BBl 2025 2991
CH - Bundesblatt

Militärdienst mit Einschränkungen Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 27. Juni 2025 Stellungnahme des Bundesrates

Militärdienst mit Einschränkungen Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 27. Juni 2025 Stellungnahme des Bundesrates
vom 26. September 2025
Sehr geehrter Herr Kommissionspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Zum Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 27. Juni 2025 ¹ betreffend Militärdienst mit Einschränkungen nehmen wir nach Artikel 158 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Kommissionspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
26. September 2025 Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi
Stellungnahme
¹ BBl 2025 2404

1 Ausgangslage

Die Geschäftsprüfungskommissionen beauftragten im Januar 2023 die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) damit, den Militärdienst mit Einschränkungen zu evaluieren. Im Fokus der Evaluation stand die Beurteilung der Militärdiensttauglichkeit.
Gestützt auf die Ergebnisse dieser Evaluation hat die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats (GPK-N) an ihrer Sitzung vom 27. Juni 2025 sieben Empfehlungen zuhanden Bundesrat formuliert. Aus Sicht der GPK-N ist die Gleichbehandlung der Stellungspflichtigen nicht sichergestellt und es bestehe insbesondere bei der Verankerung der Beurteilungskriterien sowie der Einhaltung der Vorgaben des Bundesrates Verbesserungspotenzial.

2 Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat dankt der GPK-N für ihr Schreiben vom 27. Juni 2025. Zu den einzelnen Fragen der GPK-N (nachfolgend kursiv in Kästen) nimmt der Bundesrat wie folgt Stellung.
Empfehlung 1 Verankerung der Kriterien für die Militärdiensttauglichkeit in einem Gesetz Der Bundesrat wird aufgefordert, die grundlegenden Kriterien für die Militärdiensttauglichkeit in einem Gesetz zu verankern. Die Kriterien der Militärdiensttauglichkeit sind zudem auf Verordnungsstufe zu konkretisieren, damit diese Informationen öffentlich zugänglich sind und die Stellungpflichtigen ihre Militärdiensttauglichkeit einschätzen können.
Der Bundesrat lehnt die Empfehlung 1 der GPK-N teilweise ab, da die Militärdiensttauglichkeit aus seiner Sicht bereits genügend gesetzlich verankert ist. Eine zusätzliche Konkretisierung auf Verordnungsstufe wäre dahingegen nicht zweckmässig.
Bei der Rekrutierung liegt aufgrund der Militärdienstpflicht der Stellungspflichtigen (Art. 59 Abs. 1 der Bundesverfassung ² ; Art. 2 Abs. 1 des Militärgesetzes vom 3. Februar 1995 ³ [MG]) eine besonders enge Rechtsbeziehung zum Staat vor (sogenanntes Sonderstatus- oder besonderes Rechtsverhältnis). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung gilt für Sonderstatusverhältnisse, dass die formell-gesetzliche Regelung nicht ins Detail gehen muss, sondern die Anforderungen an die Bestimmtheit der Rechtsgrundlage der Natur des Rechtsverhältnisses entsprechend reduziert werden darf. Namentlich darf die Regelung der Einzelheiten an Exekutivorgane delegiert werden (BGE 135 I 79 E. 6.2; vgl. auch BGE 123 I 296 E. 3 mit Hinweisen, sinngemäss auch BGer 8C_351/2022 E 3.4.4. in Bezug auf Berufssoldaten).
Bei den Stellungspflichtigen handelt es sich um Personen, die das das Sonderstatusverhältnis nicht freiwillig eingegangen sind (vergleichbar mit Schülerinnen und Schülern, siehe BGE 135 I 79 E. 6.2). Das Sonderstatusverhältnis dient im Kontext der Rekrutierung insbesondere der Beurteilung der Tauglichkeit von Stellungspflichtigen sowie der ausreichenden Alimentierung der Armee und des Zivilschutzes.
Dass die Stellungspflichtigen an der Rekrutierung teilnehmen müssen, ist im Militärgesetz auf formell-gesetzlicher Stufe ausdrücklich verankert (Art. 9 Abs. 1 MG). Das Militärgesetz regelt ausserdem den Inhalt der Rekrutierung, namentlich dass die Tauglichkeit der Stellungspflichtigen mittels Untersuchungen, Tests und Befragungen beurteilt wird (Art. 10 Abs. 1 Bst. b MG). Die Tauglichkeitsprüfung wird auf Verordnungsstufe in der Verordnung vom 22. November 2017 ⁴ über die Militärdienstpflicht (insbesondere Art. 13 und 14) sowie in der Verordnung vom 24. November 2004 ⁵ über die medizinische Beurteilung der Militärdiensttauglichkeit und der Militärdienstfähigkeit (VMBM, Art. 1 ff.), wie gesetzlich vorgesehen, weiter konkretisiert. Die Tauglichkeitsprüfung wird damit - wie von der Rechtsprechung gefordert - zumindest in den Grundzügen in Rechtssätzen geregelt.
Im klassifizierten Reglement Nosologia Militaris findet sich ein fachtechnisches Verzeichnis der Normabweichungen, Krankheiten und Gebrechen, welches für militärmedizinische Zwecke von den Untersuchungskommissionen (UC) sowie Truppenärztinnen und -ärzten für die Beurteilung der Diensttauglichkeit und Dienstfähigkeit zu verwenden ist.
Eine Offenlegung der Tauglichkeitskriterien, auch nur teilweise, verfälscht die Rekrutierung und kann sowohl für einzelne Personen als auch für die Alimentierung der Armee gravierende Konsequenzen haben. So besteht die Gefahr, dass Personen, welche auf jeden Fall Militärdienst leisten wollen, entscheidende Informationen wie Arztberichte, Diagnosen (aus dem Zivilen erworben) usw. verschweigen. Damit gefährden sie sich und andere Personen, z.B. in einer Fahrerfunktion. Auch der umgekehrte Fall wäre möglich: Personen, die keinen Dienst leisten wollen, könnten die dann bekannten Kriterien zu ihren Gunsten auslegen. Dies mit einer umfangreichen versicherungsmedizinischen Untersuchung detailliert zu überprüfen, ist mit jährlich über rund 30 000 zu beurteilenden Personen weder finanziell, personell noch zeitlich umsetzbar. Eine Anhebung der Regelungsgehalte der Nosologia Militaris auf Verordnungsstufe könnte dem Zweck des Sonderstatusverhältnisses zuwiderlaufen.
Aufgrund des Detaillierungsgrades ist es weder zielführend noch angezeigt, die Bestimmungen in der Nosologia Militaris auf Verordnungsstufe zu regeln, weil die Tauglichkeitskriterien zum einen diagnosespezifisch und zum anderen auch durch Ko-Morbiditäten ⁶ in der Gesamtschau beeinflusst werden. Dies ist notwendig, um individuellen Fällen gerecht zu werden. Eine pauschale Regelung auf Verordnungsstufe ist aufgrund der Vielzahl an möglichen Diagnosen nicht angezeigt und auf der Stufe Reglement genügend berücksichtigt. Zudem muss aufgrund neuer Erkenntnisse aus Klinik und Forschung sowie neu entwickelter Therapien auch die Nosologia Militaris laufend angepasst werden, was auf Verordnungsstufe eine zu starre Regelungsfindung darstellen würde und jeglicher medizinischen good-practice widersprechen würde.
Schliesslich gilt festzuhalten, dass auch in Armeen anderer Länder die Nosologia Militaris nicht öffentlich zugänglich ist.
Empfehlung 2 Prüfung der Notwendigkeit einer Gesetzesanpassung für den Austausch zwischen Ärzteschaft, Psychologinnen und Psychologen und der Fachstelle PSP Der Bundesrat wird eingeladen, die derzeitigen rechtlichen Grundlagen sowie die Praxis und die Weisung für den Informationsaustausch zwischen den entsprechenden Stellen zu überprüfen. Er soll gewährleisten, dass die Weisung und die Praxis rechtskonform sind, sei es durch eine Gesetzesrevision oder durch die Anpassung der Weisung bzw. der Praxis, falls sich eine Gesetzesrevision als nicht angezeigt erweisen sollte.
Der Bundesrat teilt die Empfehlung 2 der GPK-N und wird diese im Rahmen der Arbeiten zu einer bereits laufenden Gesetzesrevision berücksichtigen.
Anlässlich der Revision des Informationssicherheitsgesetzes vom 18. Dezember 2020 ⁷ ist vorgesehen, die Grundlage für den erwähnten Informationsaustausch zu klären. Zudem findet sich in Artikel 113 Absatz 7 MG eine ausreichende gesetzliche Grundlage in Bezug auf eine Gefährdung: «Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden, Ärztinnen und Ärzte, Seelsorgerinnen und Seelsorger, Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Angehörige der Betreuungsdienste der Armee sind ohne Rücksicht auf die Bindung an das Amts- oder Berufsgeheimnis ermächtigt, Anzeichen oder Hinweise nach Absatz 1 oder einen entsprechenden Verdacht den zuständigen Stellen des VBS zu melden . » Dies bezieht sich auf die Abgabe einer persönlichen Waffe bei der Rekrutierung.
Empfehlung 3 Die Vorgaben für die Tauglichkeitsentscheide sind einzuhalten Der Bundesrat wird aufgefordert, sicherzustellen, dass die Vorgaben für die Tauglichkeitsentscheide (Entscheidfindung und Eröffnung) eingehalten werden. Dies betrifft insbesondere die Vorgaben, dass mindestens zwei Personen aus der Ärzteschaft an der Entscheidung beteiligt sein müssen und die Eröffnung des Entscheids vom Vorsitzenden der UC und nicht durch Mandatsärztinnen und -ärzte erfolgen darf.
Der Bundesrat teilt die Empfehlung 3 der GPK-N weitestgehend, hält aber fest, dass Mandatsärztinnen und -ärzte aus Kapazitätsgründen im Prozess eingebunden sein müssen.
Die physische Untersuchung erfolgt durch eine Ärztin oder einen Arzt, die oder der den Fall dann in der UC vorstellt, wobei eine Ärztin oder ein Arzt den Vorsitz übernimmt. Die vorsitzende Ärztin beziehungsweise der vorsitzende Arzt legt den Entscheid in letzter Verantwortung fest. Der Entscheid wird in der UC aufgrund aller vorhandenen Daten (Arztzeugnisse, Untersuchungsergebnisse, psychologische Testungen etc.) gefällt, nicht von der untersuchenden Einzelärztin oder dem untersuchenden Einzelarzt und nicht basierend auf lediglich einer physischen Untersuchung.
Mandatsärztinnen und -ärzte, also Ärztinnen und Ärzte im Auftragsverhältnis, müssen die festangestellten Ärztinnen und Ärzte (weniger als 15 FTE bei mehr als 36 000 Beurteilungen im Jahr 2024) aufgrund der benötigten Kapazitäten zwingend unterstützen. Ohne diese könnten die hohen Beurteilungszahlen nicht umgesetzt werden. Durch den hohen Detaillierungsgrad der Nosologia Militaris und die vorgängige Besprechung von zu fällenden Entscheiden im in der UC ist die Einheitlichkeit gegeben. Um durchgehende Klarheit zu schaffen, sollen die dahingehenden Bestimmungen anlässlich der nächsten Revision der VMBM klarer formuliert werden.
Empfehlung 4 Übergeordnete Schulungen für die Beurteilung der Tauglichkeit für neue Ärztinnen und Ärzte einführen Der Bundesrat wird eingeladen, dafür zu sorgen, dass die zuständigen Stellen angemessene Schulungen für neue Ärztinnen und Ärzte vorsehen, die für alle Rekrutierungszentren gelten, damit die Einheitlichkeit bei den Tauglichkeitsentscheiden gewährleistet werden kann.
Der Bundesrat teilt die Empfehlung 4 der GPK-N. Die Empfehlung wird zum einen durch die zivile eidgenössische Ausbildung und zum anderen durch interne Ausbildungen sichergestellt.
Die Ärztinnen und Ärzte verfügen über klare Vorgaben bei der Beurteilung von Diagnosen und deren Folge für die Diensttauglichkeit. Die Entscheide werden in der UC mit erfahrenen Ärztinnen und Ärzte gefällt. Neben der Nosologia Militaris gibt es weitere Handlungsrichtlinien (z. B. Reglement zur medizinischen Beurteilung der Diensttauglichkeit und Dienstfähigkeit der Stellungspflichtigen und Angehörigen der Armee oder Weisungen des Oberfeldarztes über die Umsetzung der Medizinischen Beurteilung der Militärdiensttauglichkeit und der Militärdienstfähigkeit; letztere sind aktuell in Überarbeitung).
Alle neuen Mitarbeitenden werden von den erfahrenen festangestellten Ärztinnen und Ärzten eingeführt und mit den entsprechenden Arbeitsmaterialien sowie Untersuchungen vertraut gemacht. Es handelt sich bei allen um eidgenössisch diplomierte (bzw. durch die Medizinalberufekommission anerkannte) Ärztinnen und Ärzte, die bereits das notwendige medizinische Wissen mit sich bringen. Bei ausländischen Ärztinnen und Ärzten wird durch interne Ausbildungen sichergestellt, dass das Wissen dem eidgenössischen Diplom entspricht.
Es ist aber auch wichtig festzuhalten, dass jede stellungspflichtige Person neben einer individuellen medizinischen Komplexität auch über eine soziokulturelle Prägung verfügt, die - falls sie entscheidrelevant ist - dazu führen könnte, dass bei gleicher Diagnosenlage unterschiedliche Entscheide zustande kommen. Eine gewisse Individualisierung des Einzelfalls ist in Bezug auf medizinische Beurteilungen von Menschen stets unumgänglich.
Empfehlung 5 Die Qualität muss sichergestellt werden Der Bundesrat wird eingeladen, Massnahmen zur Qualitätssicherung bzgl. der Tauglichkeitsentscheide zu erarbeiten und für entsprechende Kontrollen zu sorgen.
Der Bundesrat teilt die Empfehlung 5 der GPK-N, hält aber mit Verweis auf seine Stellungnahme zu den Empfehlungen 3 und 4 fest, dass diese Massnahmen bereits weitestgehend bestehen.
Empfehlung 6 Beschwerderecht auf alle Stellungspflichtigen ausweiten Der Bundesrat wird aufgefordert, das Beschwerderecht (Art. 39 MG) auf alle Stellungspflichtigen auszuweiten.
Der Bundesrat teilt die Empfehlung 6 der GPK-N, hält aber fest, dass dies in der Praxis bereits heute der Fall ist. Die bestehende Rechtsunsicherheit soll im Rahmen einer nächsten Revision des Militärgesetztes geprüft und gegebenenfalls geklärt werden.
Das Beschwerderecht nach Artikel 39 MG wird in der Praxis bereits allen Stellungspflichtigen und Angehörigen der Armee zugestanden, welche innert 30 Tagen nach dem Erstentscheid eine Beschwerde einlegen; dies gilt auch für Neubeurteilungen.
Wichtig ist, dass eine Anpassung des MG keinen Missbrauch im Sinne einer Verschleppung und letztendlich der Umgehung der Dienstpflicht mit sich bringt. Mit der Möglichkeit, jederzeit bei neuer Faktenlage eine Neubeurteilung verlangen zu können, ist dem Bedürfnis nach einer «neuen Chance» genügend Rechnung getragen, ohne dass die Gerichte mit einer Fülle möglicher Beschwerden überlastet werden. Der Sonderstatus der Armee in Ausbildung und Einsatz, wie auch der besondere Schutzstatus der Stellungspflichtigen und Dienstleistenden, rechtfertigen dieses Vorgehen.
Im Bericht der PVK wird darauf hingewiesen, dass Neubeurteilungen oder Beschwerden oft zu einem neuen Entscheid in Bezug auf die Diensttauglichkeit führen würden. Dies ist insofern nachvollziehbar, als dass beim ersten Entscheid gewisse medizinische Unterlagen oft nicht vorgelegt und dann anlässlich der Beschwerde nachgereicht werden oder dass bis zur Beurteilung der Beschwerde ein neues ärztliches Zeugnis eingereicht wird. Dies führt zwangsläufig zu einer Neubeurteilung.
Empfehlung 7 Voraussetzungen für Neubeurteilung auf Verordnungsstufe regeln Der Bundesrat wird eingeladen, auf Stufe Verordnung festzuhalten, was unter neuen medizinischen Tatsachen oder einer Veränderung des Gesundheitszustands für eine Neubeurteilung zu verstehen ist.
Der Bundesrat lehnt die Empfehlung 7 der GPK-N ab. Bei den UC handelt es sich entsprechend der geltenden Verordnung (VMBM) um medizinische, aus Ärztinnen und Ärzten bestehende Fachkommissionen. Diese können zwangsläufig nur neue medizinische Tatsachen oder Veränderungen eines Gesundheitszustandes bewerten, welche einer Veränderung der Bewertung der Kriterien der Nosologia Militaris entsprechen. Andernfalls ergibt sich konsequenterweise keine Veränderung der Diensttauglichkeit. Die Nosologia Militaris konkretisiert, was unter neuen medizinischen Tatsachen oder einer Veränderung des Gesundheitszustands für eine Neubeurteilung zu verstehen ist. Eine weitere Definition ist daher nicht erforderlich; siehe auch Stellungnahme zur Empfehlung 1.
² SR 101
³ SR 510.10
⁴ SR 512.21
⁵ SR 511.12
⁶ Eine Ko-Morbidität ist ein weiteres, diagnostisch abgrenzbares Krankheitsbild oder Syndrom, das zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegt.
⁷ SR 128
Bundesrecht
Militärdienst mit Einschränkungen. Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 27. Juni 2025. Stellungnahme des Bundesrates
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