukünftigen Mehrbedarfs an Strom insbesondere auch im Winterhalbjahr und die Korrektur der Energiestrategie 2050.
Der Bundesrat verweist bezüglich dieser Argumente auf die vorliegenden Ausführungen und Szenarien, die vorgestellten Herausforderungen und die heute geltenden Rahmenbedingungen. Die neuen strategischen Voraussetzungen für die zukünftige Energiepolitik wurden dargelegt (siehe dazu insbesondere Kapitel 2.4.2). Diese erfordern rasch einen politischen Grundentscheid. In Bezug auf die Energieperspektiven ist festzuhalten, dass deren Aktualisierung in Erarbeitung ist und voraussichtlich 2027 veröffentlicht wird. Gegenwärtig läuft die WTO-Ausschreibung für die Erstellung der Perspektiven. Im zweiten Halbjahr 2025 sollten sodann die Arbeiten unter Einbezug einer verwaltungsexternen Begleitgruppe beginnen. Gleichzeitig ist der Bundesrat gesetzlich verpflichtet, 18 Monate nach der Einreichung einer Volksinitiative die Botschaft und den Gegenvorschlag an das Parlament zu überweisen. ⁷8 Mit dem Gegenvorschlag wird kein Neubauprojekt beantragt. Vielmehr steht die grundsätzliche Frage im Raum, wie die Versorgungssicherheit in der Schweiz langfristig sichergestellt wird und welche Rolle dabei die Kernenergie spielen soll. Hierüber soll eine Grundsatzdebatte ermöglicht werden.
Der Bundesrat geht nicht davon aus, dass sich erneuerbare Energien und die Kernenergie gegenseitig ausschliessen oder dass der Gegenvorschlag das Investitionsklima und die Planungssicherheit für den Ausbau erneuerbarer Energien beeinträchtigt. Zudem werden die Fördermöglichkeiten von erneuerbaren Energien durch den indirekten Gegenvorschlag nicht erfasst. Somit wird deren Entwicklung nicht behindert.
⁷8 Vgl. Artikel 97 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes (ParlG; SR 171.10 )
6.2 Grundzüge der Vorlage
Im Rahmen des indirekten Gegenvorschlags soll das Rahmenbewilligungsverbot für Kernkraftwerke im KEG aufgehoben werden. Das Rahmenbewilligungsverbot besteht aus zwei Bestimmungen im KEG, wonach sowohl für die Erstellung von neuen Kernkraftwerken als auch für Änderungen bestehender Kernkraftwerke keine Rahmenbewilligungen mehr erteilt werden dürfen.
Diese beiden Bestimmungen (Art. 12 a und 106 Abs. 1bis KEG) sollen im Rahmen des vorliegenden indirekten Gegenvorschlags zur Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» ersatzlos aufgehoben werden. Zudem wird auch ein Verweis auf Artikel 12 a gestrichen (Art. 12 Abs. 1 zweiter Satz).
6.3 Erläuterungen zu einzelnen Artikeln
Art. 12, Abs. 1 zweiter Satz
Artikel 12 Absatz 1 erster Satz KEG besagt, dass für den Bau oder den Betrieb einer Kernanlage eine Rahmenbewilligung des Bundesrates notwendig ist (Bewilligungspflicht). Kernanlagen mit geringem Gefährdungspotential bedürfen gemäss Artikel 12 Absatz 3 KEG jedoch keiner Rahmenbewilligung. Diese Regelungen sollen weiterhin gelten. Gestrichen wird jedoch der zweite Satz von Artikel 12 Absatz 1 KEG, welcher auf den Vorbehalt von Artikel 12 a KEG hinweist.
Art. 12a
Wie bereits oben ausgeführt, soll die zukünftige schweizerische Energiepolitik technologieoffen ausgestaltet werden. Der bisherige Artikel 12 a KEG steht diesem Ansinnen im Weg, indem er die Erstellung neuer Kernkraftwerke verhindert. Um eine rahmenbewilligungspflichtige Kernanlage erstellen zu können, ist grundsätzlich eine Rahmenbewilligung (Art. 12-14 und 42-48 KEG) erforderlich. Kernanlagen werden in Artikel 3 Buchstabe d KEG definiert und umfassen neben Einrichtungen zur Nutzung von Kernenergie wie Kernkraftwerke namentlich auch Einrichtungen zur Lagerung von Kernmaterialien sowie zur Entsorgung von radioaktiven Abfällen.
Die Pflicht einer Rahmenbewilligung für die Erstellung von gewissen Kernanlagen wurde mit dem Bundesbeschluss vom 6. Oktober 1978 ⁷9 zur Ergänzung des Atomgesetzes eingeführt. Diese ermöglichte einen Einbezug der Bevölkerung in das Bewilligungsverfahren. Wegen der politischen Bedeutung von Kernanlagen musste der Entscheid über deren Bau fortan von einer politischen Behörde oder vom Parlament gefällt werden. Mit der Einführung des KEG wurden die Inhalte und das Verfahren der Rahmenbewilligung weiter ausgebaut, namentlich wurde der Entscheid, dass eine Rahmenbewilligung gewährt wird, neu dem fakultativen Referendum unterstellt (Art. 48 Abs. 4 KEG).
Die Rahmenbewilligung ist in erster Linie politischer Natur: Sie ist eine Entscheidung im Grundsatz, ob ein bestimmter Typ einer Kernanlage an einem bestimmten Ort erstellt werden darf. Sie ist die Voraussetzung für die weiteren Bewilligungen. Auf die Erteilung einer Rahmenbewilligung besteht kein Rechtsanspruch, das heisst eine Nichterteilung ist von den Projektantinnen und Projektanten entschädigungslos hinzunehmen.
Das Rahmenbewilligungsverfahren sieht eine weitreichende Beteiligung der Öffentlichkeit vor. Das Gesuch, die Gutachten sowie die Stellungnahmen der Fachstellen des Bundes und sämtlicher Kantone sind öffentlich aufzulegen (Art. 45 KEG). Jedermann kann Einwendungen vorbringen und Betroffene können Einsprache gegen eine Erteilung der Rahmenbewilligung erheben (Art. 46 KEG). Dem Standortkanton sowie den in unmittelbarer Nähe des vorgesehenen Standorts liegenden Nachbarkantone und Nachbarländer kommt eine besondere Stellung zu: Sie sind an der Vorbereitung des Rahmenbewilligungsentscheides zu beteiligen und ihre Anliegen sind zu berücksichtigen, soweit dies das Projekt nicht unverhältnismässig einschränkt (Art. 44 KEG).
Der Bundesrat entscheidet über das Gesuch sowie über die Einwendungen und die Einsprachen (Art. 48 Abs. 1 KEG). Er unterbreitet seinen Entscheid der Bundesversammlung zur Genehmigung (Art. 48 Abs. 2 KEG). Der Beschluss der Bundesversammlung über die Genehmigung einer Rahmenbewilligung untersteht dem fakultativen Referendum (Art. 48 Abs. 4 KEG). Die Stimmbevölkerung hat somit das letzte Wort beim Grundsatzentscheid über die Erstellung einer neuen rahmenbewilligungspflichtigen Kernanlage.
Mit der Energiestrategie 2050 wurde der Artikel 12 a KEG eingeführt, wonach keine Rahmenbewilligungen für die Erstellung neuer Kernkraftwerke mehr erteilt werden dürfen. Diese Bestimmung soll vorliegend aufgehoben werden. In der Folge wird auch der Vorbehalt in Artikel 12 Absatz 1 zweiter Satz KEG obsolet.
Damit gestaltet sich die Rechtslage zukünftig wieder so wie bei der Einführung des Kernenergiegesetzes. Die Erstellung von neuen Kernkraftwerken ist damit wieder möglich, sofern eine Rahmenbewilligung erteilt wird und die Bewilligungsvoraussetzungen für deren Bau und Betrieb gegeben sind.
⁷9 BBI 1978 II 880
Art. 106 Abs. 1bis
In den Übergangsbestimmungen des KEG ist festgehalten, dass bestehende Kernanlagen ohne Rahmenbewilligung betrieben werden dürfen, solange keine Änderungen vorgenommen werden, die nach Artikel 65 Absatz 1 KEG eine Änderung der Rahmenbewilligung erfordern (vgl. Artikel 106 Absatz 1 KEG). Mit dem Verbot neuer Rahmenbewilligungen für Kernkraftwerke wurden auch Rahmenbewilligungen für Änderungen an bestehenden Kernkraftwerken untersagt (Artikel 106 Absatz 1bis KEG).
Artikel 65 Absatz 1 KEG schreibt bei wesentlichen Änderungen von rahmenbewilligungspflichtigen Kernanlagen eine Änderung der Rahmenbewilligung vor. Wesentlich sind Änderungen des Zwecks oder der Grundzüge der Kernanlage oder aber grundlegende Erneuerungen eines Kernkraftwerkes zur massgeblichen Verlängerung seiner Betriebsdauer, insbesondere durch den Ersatz des Reaktordruckbehälters.
Auch wenn ein Ersatz des Reaktordruckbehälters bei den bestehenden Kernkraftwerken nicht möglich oder zumindest nicht wirtschaftlich sein dürfte, so lässt sich das Verbot von Rahmenbewilligungen für Änderungen bestehender Kernkraftwerke im Sinne der Technologieoffenheit nicht mehr länger rechtfertigen.
Daher soll auch die Bestimmung von Artikel 106 Absatz 1bis KEG aufgehoben werden.
Verbindungsklausel
Schliesslich enthält die Vorlage unter Ziffer II Abs. 2 eine sogenannte Verbindungsklausel: Die Revision des KEG ist der indirekte Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)». Damit werden die beiden Vorlagen verknüpft, so dass ein bedingter Rückzug der Volksinitiative zugunsten des indirekten Gegenvorschlages ermöglicht wird. Das Initiativkomitee kann somit seine Volksinitiative unter dem Vorbehalt zurückziehen, dass die Revision des KEG in Kraft treten kann. 8⁰
Bei einer gleichzeitigen Annahme der Volksinitiative und des indirekten Gegenvorschlages wäre somit der Teil betreffend die Revision des KEG (vgl. Art. 89 Abs. 7 zweiter Satz BV) bereits umgesetzt. Die übrigen Teilgehalte der Volksinitiative (Art. 89 Abs. 6 und 7 erster Satz) müssten auf Stufe Bundesgesetz noch präzisiert werden.
Auf eine sogenannte «Alternativklausel» 8¹ soll verzichtet werden. Diese wäre erforderlich, wenn zwischen der Volksinitiative und dem indirekten Gegenvorschlag ein inhaltlicher Widerspruch bestünde. Zudem würde mit einer Alternativklausel die Änderung des KEG nicht wie üblich unmittelbar nach seiner Annahme durch die Bundesversammlung im Bundesblatt publiziert und dem Referendum unterstellt. Würde die Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» angenommen, so würde in diesem Fall ihre teilweise bereits ausgearbeitete Umsetzung in Form des indirekten Gegenvorschlags obsolet. Der Entwurf einer Änderung des KEG müsste wiederaufgenommen und dem Parlament erneut unterbreitet werden. Eine solche Verzögerung erscheint nicht zweckmässig.
8⁰ Vgl. Art. 73 a Abs. 2 Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte ( SR 161.1 )
8¹ Deren Formulierung würde folgendermassen lauten: «Es [das Gesetz] ist im Bundesblatt zu publizieren, sobald die Volksinitiative [Name der Volksinitiative] zurückgezogen oder abgelehnt worden ist».
6.4 Auswirkungen
6.4.1 Auswirkungen auf den Bund
Finanzielle Auswirkungen
Ziel der Neuregelung im Kernenergiegesetz ist die Aufhebung des Verbots für das Erteilen von Rahmenbewilligungen für neue Kernkraftwerke. Es soll wieder möglich sein, Gesuche für den Neubau von Kernkraftwerken beim Bundesrat zu beantragen. Es geht nicht darum, den Bau neuer Kernkraftwerke zu beschliessen. Daher ist die Finanzierung künftiger Kernkraftwerke auch nicht Gegenstand dieser Vorlage. Die Vorlage hat folglich keine Auswirkungen auf die Einnahme- und Ausgabeseite der Bundesfinanzen.
Für die Finanzierung neuer Energieproduktionsanlagen (auch von KKW) sind grundsätzlich die Betreiber zuständig. Artikel 6 Absatz 2 EnG sieht vor, dass die Energieversorgung Sache der Energiewirtschaft ist. Bund und Kantone sorgen für die Rahmenbedingungen, die erforderlich sind, damit die Energiewirtschaft diese Aufgabe im Gesamtinteresse optimal erfüllen kann. Bereiche mit Bundesförderung werden im Gesetz speziell ausgewiesen: Dies umfasst gemäss geltendem Recht (insbesondere dem EnG) die erneuerbaren Energien aus Wasser, Sonne, Wind, Biomasse und Geothermie 8² . Die Förderung der erneuerbaren Energien wurde mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und der Energiestrategie 2050 stark ausgebaut, um den zukünftigen Wegfall von Strom aus Kernenergie zu kompensieren. Der vorliegende Gegenvorschlag sieht keine Änderung von Finanzierungs- und von Förderbestimmungen vor.
Personelle Auswirkungen
Die Vorlage zur Aufhebung des Neubauverbots hat keine direkten personellen Auswirkungen beim Bund zur Folge. Sollten dereinst Gesuche für Rahmenbewilligungen neuer Kernkraftwerke eingereicht werden, so würde insbesondere beim ausserhalb der zentralen Bundesverwaltung gelegenen ENSI, das die sicherheitstechnische Prüfung durchführt, Mehraufwand und gegebenenfalls Bedarf an neuen Stellen bestehen. Sämtliche Aufwände für das Rahmenbewilligungsverfahren können den Projektanten in Form von Gebühren auferlegt werden (Art. 83 KEG).
8² Vgl. Art. 34 a Abs 1 CO
2
-Gesetz ( SR 641.71 )
6.4.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Gemäss entsprechenden Äusserungen im Rahmen der Vernehmlassung sieht eine Mehrheit der Kantone die Aufhebung des Neubauverbots kritisch. Nach Ansicht des Bundesrates unterstützt die Vorlage demgegenüber die technologieneutrale, umwelt- und klimafreundliche Stromversorgung der Schweiz, in dem sie auf lange Sicht die zusätzliche Produktion von CO
2
-armen Strom aus neuen Kernkraftwerken möglich macht. Diese zusätzliche Option für die langfristige sichere Stromversorgung stärkt die Energieversorgungssicherheit in allen Regionen der Schweiz.
6.4.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Eine sichere und jederzeit verfügbare und kostengünstige Energieversorgung ist für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft zentral. Eine diversifizierte Stromproduktion, die auch den haushälterischen Umgang mit der endlichen Ressource Boden in all seinen Formen (Bauland, Landwirtschaftsland, Erholungsraum etc.) berücksichtigt, erhöht den Handlungsspielraum einer Volkswirtschaft.
Die Kernenergie liefert rund um die Uhr, zu jeder Jahreszeit und unabhängig von den Wetterverhältnissen Elektrizität, ohne zusätzlich Beschaffungskosten zu generieren. Kernkraftwerke benötigen keine Speicher und haben den Vorteil, dass sie zur Netzstabilität beitragen. Ist das Stromnetz instabil, drohen Blackouts. Ereignisse aus der Vergangenheit, wie der grosse Stromblackout 2003 in Nordamerika oder jener auf der iberischen Halbinsel im Frühjahr 2025 haben gezeigt, dass solche Stromausfälle erhebliche volkswirtschaftliche Kosten zur Folge haben.
Die Möglichkeit, Rahmenbewilligungsgesuche für neue Kernkraftwerke wieder zu-zulassen, kann auch als zusätzliche Massnahme für die langfristige Absicherung der Schweiz gegen Strommangellagen betrachtet werden. Von einer Strommangellage spricht man, wenn die Nachfrage nach elektrischer Energie das Angebot während mehrerer Tage oder Wochen übersteigt. Das BABS hat in seiner nationalen Risikoanalyse «Katastrophen und Notlagen Schweiz» eine Strommangellage als grösstes Gefährdungsrisiko für die Schweiz identifiziert. Die Vermögensschäden und die Bewältigungskosten schätzt das BABS auf rund 10 Milliarden Franken. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit würde um ca. 90 Milliarden Franken reduziert. Umgekehrt rechnet das BABS in seinem Gefährdungsdossier bei einem KKW-Unfall mit wirtschaftlichen Schäden von mehreren Dutzend Milliarden Franken, mehreren Todesopfern, Tausenden von evakuierten Personen und erheblichen Umweltschäden. Es schätzt die negativen Auswirkungen eines solchen Ereignisses als sehr hoch, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit jedoch als sehr gering ein. 8³
Bei der Erarbeitung der Energiestrategie 2050 ging der Bundesrat noch davon aus, dass in Europa jederzeit genügend Energie und Strom vorhanden sein wird. Diese Ausgangsposition hat sich fundamental geändert. Der Krieg gegen die Ukraine offenbart die energiepolitische Verwundbarkeit Europas. Davon ist auch die Schweiz betroffen. Aufgrund der vom Volk angenommenen Vorlage «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien (Änderung des Energiegesetzes und des Stromversorgungsgesetzes)» 8⁴ wird die Stromversorgung kurz- bis mittelfristig über den Ausbau der erneuerbaren Energien gestärkt. Mit der Aufhebung des Verbots für Rahmenbewilligungsgesuche für neue Kernkraftwerke eröffnet sich eine zusätzliche Option bei der Gewährleistung der langfristigen Stromversorgungssicherheit. Dies für den Fall, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht im gewünschten Ausmass stattfinden wird. Mit dieser faktischen Rückversicherung in der Stromversorgung schafft die Vorlage national wie international zusätzliches Vertrauen in die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft. Die Akteure der Wirtschaft äusserten sich in der Vernehmlassung denn auch grossmehrheitlich positiv zum Vorschlag des Bundesrates (vgl. Ziff. 6.1).
8³ Gefährdungsdossier KKW-Unfall, abrufbar unter:
www.babs.admin.ch > Weitere Aufgabenfelder > Gefährdungen und Risiken > Nationale Risikoanalyse > Gefährdungsdossiers
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8⁴ AS 2024 679
6.4.4 Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die Schweiz verfügt über ein sehr gut funktionierendes Energiesystem. Die hohe Zuverlässigkeit bei der Energie- und der Stromversorgung bildet ein wichtiges Fundament für den Wohlstand in unserem Land. Sie ist auch ein Grund dafür, dass die Unternehmen der Exportwirtschaft verlässlich und kostengünstig produzieren können, u.a. dadurch im internationalen Wettbewerb sehr gut positioniert sind und so heimische Arbeitsplätze schaffen. Im internationalen Standortwettbewerb profitiert die Schweiz davon. Die Ansiedlung global tätiger Unternehmen wirkt sich positiv auf die inländische Wertschöpfung und Beschäftigungssituation der Schweizer Bevölkerung aus. Davon profitieren Gewerbe, Dienstleister, Industrie und Tourismus, die Schweiz als Forschungs- und Bildungsplatz sowie die Gesellschaft im Allgemeinen. Auch wenn in der Vorlage kein Neubau von Kraftwerken vorgesehen ist, wird sie den gesellschaftlichen Diskurs über die künftige Rolle der Kernenergie und einer technologieoffenen heimischen Stromversorgung beleben. Diese offene Diskussion über die künftige Energieversorgung ist zu begrüssen und entspricht den demokratischen Gepflogenheiten der Schweiz. Nebst den Vorteilen birgt die Kernenergie auch Risiken (vgl. Ausführungen unter Ziff. 6.4.3). In der Schweiz gelten strenge Vorgaben und Standards, die für den sicheren Betrieb von Kernenergieanlagen erfüllt und überwacht werden müssen. Sollte dereinst ein neues KKW gebaut werden, kann auf jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit dieser Technologie zurückgegriffen werden - sowohl bei den Betreibern als auch bei Behörden und der Forschung.
6.4.5 Auswirkungen auf die Umwelt
Die Vorlage würde den Neubau von Kernkraftwerken wieder erlauben. Solche Neubauten begünstigen die Erreichung des Netto-Null-Ziels, weil Kernkraftwerke klimaschonend sind. Zudem würden sie im Verhältnis zu ihrer Leistung nur wenig Land beanspruchen und dadurch eine flächenschonende Stromproduktion der Schweiz begünstigen (vgl. dazu Ziff. 5.2.2). Andere Auswirkungen auf die Umwelt wären im Einzelfall zu prüfen, falls später konkrete Projekte zur Bewilligung beantragt würden. Solche Projekte müssten insbesondere den Schutz von Mensch und Umwelt sicherstellen und es dürften keine anderen von der Umweltschutzgesetzgebung vorgesehenen Gründe entgegenstehen (vgl. dazu Art. 13 Abs. 1 KEG sowie die Ausführungen unter Ziff. 5.2.2 «Umgang mit radioaktiven Abfällen»).
6.5 Rechtliche Aspekte
Die Vorlage stützt sich auf Artikel 90 BV, der dem Bund eine ausschliessliche und umfassende Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet der Kernenergie zuweist. Ihr stehen keine internationalen Verpflichtungen der Schweiz entgegen. Während der Bundesrat die von der Initiative geforderten Änderungen auf Verfassungsstufe ablehnt, beantragt er mit dem indirekten Gegenvorschlag eine Anpassung auf Stufe Bundesgesetz: Die vorgeschlagenen Änderungen innerhalb des KEG sind im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vorzunehmen und unterstehen nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe a BV dem fakultativen Referendum. Mit dem indirekten Gegenvorschlag werden weder neue Subventionsbestimmungen (die Ausgaben über einem der Schwellenwerte nach sich ziehen) geschaffen, noch werden neue Verpflichtungskredite oder ein neuer Zahlungsrahmen (mit Ausgaben über einem der Schwellenwerte) beschlossen. Dasselbe gilt auch für die zur Ablehnung empfohlene Initiative.
Bundesrecht
Botschaft zur Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» und zum indirekten Gegenvorschlag (Änderung des Kernenergiegesetzes)
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